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Author's Chapter Notes:

 

Wir erfahren wieder ein ganz klein wenig mehr über den ungewöhnlichen Gast, weitere Puzzleteile vervollständigen langsam das Bild.










 

Wo zwischen Schlaf und Wachen Träume wohnen,
erzählt dir deine Seele schön Geschichten
und wartet auf mit einem Farbenspiel
in Bildern kraft- und eindrucksvoller Dichte.

Da will die Welt so wirklich dir erscheinen.
Was lange schon vergangen, ist dir nah'
und windet sich empor wie Grün' aus Steinen;
was du verdrängt, verborgen, siehst du klar.

Und kannst es nun erfühlend auch erschauen,
wenn dich kein Alp bedrängt mit arger List.
Doch noch im Traume sagt dir ein Vertrauen,
dass du in Gottes Hand geborgen bist.

Mehr als ein Ritual, das obsolet,
ist doch seit Kindertagen dein Gebet.

(Im Traum, Ingrid Herta Drewing)

Seine Stimme, wenn auch gedämpft durch Türen und Wände, schreckt mich aus meinen Gedanken hoch: „Habt Ihr jemanden, der Euch beim Ankleiden zur Hand geht? Euer Heim scheint mir - wie erwähnt - sehr klein, um viel Dienerschaft beherbergen zu können."

Ich habe einen Geistesblitz, komme mit Elan auf die Füße und reiße meinen Schrank auf. Da... ja, da ist die Kiste mit meinen Mittelalter-Sachen. Immerhin schon im Schrank und nicht mehr irgendwo im Nirgendwo.

Währenddessen rufe ich, langsam und mit absichtlich rollenden Rs, meine Antwort: „Es ist allein zu bewerkstelligen, danke der Nachfrage."

„Madame hören sich sehr viel besser verständlich an als vorhin. Betet Ihr?"

Wie meint er das? Jetzt im Moment? Oder gelegentlich? Oder überhaupt?

Da ich gerade eine grob gewirktes leinenes Unterkleid über meinen Kopf stülpe, fällt meine Antwort etwas genuschelt aus: „Ja... durchaus... manchmal."

„Ihr betet, also seid Ihr keine Hexe. Manchmal... was heißt das? Mehrere Gebete pro Tag, so will ich hoffen?"

„Na... natürlich. Mehrmals am Tag."

Eine Notlüge. Gott wird sie mir sicher verzeihen.

Immerhin hat er es aufgegeben, mich als Hexe zu sehen. Ein Fortschritt, ein Silberstreif am Horizont. Ich zwänge mich nach dem Unterkleid in ein einfaches, aber ordentliches Übergewand, immerhin das Beste, was sich in meiner bescheidenen Sammlung an Gewändern befindet. Dann ziehe ich noch die dazu gehörenden Schuhe an und zerre ein samtenes Schapel aus der Kiste hervor, das ich aber nicht aufsetze, sondern in der Hand behalte. Ich möchte herausfinden, was der merkwürdige Besucher im Schilde führt und ob sein Aufzug und sein Gebaren nur zu einer gut einstudierten  Rolle gehören, ob er authentisch wirkt oder gar - so ungewöhnlich das auch klingen mag - authentisch ist. Ach ja, und falls das ein Traum ist, dann habe ich schon lange nicht mehr einen so realistischen, wenngleich verrückten Traum gehabt!

Ich öffne die Tür und pralle unmittelbar auf den Fremden, den ich noch in der Küche wähnte, der tatsächlich nun aber im Flur vor meinem Schlafzimmer steht.

Er umklammert sofort mein Handgelenk mit hartem, aber erstaunlicherweise kaum schmerzhaftem Griff und ich bemerke, dass er für einen Mann sehr schmale, fast feingliedrige Finger hat. Wenn er damit seinen imposanten Eineinhalb-Händer, also... ähm... das Schwert ist damit natürlich gemeint, Kampf-gerecht führen kann, dann hat er meinen Respekt. Geschickt dirigiert er mich auf eine Armlänge Entfernung von sich und betrachtet mich abschätzend.

„Ein recht einfaches Gewand, Madame, wenngleich sehr viel besser als Euer Aufzug von zuvor. Seid Ihr von so niedrigem Stand? Und was soll der Reif in Eurer Hand? Bedeckt Euer Haar mit einem Schleier und setzt den Reif darauf, so Ihr denn ein Eheweib seid. Falls dem so ist, wo ist dann Euer Gemahl?"

Ich gerate ins Stottern: „Ich... ich bin unverheiratet."

„Was die Abwesenheit eines Ehemanns erklärt und Euch von der Notwendigkeit entbindet, das Haar bedeckt zu tragen."

