Und dann schenkt mir der König
ein Zeichen, wie nicht viele sind.
Es kommt von fern, es kommt ganz wenig,
doch spürbar geht ein leiser Wind ...
(Ein Zeichen, Arne Baier)
Es gibt nur eine halbwegs plausible Erklärung.
„Ihr seid ein Zeitreisender, Euer königliche Gnaden."
In mir macht sich ein klein wenig Erleichterung breit, weil ich erstens endlich die richtige Anrede hervorgekramt und zweitens eine wahrscheinliche Deutung der Vorgänge vorliegen habe.
„Ihr beliebt zu scherzen, Madame."
„Nichts läge mir ferner, glaubt mir."
Ich kann endlich auch lächeln, eine Gefühlsregung, die mir seit meinem unsanften Aufstehen wegen des Eindringlings noch nicht gelang.
Er bemerkt es und geht sogar darauf ein.
„Ein Lächeln steht Euch gut zu Gesicht und ich bin froh, dass Euer Gemüt aufgeheitert ist."
„Ich auch. Dennoch, bitte, wappnet Euch, denn ich sage Euch nun, dass Ihr ins Jahr 2015 katapultiert wurdet."
Der kleine schmächtige Mann vor mir wird blass, sofern dies bei seiner ohnehin schon sehr kreidigen Gesichtsfarbe überhaupt noch möglich ist und seine stahl-blauen Augen blicken verzweifelt zu Boden.
Seine Antwort ist nur ein Flüstern: „Das kann nicht sein. Fünfhundertdreißig Jahre nach vorn? Bei allen Heiligen im Himmel! Und..." er ist nun so weiß wie eine frisch gekalkte Wand, „wie komme ich wieder zurück?"
„Ihr seid gut im Rechnen. Ja, fünfhundertdreißig Jahre in die Zukunft. Und das Zurückkommen könnte uns vor ein paar Probleme stellen. Darüber werden wir viel nachdenken müssen", und etwas verwundert setze ich hinzu „wobei ich es schon merkwürdig finde, dass Ihr frühmorgens gegen sechs Uhr Geschmeide Eurer Mutter aus unterirdischen Gewölben holen geht."
„Das ist einfach zu erklären: ich konnte nicht besonders gut schlafen - Ihr solltet wissen, dass ich schlecht schlafe seitdem Gott der Allmächtige meinen Sohn und meine Frau binnen Jahresfrist zu sich gerufen hat - und da fiel mir der Wunsch meiner Mutter, geäußert einen Abend zuvor, wieder ein. Also richtete ich mich her und wollte ihr den Gefallen tun. Sie hätte sich darüber gefreut, den Schmuck beim Aufstehen zu sehen."
„Das kann ich mir vorstellen", murmele ich trocken.
Zu dem anderen, seinem erwähnten schweren Verlust, kann ich nichts sagen, weil es mich sprachlos macht. Vielleicht sollte ich seine Geschichte mal rasch in der Encyclopaedia Britannica nachschlagen, besser noch googeln, um für solche Fälle besser gewappnet zu sein. Die Basics weiß man ja, geboren, gekrönt, gestorben... oh Schreck - gestorben? Fünfhundertdreißig Jahre zurück? Mai 1485? Nein, nein! Die Erkenntnis lässt mich erschauern: der Mann vor mir hat nur noch drei Monate zu leben! Mein Hirnzellen rattern wie verrückt... nein, alles noch einmal von vorn. Er hätte noch drei Monate zu leben, wenn er in seiner Zeit geblieben wäre. So aber... ja, was denn? Habe ich es nun etwa in der Hand, den Lauf der Geschichte zu ändern? Das wäre ja vollkommen absurd, vollkommen aberwitzig, vollkommen... surreal.
Der in die Zukunft gefallene König scheint zu merken, dass etwas mit mir nicht stimmt und fragt höflich nach: „Fühlt Ihr Euch nicht wohl? Ist Euch vielleicht der Tee nicht recht bekommen? Dann hätte ich ihn auch nicht trinken sollen, doch mir schmeckt er, was mich selbst ziemlich erstaunt."
