- Schriftgröße +



 

Wohl fühlte sie sich nicht in dem ganzen Gespinst aus Lügen und kleinen Täuschungen. Sie war immer den direkten Weg, den der Gradlinigkeit, oftmals auch den der Konfrontation gegangen. Aber hier hatte sich in etwas hinein verstrickt, was immer komplizierter zu werden schien und aus dem es keine einfache Möglichkeit heraus gab. Sie wollte schon aufspringen, zur Tür hinaus laufen und nach oben zu Justin eilen, wollte ihm einfach in die Arme sinken und alles aufklären, doch sie wagte es nicht. Zu dicht war bereits das Gebilde, das sie zum größten Teil selbst um sich gewoben und damit ihren Gatten ferngehalten hatte. Wenn eine Ehe immer dermaßen schwierig war, nahm es wirklich Wunder, dass überhaupt noch Leute heirateten. Viel wahrscheinlich war es jedoch, dass nur sie nicht fähig war, eine Ehe zu führen. Sollte Justin dahinterkommen, dass sie ihn augenblicklich belog, ja, regelrecht hinterging, wäre eine Scheidung unvermeidlich. Sie würde als geschiedene Frau kaum noch Rechte haben, auch wenn sie ihre Mitgift wieder ausbezahlt bekam. Das Geld würde ihr nicht viel nutzen. Sie konnte von Glück sagen, wenn sie ein nettes Zimmer auf Staverley Court, bei Nicholas und Isabel, bewohnen würde können, und das erkleckliche Sümmchen ihrer vormaligen Mitgift würde sie dann als gefallene Tante vermutlich deren Kindern hinterlassen. Bei diesen trüben Gedanken wurde Serena leicht übel, sie stand langsam auf und legte sich im Gästezimmer, das sie weiterhin bewohnte, mit Magendrücken aufs Bett.

Lord Vulcan nahm sein Bad mit gemischten Gefühlen. Er verstand genug von Weiblichkeit, um zu verstehen, dass sich derzeit jegliche Intimität mit Serena verbot, war aber darüber verbittert, dass dies ausgerechnet dann der Fall sein musste, wenn die eher seltene Gelegenheit dazu bestand, seine Ehe auch von dieser Seite zu wertschätzen. Hätte er geahnt, dass all das nicht Fakt sondern Konstrukt war, hätte er gewiss auf der Stelle den Familienanwalt aufgesucht und die Scheidung eingereicht.

So jedoch versuchte er, übers Baden ein wenig zu entspannen und dem weiteren Verlauf des Abends gelassen entgegen zu  sehen. Nun war ihm auch klar, aus welchem Grund seine Frau es vorzog, ihn nicht aufs Konzert zu begleiten. Völlig verständlich, nach seinem Dafürhalten. Seine Gesichtszüge,  die zwischenzeitlich einen beinahe gelassenen Eindruck gemacht hatten, verfinsterten sich kurz, als ihm eine weitere Tragweite des gegenwärtigen Befindens seiner Frau bewusst wurde: Serena trug kein Kind von ihm! Merde! Womöglich hatte er zu selten mit ihr geschlafen. Dieser offensichtliche Nachteil der bisherigen räumlichen Entfernung zwischen ihm und Serena wurde ihm mit einem Mal klar. Er schloss seufzend die Augen und tauchte resigniert den Kopf unter Wasser.

Als Justin sich für die Abendgesellschaft ankleidete, blickte er plötzlich ruckartig auf. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass Serena dann morgen würde abreisen können. Eine mehrstündige Kutschfahrt war unter diesen Umständen überaus unpassend. Justin legte seine Stirn in Falten. Tja, damit hatte es Serena geschafft, sich ein paar Tage Aufenthalt in London zu erwirken. Wie es der Zufall so wollte. Auf den Gedanken, dass all dies absolut kein Zufall war, kam er natürlich nicht. Es passte ihm nach reiflicher Überlegung sogar recht gut in den Kram, denn sicher hatte seine Frau nichts dagegen, über die absolut notwendige Zeitspanne hinaus wegen ihrer Unpässlichkeit noch ein wenig länger zu bleiben. Somit bekam er die Chance, ein Kind mit ihr zu zeugen ohne den langen, zu dieser Jahreszeit oftmals beschwerlichen Weg nach Mandrake auf sich nehmen zu müssen. Wenn es auch bedeutete, dass er sie mindestens einmal mit in die Oper und zu Almack's nehmen und sie gleichzeitig vor übereifrigen Bewunderern bewahren musste - sei's drum. Er nahm es - wenngleich leicht missbilligend - in Kauf.