Er lässt mich so abrupt los wie er mich gepackt hatte und fügt hinzu: „Nun, da Ihr annähernd ordentlich gekleidet seid und weniger einer Hexe gleicht, habe ich einige Fragen an Euch."

Annähernd ordentlich. Was zum Henker stimmt an meinem Outfit schon wieder nicht? Zu einfach und bescheiden, hmh? Er kann mir gern ein Kleid aus Brokat und Samt anfertigen lassen, gar kein Problem, das nähme ich jederzeit dankend an. Anscheinend kann man's dem aber auch gar nicht recht machen, diesem seltsam tickenden Ober-Perfektionisten. Und Fragen habe ich auch. Hunderte! Mindestens!

Meine Frage Nummer eins auf dem Weg zurück in die Küche lautet: „Darf es nun eine Tasse Tee sein?"

„Nein, ich traue Euren Kräuterkünsten nicht über den Weg."

So ganz hat er die Sache mit der Hexe noch nicht vergessen. Idiot!

„Bier habe ich keines mehr."

„Euer Haushalt ist wahrlich dürftig ausgestattet, wenn Ihr nur über solch geringen Mengen des bitteren Zeugs, das Ihr Bier nennt, verfügt. Aber ich sehe es Euch angesichts all der Merkwürdigkeiten, die Euch umgeben, fürs Erste nach."

Merkwürdigkeiten, aha. Das finde ich allerdings auch, jedoch alles ihn betreffend. Während ich endlich den Wasserkocher - wohlgemerkt ohne des Besuchers Zwischenruf, juhu! - anschalte, um wenigstens mir einen Tee zu brühen und ich bei eben jener Tätigkeit den verwundert-skeptischen Blick meines Besuchers geflissentlich übersehe, sinkt dieser plötzlich auf meinen Küchenfliesen in die Knie und fängt halblaut an zu beten. Auf Latein!

Doch so recht versunken und absorbiert in sein Gebet scheint er mir nicht zu sein, denn zwischendrin wirft er mir immer wieder vorwurfsvolle Blicke zu, so dass ich, kaum dass ich meinen Tee aufgegossen habe, gar nicht mehr anders kann, als ebenfalls in die Knie zu gehen und den Kopf demütig zu senken. Wenn's denn sein muss und er sich damit besser fühlt - sei's drum. Zu meinem großen Befremden schlägt der Mann... der Ritter... bei seinem abschließenden „Amen" ein Kreuz. Katholik! Etwas steif erhebe ich mich gemeinsam mit dem Fremden und fasse im Geiste zusammen, was ich mir bislang zusammengereimt habe: Ein Mann, nicht einmal übel aussehend, etwa Mitte Dreißig, nobel gekleidet im Stil des Spät-Mittelalters, spricht geschraubtes Mittelenglisch und Latein, ist Katholik, anscheinend einer der ganz frommen Sorte, und... tja, ein wenig weltfremd. Doch zu einer finalen Konklusion komme ich nicht. Ich kann mir auf den Kerl absolut keinen Reim machen, so leid es mir tut.

Ich stelle meinen nunmehr fertigen Tee auf die Essbar und hieve mich in meinem mittelalterlichen Gewand auf einen der beiden Barhocker. Sicher ein Bild für Götter. Es folgt prompt ein Kommentar seinerseits.

„Eine fürchterliche Sitzgelegenheit. Wo sind Eure Stühle, Madame?"

„Sie stehen noch auf einem Stapel in der Garage. Ich wohne erst seit kurzem hier, bin noch nicht fertig eingerichtet."

„Ich verstehe. Auch wenn ich nicht weiß, was Ihr mit ‚Garage‘ meint. Vermutlich eine Kammer, in der Ihr derlei Gegenstände abstellen könnt."

„Ihr sagt es. Darf... darf ich fragen, woher Ihr kommt?"
„Nicht aus Schottland, wie Ihr zuvor gemutmaßt habt."

„Sondern?"

„Ich bitte Euch, drückt Euch etwas deutlicher aus, wenn Ihr mich etwas fragt."

Ich unterdrücke einen Seufzer und bilde, seiner Aufforderung nachkommend, einen vollständigen Satz: „Wenn es nicht Schottland ist, dann ist es welche Gegend, bitte?"

„Ihr seid sehr neugierig und ich bin wahrlich darüber erstaunt. Aber ich sehe auch ein, dass mich nicht jeder Mann, jede Frau und jedes Kind in England kennen kann. Eure Frage ist nicht einfach zu beantworten. Bevor ich mich unversehens in... in dieser äußerst seltsamen Behausung von Euch wiederfand, befand ich mich in Gesellschaft meiner Mutter in Hertfordshire. Doch einen Großteil meines Lebens verbrachte ich in Yorkshire, falls Ihr das meintet."






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