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Author's Chapter Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Clifford Baxter – Näheres unter Kapitel vierzig

Erwähnung finden Cha-Dong, Cha-Li, Méi-Hua, Martin Brown, Sanfte Jade und Yí-Yuè

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: ./.
 










 

Ein Haus trauerte in China ganze siebenundzwanzig Monate um einen Verstorbenen.

Als Méi von Xujiahu Qu nach Chuansha überführt wurde, war Arthur nicht im Haus zugegen. Er war dazu nicht fähig gewesen und hatte einen Spaziergang unternommen. Das letzte, was er gemacht hatte, bevor er zu dem Gang nach draußen aufgebrochen war, war die Platte, die ihm der Steinmetz kurz zuvor gebracht hatte, am Altar niederzulegen. Sie würde mit dem Sarg nach Chuansha gehen und ihre Grabstätte zieren.

Darauf waren die chinesischen Schriftzeichen für Schlange und Hahn zu sehen und darunter stand in Englisch: Ich denke an dich.

Er hatte sich trotzdem so weit wie möglich in Weiß gekleidet, auch wenn er der Beisetzung nicht persönlich beiwohnte. Aus dem Haus Clennam begleitete nur Cha-Dong die Tote auf ihrem letzten Weg. Alles andere wäre völlig unpassend gewesen.

Arthur ging am Fluss entlang, an eben diesem Gewässer, das ihm Méi genommen hatte. Er war sich absolut unschlüssig über seine Gefühle. Sollte er dem Fluss verzeihen oder ihn verfluchen? Sollte er sich in das Unabänderliche fügen oder in tiefsten Depressionen versinken? Sechseinhalb Jahre zuvor hatte er seinen Freund Martin Brown ebenfalls durch einen gewaltsamen Tod verloren, ebenso hatte dies mit Wasser, mit viel Wasser, zu tun gehabt.

War das Wasser sein Schicksal? Deswegen auch das große Pech mit seiner langen Überfahrt damals von England nach China?

Er traute dem nassen Element nicht mehr über den Weg und das traf ihn sehr, da er doch so gerne darin schwamm und sich darin erfrischte.

Und ob man nächsten Winter nach Kanton würde fahren können, war bei der politischen Lage mehr als ungewiss. Überdies – was sollte er auch dort, nun, wo Méi nicht mehr war.

Zurück im Haus, das nun keine Spur mehr von der Tragödie aufwies, nur der Hausaltar blieb noch für längere Zeit erhalten, setzte er sich an den Schreibtisch und verfasste einen Brief an Clifford Baxter in Heung Gong Tsai. Arthur schrieb sich alles, wirklich alles von der Seele, auch wenn es teilweise wirr klang, es war ihm egal, denn als er das Schreiben zuklappte und versiegelte, fühlte er sich zum ersten Mal seit etlichen Tagen etwas leichter.

Zwei Monate später traf Clifford Baxter mit all seinem Hab und Gut in Shanghai ein. Er befand sich in keinem guten Zustand und war heilfroh, dass er aus Kanton herausgekommen war, bevor man die Repressalien auf die Engländer noch weiter verschärfte. 

Aufatmend ließ er sich bei Arthur im Haus auf ein Sofa fallen und seufzte: „Ich sage dir, Arthur, es ist der blanke Horror. Ich bin so froh, dass ich meine nackte Existenz gerettet habe. Sie haben alle Engländer in eine Art Ghetto gezwungen, schrecklich. Man darf sich nicht mehr frei bewegen und vorerst musste die BOK das Büro dort schließen. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, dass dies auch in Shanghai passieren wird.“

„Wie bist du hierher gekommen? Sie kontrollieren dort doch auch die Häfen, oder?“

„Besser, du weißt es nicht. Ein paar wohlmeinende Fischer haben mich als Chinesen verkleidet und nach Macao rausgeschmuggelt. Ich kam an Bord einer portugiesischen Brigg unter, die zwischen Macao und Nagasaki in Japan verkehrt und zum Glück in Shanghai einen Zwischenstopp einlegte.“

Arthur lächelte eines der wenigen schmalen Lächeln, die er seit dem Tode Méis gelächelt hatte: „Du bist ja ein ganz gerissener Kerl, Cliff. Gut gemacht.“

„Danke. Doch nun zu dir. Du kannst von Glück sagen, dass mich dein Brief noch erreicht hat, es war unglaublich knapp. Wie geht es dir, mein Freund?“

Arthur schüttelte leicht den Kopf: „Wie soll es schon gehen. Ich lebe. Ich stehe jeden Morgen auf, gehe zur Arbeit, atme ein und aus, unzählige Male am Tag, gehe wieder nach Hause, esse, trinke, schlafe – und das nicht immer gut. Das ist alles.“

„Das hört sich ein wenig besorgniserregend in meinen Ohren an.“

„Muss es nicht. Es geht schon. Es ist schön, dass du da bist, wirklich.“

„Ich fürchte, ich werde dir hier nun fürchterlich auf den Pelz rücken. Ich habe weder eine Arbeit noch ein großes Vermögen. Ein bisschen was habe ich mitnehmen können, ich weiß aber nicht, für wie lange es reichen wird.“

„Wir bekommen das schon geregelt. Ich weiß zwar nicht, wie lange wir hier von der Krise noch verschont bleiben, aber im Haus ist Platz und wir können ja mal sehen, wie du dich beim Seidekochen so machst.“

„Das hört sich genau nach dem an, was ich schon immer machen wollte“

Und über diese Antwort von Clifford Baxter musste Arthur sogar fast ein wenig lachen.

„Falls ich dir nun zu nahe treten sollte mit meiner Fragerei, sag es einfach, aber – wäre es für dich nicht auch langsam Zeit, dich nach einer Ehefrau umzusehen? Du hast die Dreißig überschritten und bist kein junger Hüpfer mehr.“

„Lieber Cliff, wo bitte sollte ich hier eine Ehefrau her bekommen? Ein Ding der Unmöglichkeit. Dafür müsste ich zurück nach England, und das kann und will ich in diesen ungewissen Zeiten meinem Vater nicht zumuten. Ich kann ihn hier nicht allein lassen. Nein, vorerst kann ich hier nicht weg. Und Chinesinnen heiratet man nicht – du kennst die Regel.“

„Natürlich. Daran hatte ich nun gar nicht gedacht. Wirst du nicht einsam sein, so ganz ohne Gefährtin?“

„Für mich kommt vorerst keine Bindung mehr in Frage. Ich… ich fühle mich nicht danach. Und vor allem werde ich mich mit aller Konsequenz an die Einhaltung der siebenundzwanzig Monate Trauerzeit halten. Auch wenn das nun eine chinesische Sitte ist, ich habe sie mir selbst auferlegt.“

„Ich bewundere dich für deine Haltung. Aber es sind ja nur noch gut zwei Jahre, denn fast drei Monate dieser Zeit sind ja bereits um.“

„Ja, das ist richtig. Und lass uns hoffen, dass der Winter hier oben nicht allzu streng wird, da wir die milden Wintermonate in Kanton gewohnt sind.“

„Dann fang’ doch bitte schon mal an Fürbitten zu halten, Arthur!“

Arthur Clennam war deutlich von dem Verlust gezeichnet. Fast seine ganze Unbeschwertheit und Leichtigkeit hatte er dadurch eingebüßt. War es nach dem Tod von Martin Brown nur ein kurzer, heftiger Schmerz gewesen, der bald danach verschwunden und verblasst war, so erholte er sich von der Tragödie mit Méi erheblich langsamer und einige seiner früheren Charakterzüge kamen fast gar nicht mehr zum Vorschein.

Sein Hang zu Abenteuern war ein für allemal verschwunden, seine Spontaneität nur noch in Fragmenten vorhanden. Sein Humor war verblieben, aber er war nicht mehr durch jede Kleinigkeit zum Lachen zu bringen und er schenkte sich selbst und anderen nur noch selten ein breites Lächeln.

Seinen himmelblauen Augen – Himmelssterne hatte Méi sie einst genannt – haftete stets etwas Melancholisches an, es war, als würde er durch andere Menschen hindurchsehen, in eine Welt dahinter blicken.

Er war deutlich in sich gekehrter und nicht mehr so mitteilsam wie früher. Aber er verzweifelte nicht an sich und der Welt, trotz des herben Schicksalsschlages. Es gelang ihm auf wundersame Art und Weise, in allem und jedem die guten Dinge zu sehen und zu erkennen, und das war eine Gabe, für die sein Vater Gott auf Knien dankte. Es hätte sich auch ins Gegenteil verkehren können, nämlich dass Arthur sich völlig dem Leben verschloss, nur noch mit sich selbst haderte und nichts Positives mehr sah. Doch dem war zum Glück nicht so.

Einmal pro Jahr besuchte Arthur Méis Grab in Chuansha, stets in Begleitung Cha-Dongs. Während Cha-Dong Opfergaben bereitete, legte Arthur immer Zweige mit Blüten des Pflaumenbaumes auf die von ihm in Auftrag gegebene weiße Grabplatte. Die Schlange und der Hahn… sie waren brutal voneinander getrennt worden.

Im Herbst des Jahres 1834 war die Trauerzeit offiziell vorüber. Eine letzte daoistische Zeremonie wurde abgehalten und dann entfernte man den Hausaltar. Arthur kam die Halle ohne den Schrein plötzlich ganz fremd vor. Er wickelte sich einen ganzen Tag und eine Nacht lang in seinen dunkelblauen Cheongsam, den er im ersten Jahr von Méi erhalten hatte, und vergoss noch einmal viele Tränen.  

Einige Tage später zwinkerte er Clifford Baxter halb verschwörerisch, halb komisch verzweifelt zu und sagte: „Vielleicht probiere ich es noch einmal mit einer Qiè. Ich werde so schnell wohl nicht weg von diesem verflixten Land kommen und es ist besser, als ständig ein kaltes, verwaistes Bett zu haben.“

„Das ist nicht dein Ernst, Arthur! Das hätte ich jetzt nicht erwartet. Alles, nur das nicht!“

„Es hat keine Eile. Ich sage es nur, damit du dich nicht wunderst, sollte es dann tatsächlich mal soweit sein.“

„Ich glaube, aufgrund der gegenwärtigen Eiszeit zwischen China und England wird es nicht mehr so einfach sein wie vor einigen Jahren noch, eine Konkubine zu finden.“

„Ich bin nicht sonderlich anspruchsvoll. Ich erwarte keine zweite Méi. Ich möchte nur einen Menschen neben mir in der Nacht haben, der mir meine kalten Füße und mein kaltes Herz ein klein wenig wärmen kann. Mehr verlange ich nicht“, er hielt inne und lauschte, seufzte, und rief dann laut, „dein Lauschen ist völlig unangebracht wie auch umsonst, Cha-Li, du brauchst Sanfte Jade nicht zu fragen! Ich will sie nicht, basta!“

„Sanfte Jade?“

„Oh, das war damals die zweite Dame, die mir die Cha-Brüder vorgestellt hatten. Aber sie war mir einen Deut zu perfekt. Sie war sehr – künstlich, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ja, ich kann es mir denken. Also gehst du selbst dir eine aussuchen?“

„Wenn das so einfach wäre. Man findet diese Damen ja nicht auf der Straße. Ich fürchte, ich muss zu einer Vermittlung, wie das hier so üblich ist. Ich wünschte, es würde sich anders lösen lassen.“

Am Weihnachtstag des Jahres 1834, zweieinhalb Jahre nach dem Tod von Pflaumenblüte, kam Yí-Yuè in das Haus Clennam.




Chapter End Notes:

 

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