Nein, es war keine gute Idee gewesen, nach London zu kommen. Serena lag auf ihrem Bett und wäre nicht der Lärm der Straße, vor allem das Geratter von Fuhrwerken, das Hufgetrappel der Pferde und die Zurufe der Menschen, gedämpft an ihr Ohr gedrungen, hätte sie sich ebenso abgeschieden von der Welt gefühlt wie auf Mandrake. Justin war wie angekündigt ausgegangen, sie hatte sich selbst mit ihrer Lüge ins Abseits manövriert und die Dienerschaft hatte sich zerstreut, war lediglich in kleiner Besetzung rufbereit, falls sie oder später Justin bei seiner Rückkehr etwas brauchen sollten. Nachts waren nur Butler Charles und die Köchin da, die beide eigene Kammern im Haus hatten. Alle anderen Dienstboten kamen ausschließlich fürs Tagwerk her, manche wie eine Wäscherin oder Plätterin auch nur an ein paar Tagen pro Woche.

Serena bedauerte, ihre Zofe Eudora nach der Eheschließung mit Lord Vulcan aus ihren Diensten entlassen zu  haben. Nicht, weil Justin das so verfügt hatte, nein, er hätte Eudora zu jeder Zeit selbstverständlich weiterbeschäftigt, sondern weil es der Wunsch der treuen Eudora gewesen war, zu ihrer jüngeren Schwester zu ziehen und dieser in Haus und Hof, vor allem mit einer ganzen Horde Kinder, zur Hand zu gehen. Serena war es inzwischen gewohnt, dass ein Butler einiges an Zofen-Diensten übernahm, war es auf Mandrake Joseph, so hatte man hier in London eben Charles. Zum Glück verlangte die Mode heutzutage kein aufwändiges Einzwängen und Einschnüren in prunkvolle, mächtig schwere Gewänder mehr, so dass das Zuknöpfen von drei Knöpfen am Rückenausschnitt eines Kleides neuester Machart leicht von einem Mann übernommen werden konnte ohne dass es unschicklich gewesen wäre. Ja, eine weibliche Hilfe war nicht mehr unbedingt vonnöten. Außerdem war vormittags dann sowieso das Hausmädchen da, das Betten machte, in den Schlaf- und Wohnräumen aufräumte und nach Bedarf auch für Zofen-Dienste zur Verfügung stand.

In vielen herrschaftlichen Häusern, selbst bei denen, die finanziell gut gestellt waren, was beileibe nicht bei jedem, der einen Titel trug der Fall war, hatte man das Personal mittlerweile auf das Wesentliche reduziert. Stand ein guter Butler oder eine gute Hauswirtschafterin dem Anwesen vor, war eine Verkleinerung des Dienstboten-Aufgebots durchaus eine machbare Sache. Charles‘ Aufgabengebiet war damit natürlich erweitert worden, er hatte jetzt nicht nur den Dienstboten ihre Aufgaben anzuweisen und das Silber und den Weinkeller zu verwalten, er musste auch einen Türpagen ersetzen, also den Besuchern persönlich die Eingangstür öffnen, sowie den Kammerdiener seiner Lordschaft und - gegebenenfalls und in Personalunion mit dem Hausmädchen - die Zofe ihrer Ladyschaft. Da diese bislang jedoch auf Mandrake geweilt hatte und sich laut seiner Lordschaft nur für ein paar Tage in London aufhielt, stellte dies kein großes Problem dar. Für die groben Arbeiten wie das Ausputzen und Anfeuern der Kamine stand ihm jedoch weiterhin ein Knecht zur Verfügung, der sich aber zusätzlich noch um das Instandhalten der Kutschen und die Versorgung der Pferde zu kümmern hatte. Das ständige Personal wurde vom Kutscher, der Köchin, der Spülmagd und eben dem Hausmädchen, die beide auch zu putzen hatten, vervollständigt. Gelegentlich beschäftigte man eine Wäscherin und eine Plätterin, sowie weitere Küchenhilfen bei größeren Gesellschaften. Justin Lord Vulcan führte sein Stadthaus mit der nötigen Weitsicht, indem er die Ausgaben so gering wie möglich hielt, dennoch aber im Ruf stand, ein tadelloser Gastgeber mit einem angemessen herrschaftlichen Haus zu sein.

