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Author's Chapter Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Clifford Baxter – Näheres unter Kapitel vierzig

Weiterhin Yí-Yuè und Tián-Lù

Erwähnung finden Mrs. Clennam, König Georg IV. von England, König William IV. von England, Lord Peel, Lord Melbourne, der Herzog von Wellington, Königin Victoria von England und Méi-Hua

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: ./.










 

„Arthur? Deine Mutter hat einen ihrer spärlichen Briefe geschrieben. Möchtest du ihn lesen?“

„Gerne, aber sei nicht so streng mit ihr, Vater, vielleicht sind einige ihrer Briefe ja einfach nur nicht bis hierher gekommen. Was schreibt sie so?“

„Du hast wirklich für alles eine Entschuldigung parat, du bist zu gut für diese Welt. Komm her, dann gebe ich dir den Brief.“

Arthur ließ sich das Schriftstück von seinem Vater aushändigen und vertiefte sich ins Lesen. Es kamen nie Fragen oder Berichte über private Angelegenheiten. Mrs. Clennam schrieb nur über geschäftliche Dinge, über andere Leute oder über das, was allgemein in der Heimat vor sich ging. Sie fragte nicht einmal, wie es ihrem Gatten und ihrem Sohn ging. Arthur fand, dass es auch Blödsinn war, bis man den Brief erhalten hatte und die Antwort bei ihr war, würden mindestens eineinhalb Jahre, vermutlich mehr, vergehen. Und dann war das alles ja total hinfällig.

Alles, was Arthur also zu lesen bekam, waren einige Zahlen aus den Büchern der Tuchwarenhandlung, ein Metier, das Arthur eigentlich sehr schätzte, aber es las sich in einem Brief seiner Mutter doch sehr spröde und unpersönlich, und letztlich noch ihr Lamento über den in ihren Augen völlig unfähigen König William IV., der Bruder des vor sechs Jahren verstorbenen König George IV.: Er sei vulgär und hätte auch als König seine derben Seemanns-Manieren nicht abgelegt, was ihm den Beinamen Sailor King einbrachte. Sein neuester, völlig misslungener Coup war - laut Arthurs Mutter - der Versuch gewesen, Ende 1834 eine Regierung mit Lord Peel und dem Herzog von Wellington gegen die Mehrheit des Unterhauses durchzusetzen, was darin resultierte, dass er Anfang 1835 sich dem Unterhaus beugen und einer Regierung unter Lord Melbourne, bis dahin Innenminister, als Premierminister zustimmen musste.

Dazu kam, dass König George IV. mit seiner Prunk- und Verschwendungssucht im einen Extrem gelegen hatte, sein Nachfolger William nun genau zum anderen Extrem tendierte, er würde wohl liebend gerne das Prunkbett seines verstorbenen königlichen Bruders auf Schloss Windsor durch eine einfache Hängematte ersetzen. Das konnte doch alles letztendlich nicht gut für England sein, diese Instabilität, Inkonsequenz und das Fallen von einem Extrem in das nächste. 

Seufzend legte Arthur den Brief zur Seite. Was sollte man dazu sagen? Wahrscheinlich würde William IV. aber kurzen Prozess mit den Chinesen machen, er war ein erfahrener Seemann, schon in jungen Jahren zum Konteradmiral ernannt - bereits lange vor Arthurs Geburt! - und dann unter der Regentschaft seines Bruders zum Großadmiral des Britischen Empires. Vermutlich würde er schon bald einen Flottenverband der Kriegsmarine in das Südchinesische Meer beordern und dann dort gehörig aufräumen.

Und Krieg zwischen England und China war eigentlich das, was Arthur und die Clennams allgemein gar nicht gebrauchen konnten.

„Vater, was machen wir hier, wenn England China den Krieg erklärt?“

„Arthur, ich weiß es nicht. Ich hoffe noch immer, dass es dazu nicht kommen wird.

„König William ist ein fanatischer Seemann. Er wird sich begierig darauf stürzen, es den Chinesen mit Hilfe einer Flotte von Kriegsschiffen zu zeigen. Ich habe wirklich große Sorge, dass man es zu einem Krieg wird kommen lassen.“

„Die Sorge ist nicht ganz unberechtigt, wir müssen eben beten, dass die Dinge nicht eskalieren.“

„Ja. Hoffentlich ist Gott auf diesem Ohr nicht taub. Wäre es nicht besser, wir würden nach England zurückkehren?“

„Erst, wenn es ganz schlimm kommt, Arthur. Noch ist es in Shanghai halbwegs erträglich, wenn auch das Leben nicht mehr ganz so bequem und unbeschwert ist wie noch bei deiner Ankunft vor zehn Jahren.“

Arthur strich sich die Haare aus der Stirn: „Wie die Zeit vergeht. Zehn Jahre bin ich nun schon hier, es ist unglaublich.“

„Ja, mir ist auch, als wäre es erst gestern gewesen, dass du hier in der Halle standest und ich zuerst gedacht hatte, es wäre ein Fremder.“

„So vieles hat sich aber in dieser Zeit ereignet. Es muss also tatsächlich schon diese beträchtliche Zeitspanne dazwischen liegen.“

„Das fürchte ich auch. Die Zahlen aus dem Geschäft zu Hause sehen auch nicht mehr so gut aus wie früher. Ich kann mir nicht so recht erklären, an was das liegt. Die Wirtschaftslage in England ist ja nicht unbedingt schlecht zu nennen. Und Stoffe, aus denen Kleider gemacht werden, braucht man immer. Wenn natürlich William IV. weiter seinen Kurs der Schlichtheit und des Verzichts fährt, dann zieht der Hof unweigerlich mit und wir werden das zu spüren bekommen.“

„Du meinst wirklich, das würde sich derartig auswirken?“

Mr. Clennam machte ein abwehrende Geste: „Hoffentlich nicht.“

Arthur lächelte trotz der nicht ganz so ermutigenden Aussichten und ergänzte noch: „Oder wir sollten tatsächlich auf Wagenbau umsatteln?“

„So weit käme es noch! Wie viel Seide ist eigentlich zum Transport fertig?“

„Es wären 200 Ballen Bourette-, 300 Ballen Schappe-, und ebenso viel Maulbeerseide. Fragt sich nur, ob sich ein Schiff findet, das dies alles mitnehmen kann.“

„Wir müssen uns erkundigen. Ich war sehr froh, dass wir uns das letzte Mal bei unseren Freunden aus Portugal draufhängen konnten und deren Karavelle Desafinado mitnutzen durften. Alles ist so furchtbar kompliziert geworden und ich muss sagen, ohne dich an meiner Seite hätte ich das nicht hinbekommen und wahrscheinlich schon längst aufgegeben.“

„Nein Vater, so darfst du nicht denken. Du hättest auch ohne mein Zutun eine Lösung gefunden, dessen bin ich mir sicher.“

„Ja, typisch Arthur: Immer positiv denken, auch wenn’s schwer fällt. Bewundernswert. Gut, sehen wir zu, dass wir die Seide aus diesem gottverdammten Land hier heraus bringen. Fährst du zu den Handelskompanien und klärst das?“

„Selbstverständlich. Ich bin sehr zuversichtlich, dass ich mit guten Nachrichten zurückkehren werde.“

Arthur traute seinen Ohren nicht, als Clifford Baxter ihm in einem langen, vertraulichen Gespräch einige unglaubliche Neuigkeiten mitteilte: „Was? Bist du des Wahnsinns? Das glaube ich nicht! Cliff, du weißt nicht, was du da sagst, du weißt nicht, was auf euch zukommt! Du bist verrückt, ganz ehrlich.“

„Nun, ich bin lieber verrückt, als weiter hier vor mich hin zu vegetieren, ohne klares Ziel, ohne Aufgabe, mit immer geringer werdenden Mitteln, auf Kosten anderer teilweise schon lebend.“

Arthur versuchte, Clifford von seinem Vorhaben abzubringen: „Die Reise zurück nach England ist lebensgefährlich, schon für einen gestandenen Mann! Und du willst ein solches ungewisses Abenteuer der armen Tián zumuten?“

„Alles ist besser, als hier zu bleiben. Arthur, ich verstehe nicht, wie dein Vater und du nur so eisern daran festhalten könnt. Wir haben es uns wirklich sehr gut überlegt und ich werde von diesem Plan nicht mehr abrücken. Ich kehre zurück nach England und nehme Tián mit! Dort werde ich sie heiraten und eine Familie gründen. Es wird Zeit für mich, ich bin – wie du weißt – ja sogar ein Jahr älter als du.“

„Ihr seid beide völlig übergeschnappt! Kein Mensch wird euch in England unterstützen, ich bin zwar sicher, dass du eine Stelle bekommen wirst, aber deine chinesische Frau wird einsam und alleine im Haus sitzen und die Kinder hüten, ohne Anteil am gesellschaftlichen Leben zu haben. Und dir wird es in deiner Freizeit genauso gehen.“

„Arthur, sie kann mit ihren kaputten Füßen ohnehin keinen Ball und keine Gesellschaft besuchen. Wir sind zufrieden mit dem, was wir haben. Für uns ist nämlich die Hauptsache, dass wir einander haben und wir offiziell sogar ein Ehepaar sein werden. Das ist, was mir wichtig ist.“

Arthur schüttelte noch immer ungläubig den Kopf: „Das Erste, was mir im Zusammenhang mit dem Wort ‚Konkubine’ eingetrichtert worden ist, war die Regel, dass man diese Frauen unter gar keinen Umständen heiraten sollte. Alles ist möglich, nur keine Heirat.“

„Ja, hier in China mag das so sein. Aber in England gelten andere Regeln und ich werde Tián dort zu meiner Frau machen, so viel ist sicher.“

„Ja, wenn ihr überhaupt lebend dort ankommt.“

„Arthur, wo bleibt dein unerschütterlicher Optimismus?“

„Der ist vor fast dreizehn Jahren zwischen Casablanca und Batavia auf der Strecke geblieben, zumindest hinsichtlich abenteuerlicher Seefahrten.“

„Es wird gut gehen, ich weiß es.“

„Ich merke, dass ich euch nicht davon abbringen kann. Alles, was mir noch bleibt, ist euch in meine Gebete einzuschließen.“

„Danke. Es tut mir sehr leid, dass ich dich und deinen lieben Dad hier im Stich lasse. Aber ich denke, es ist besser jetzt zu reagieren, bevor es vollkommen zu spät ist.“

Arthur Clennam war sichtlich erschüttert von dem ihm Offenbarten und wagte einen letzten Versuch: „Cliff, vielleicht lohnt es sich doch zu warten. Wir haben eine neue Königin, ich weiß, sie ist noch sehr jung, während einige sich über sie lustig machen und ihr nichts zutrauen, sie als eine von den Lords geführte Marionette einschätzen, so sehen aber einige andere sie als Hoffnungsträgerin für England. Wenn der alte, rumpelige William IV. es nicht zustande gebracht hat, China den Krieg zu erklären, wie käme dann eine erst achtzehnjährige Königin darauf?“

„Egal, wir fahren!“

„Dein letztes Wort?“

„Ja, mein allerletztes Wort.“

An einem der ersten wärmeren Tage im Frühjahr des Jahres 1838 nahm man Abschied von Clifford Baxter und Tián-Lù in Shanghai. Während Yí sich tapfer hielt und ihre Emotionen recht gut zu verbergen wusste, war Tián in Tränen aufgelöst und nur schwer zu beruhigen, vor allem, da sie ja im Gegensatz zu Yí, einer ungewissen Zukunft entgegensegelte.

Arthur betete inständig, dass die beiden heil in England ankommen würden. Mr. Baxter stammte auch nicht aus London, sondern ursprünglich aus dem Norden Englands, wohin er nun fürs Erste hin zurückkehren wollte.

Es war nach der Abreise des Paares sehr ruhig im Haus geworden. Arthurs Vater saß manchmal stundenlang in seinem Arbeitszimmer ohne sich zu regen. Arthur begann, sich Sorgen um ihn zu machen, er ging stramm auf die Siebzig zu, und ihn plagten immer mehr größere und kleinere Wehwehchen. Einiges konnte durch die Gabe chinesischer Arzneien gemildert werden, einige Gebrechen waren in der Tat auf das Alter zurückzuführen und würden nicht heilbar sein.

Es wurde Arthur plötzlich klar, dass sein Vater England nie mehr wieder sehen würde. Und Arthur wusste auch, dass er über kurz oder lang sich dann von Yí würde trennen müssen. Sechs Jahre lang hatte er mit Méi-Hua zusammengelebt, dann war er zweieinhalb Jahre lang alleine gewesen und nun war Yí schon mehr als vier Jahre bei ihm.

Arthur war depressiv, etwas, unter dem er nur selten zu leiden hatte, aber diese Gedanken machten ihn nun mal schwermütig und traurig. Sein Aufenthalt hier, sein Leben in China ging auf die Zielgerade, er spürte es deutlich.

 






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