Ich weiß nur, dass ich ihn vom Bücherregal fernhalten muss. Sollte er nämlich auf die glorreiche Idee kommen, sich selbst nachzuschlagen, kann er sich jetzt und hier auch gleich den Schuss geben. In mir arbeitet es noch immer fieberhaft, denn ich kann mir einfach nicht ausmalen, wie die Dinge sich entwickeln werden, ob und wann eine Möglichkeit besteht, ihn in seine Zeit zurückzubringen, ob er hierbleiben muss und somit alles, was in den Geschichtsbüchern steht auf den Kopf gestellt wird. Ach, noch etwas fällt mir siedend heiß ein: was wird aus England, aus seinem Reich im Jahr 1485, wenn dort plötzlich König Richard spurlos verschwunden ist? Wie geht es seiner Mutter damit? Seinen Vertrauten? Je tiefer ich gedanklich in die Materie eintauche, desto mehr Fragen wirft sie auf.
Ich schaue ihn an und meine mit leicht zitternder Stimme: „Es... es müssen Euch doch schon Leute vermissen und nach Euch suchen. Sie werden erstaunt sein, Euch nicht finden zu können."
Sein Kopf ruckt sofort herum in meine Richtung.
„Ich habe darüber noch nicht viel nachgedacht, weil meine Gedanken die ganze Zeit über in höllischem Aufruhr sind, doch nun, da Ihr es sagt... ja, sicherlich. Madame. Ihr seid hier zu Hause und lebt in diesem Zeitalter, nicht ich. Also wird es hauptsächlich an Euch sein, einen Weg für meine Rückkehr zu finden. Ich... ich kann England im Augenblick für kaum mehr als ein Stündchen unregiert lassen. Es herrschen unsichere Zeiten... Ihr versteht... in der Zeit, aus der ich komme. Mir wäre daher an einer baldigen Rückkehr sehr gelegen."
Scherzkeks! Wie soll ich das denn hinkriegen? Hokuspokus-Fidibus, dreimal schwarzer Kater und König Richard findet sich in einem dunklen Kellergang in seines Mutters Burg wieder? Schön wär's!
Rat- und mutlos stelle ich die leere Teetasse ab. Mir ist jeglicher Appetit vergangen, Flüssigkeitszufuhr eingeschlossen. Als ich die Zuckerdose wegstelle, fällt mein Blick auf ein ganz bestimmtes Küchenutensil und der mir eigene Humor drängt sich kurzfristig an die Oberfläche. Ich greife es und wirbele damit zu meinem hohen Besucher herum.
„Bitte, ich brate Euch eins mit dem Nudelholz über und gut! Das dürfte Euch dann wieder dorthin bringen, wo Ihr hergekommen seid. Wollen wir?"
Ich hole aus, meine es nicht einmal bierernst, will einen Scherz damit machen, doch zu meiner Überraschung pariert er meinen Ansatz zum Schlag blitzschnell mit seinem Schwert. Donnerwetter, ist der aber reaktionsschnell!
„Haltet ein, Madame, wir wollen nichts übereilen. Und das nenne ich übrigens ein Teigholz, was aber sind Nudel?"
„Nudeln", verbessere ich, „Pasta... etwas zum Essen aus... aus einem einfachen Teig bereitet."
Er lächelt breiter als jemals zuvor, was ihn irgendwie liebenswert, ja, nahezu attraktiv macht, und erwidert schlicht: „Teigholz also, wie ich sagte."
Während ich die Frühstückssachen wegräume und dabei angestrengt nachdenke, gibt mein zertrümmertes Mobiltelefon ein paar ächzende Geräusche von sich und - da der Vibrationsalarm anscheinend noch funktioniert - tänzelt dabei unruhig auf der Arbeitsfläche hin und her.
Mein Besucher schreit und duckt sich unter den Esstresen, schützend die Hände über seinem Kopf haltend.
„Was ist das nun wieder für eine Teufelei, Mylady Clayden?"
„Das... das ist ein Telef... ein Apparat, um Nachrichten zu übermitteln. Es ist nun aber kaputt und stellt so oder so keinerlei Gefahr dar. Ihr müsst Euch an derlei Dinge gewöhnen, da Ihr Euch in der Zukunft befindet."
Er sieht mich zweifelnd an und gibt halb patzig, halb unsicher zur Antwort: „Ich möchte wieder zurück in meine Zeit. Ich habe vor nur wenigen Dingen Angst, ich bin ein erfahrener Soldat, habe erfolgreich Schlachten geschlagen und Feldzüge befehligt. Aber das hier befremdet mich nicht nur, nein, es verängstigt mich sehr."
„Vermutlich. Noch etwas: ich bin schlicht und einfach Kendra."
„Euer Vater ist kein Lord? Ein Pair? Oder wenigstens ein Baron?"
„Nein, er war Mr. Clayden und fertig."
„Oh. Also dann... Kendra."
„Besser. Darf ich im Gegenzug Richard sagen oder wäre das entgegen jedes Protokolls?"