Serena schien irgendwann eingeschlafen zu sein, aber sie hörte dann doch, wie die Kutsche vorfuhr und der Heimkehrer, rücksichtsvoll bemüht um gemäßigte Lautstärke, das Haus betrat. Trotzig drehte sie sich zur anderen Seite um und drückte sich ein Kissen auf ihr Ohr, um nichts mehr mitzubekommen. Warum hatte  sie Justin so furchtbar belogen? Was war nur in sie gefahren? Sie hätte ihn begleiten können, sie hätte nun an seinem Arm die Treppe hinaufsteigen können, in sein Schlafzimmer, wo Charles das Feuer im Kamin bestimmt nicht hatte  ausgehen lassen,  so dass es ihnen freundlich und mit einladender Wärme entgegengeschlagen hätte. Sie hätte die Nacht in Justins Umarmung verbringen können, anstatt allein hier zu liegen und sich das Gehirn über ihre eigene Dummheit zu zermartern. Hätte! Würde! Es war eine Illusion! Sie fühlte, wie Tränen sich den Weg aus ihren Augen bahnten. Sie musste sich morgen der Wahrheit stellen und Justin reinen Wein einschenken. Ja, genau das würde sie tun.

Diesen Abend hatte er sich mit Trinken zurückgehalten. Er wollte nicht schon wieder sturzbetrunken aus der Kutsche fallen und weder dem Personal noch Serena  Anlass zu mitleidigen bis spöttischen Blicken geben, die diese unweigerlich auf ihn heften würden. Es war ohnehin auf Dauer nicht gut, dem Alkohol übermäßig zu frönen. Es gab neuerdings sogar Ärzte, die fast gänzlich davon abrieten. Das war sicherlich übertrieben, um nicht zu sagen lächerlich, und wahrscheinlich nur eine überzogene Kampagne, um auf sich aufmerksam zu machen und einen Zulauf an Patienten zu erhalten. Diese neumodischen Methoden der Quacksalber! Er erklomm die Stufen also mit sicherem Tritt und als er oben angekommen war, überlegte er sich, ob er kurz bei Serena hereinschauen sollte, um sich zu vergewissern, dass es ihr gutging. Sogleich verwarf er diese Idee aber, weil er sie nicht stören wollte, vor allem aber, weil er sich selbst den Anblick seiner Gattin im Nachtgewand nicht zumuten wollte. Es hätte ihn nur daran erinnert, dass er sich momentan der Natur zu fügen hatte. Also marschierte Justin mit einem weiteren enttäuschten „Merde" auf den Lippen eilig den Korridor entlang zu seinem Schlafzimmer.

Als Serena am folgenden Morgen das Frühstückszimmer betrat, saß ihr Gatte bereits vor gefülltem Teller am Tisch und las Zeitung.

Sie brachte mit unüblich dünner Stimme ein „Guten Morgen, Justin" hervor.

Er ließ die Zeitung kurz sinken, lächelte sie an, nickte und erwiderte den Gruß.

Serena konnte sein freundliches Lächeln nicht einschätzen. Sie hatte ihn missgelaunt und verstimmt erwartet, doch dass er eher guter Stimmung war, befremdete sie. Allerdings machte dieser Umstand es ihr leichter, sich an ihre Beichte zu wagen. Nachdem sie vom Tee genippt und ein bisschen Brot mit Orangenmarmelade gekaut hatte, holte sie tief Luft und ging die Sache an.

„Ähm, entschuldige bitte, aber ich muss dir etwas Wichtiges mitteilen."

Justin senkte seine Lektüre erneut ab und blickte seine Frau über den Rand der Zeitung und den Tisch hinweg an.

„Das trifft sich gut, weil auch ich einen Entschluss gefasst habe."

Serena blieb das Herz beinahe stehen. Hatte er Verdacht geschöpft? Würde er jetzt auf Scheidung plädieren? Sie gleich aus dem Haus jagen? War sein Lächeln vielleicht nur eine hintergründig-verschlagene Grimasse gewesen? Serena schickte ein Stoßgebet zum Himmel. Wenn es den allmächtigen Vater, Jesus Christus und den Heiligen Geist gab, dann war deren Hilfe wohl nun vonnöten! 

 






Bitte gib den unten angezeigten Sicherheitscode ein: