Unbekannt by doris anglophil
Summary:

 

Der Titel "Unbekannt" weist sowohl auf unbekannte Personen als auch - vielleicht - auf unbekannte Welten oder unbekannte Umstände/Situationen hin.


Categories: Sonstige Fanfiction, Novel-length Characters: eigener m/w Charakter
Genres: Generell
Warnings: Charakter-Tod
Challenges: Keine
Series: Keine
Chapters: 13 Completed: Ja Word count: 16392 Read: 41271 Published: 11 Jun 2015 Updated: 22 Aug 2015
Kapitel 10 by doris anglophil
Author's Notes:

 

Es ist soweit, der arme Zeitreisende muss aus dem geschützten Raum von Kendras Haus hinaus in die Öffentlichkeit, in das brodelnde Leben des 21. Jahrhunderts. Schauen wir mal, wie Kendra es handhabt und wie er es verkraftet. 

 

Buchstaben
kratzen über
das Papier.
Gefederten Schrittes
lauschen sie
in die Tiefe
des Tintentons.
Im Schwung
der Vergänglichkeit
graviert sich
ein Stückchen
Ewigkeit

(Schöpfung, Silke Kühn)

Dort verfalle ich in Hektik. Ich suche im Internet nach einem mittelalterlichen Schriftfont, einem, der Richards Handschrift halbwegs nahekommt. Es dauert mir natürlich zu lange... doch da - endlich... gut, gefunden, installiert, nächster Schritt. Ich schreibe eine kurze Nachricht in dieser Schriftart, dann drucke ich selbige aus. Mit unsicherer Hand krakele ich außen auf das mehrfach gefaltete Papier in Buchstaben, die ich mir mühsam abgucke, einen Namen drauf. Puh, hoffentlich klappt das alles. Ich bin sehr unsicher, doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt.

Dann betrachte ich mein Erscheinungsbild im Spiegel und stelle fest, dass ich arg mitgenommen aussehe. Im Bad verpasse ich mir eine kurze Auffrischung und reiße im Vorbeigehen eilig aus der Kiste mit den Weinen eine Flasche Champagner heraus. Außerdem greife ich mir im Vorbeigehen den Blumenstrauß, den ich von einer Freundin zum Einzug bekommen habe und der - wenngleich nicht mehr taufrisch - noch einen halbwegs präsentablen Eindruck macht. Das mehrfach erwähnte Nudelholz rolle ich in ein Küchenhandtuch und binde es mir geschickt um.

Nun ist es an der Zeit, Richard meinen irrwitzigen Plan zu enthüllen - wenigstens den Großteil dessen. Einen Punkt habe ich, den ich ihm nicht preisgeben werde. In alles andere werde ich ihn natürlich einweihen, denn ohne sein Einverständnis und seine Mitarbeit ist der Plan zum Scheitern verurteilt.

Mit einem Schmunzeln stelle ich beim Hinaustreten in den Garten fest, dass sein Blick leicht glasig ist und die Weinflasche - die zweite! - halbleer. Guter Junge!

„Dickon, wir müssen zum Schloss hinüber. Wirklich, so nahe wie möglich dorthin, wo sich dein Gemach befand... befindet. Denkst du, du wirst es finden? Ich sage gleich, dass wir nur Ruinen vorfinden werden."

„Natürlich finde ich mich zurecht."

Ich habe so meine Zweifel, lasse sie mir aber nicht anmerken. Es gilt, wichtigere Dinge zu besprechen.

„Wir gehen gemeinsam. Es ist Samstag und sehr viel los. Wir werden auf Dinge treffen, die dir Schrecken einjagen werden. Jogger, Radfahrer, Autos, Motorräder, und dergleichen. Du musst mir hoch und heilig versprechen, mir absolut zu vertrauen, dir nichts anmerken zu lassen und vor allem, nicht zu  schreien oder sonst wie aufzufallen. Ja?"

Jogger, Radfahrer, Autos, Motorräder... Richard kann gewiss mit keinem dieser Begriffe etwas anfangen. Er lässt sich seine Irritation, die unendlich groß sein muss, kaum anmerken.

„Ich vertraue nur wenigen Leuten in meinem Umfeld, aber gut, Kendra, ich verspreche es. Wenn du mich nur zurückführst, das ist mein größtes Anliegen."

„Hör zu: normalerweise ist niemand im Jahr 2015 so gekleidet, wie wir es sind. Du, weil du ein mittelalterlicher König von England bist und ich, weil... weil ich mich dir angepasst habe und zufällig solche Kleidung im Haus hatte. Aber es ist Samstag, wie ich bereits sagte, und es gibt samstags nicht selten Hochzeiten, denen das Thema ‚Mittelalter‘ zugrunde liegt. Wir geben einfach vor, ein Hochzeitspaar zu sein, das in den Schlossruinen Bilder, Fotografien machen möchte, so fallen wir überhaupt nicht auf. Hast du das verstanden, Dickon?"

„Nein."

Eine grundehrliche Antwort, das muss man ihm lassen. Er ist merklich heillos überfordert. Es ist aber auch schwierig, ihm das alles zu vermitteln, wenn er weder Autos kennt, noch weiß, was ein Fotoapparat ist.

„Also gut, es ist ganz einfach: Wir beide gehen dort nun hin und du wunderst dich bitte, bitte, bitte über gar nichts von alldem, was du auf dem Weg dorthin hörst und siehst. Alles andere überlässt du mir. Oh, eines noch: du musst verliebt in mich sein. Ginge das?"

Richard schaut mich an, als wäre ich die vielköpfige Hydra, doch dann nickt er langsam.

„Ich will alles versuchen, wenn es meiner Rückkehr förderlich ist."

Toll, er tut gerade so, als ob es eine Riesenüberwindung wäre, ein bisschen verliebt mit mir zu tun. Klar, ich bin nun einmal nicht seine angebetete, angeblich wunderschöne Nichte Elizabeth. Doofer Kerl!

„Trink aus, Dickon, dann gehen wir."

„Vorher müsste ich noch einmal..."

„... ins Bad, kein Problem. Du weißt ja nun, wie es geht."

Ungeduldig warte ich - ein zweites Mal an diesem Tag - vor der Badezimmertür, bis er fertig ist. Als die Tür sich langsam öffnet, kommt ein sehr blasser,  sichtlich angetrunkener, aber noch weitgehend stabiler Richard zum Vorschein. Ich werfe ihm einen abschätzenden Blick zu. Gut, abgesehen vom ungewöhnlichen Outfit dieses besonderen Exemplars Mann ist das alles in allem für einen britischen Bräutigam sicherlich der Normalzustand.

„Kannst du meine Hand halten, Dickon?"

„Weswegen sollte ich das tun?"

„Verliebte machen das. Hochzeitspaare sowieso."

„In aller Öffentlichkeit?"

„Oh ja."

„Seltsame Sitten und Gebräuche habt ihr."

Ich drücke ihm die Sektflasche in seine linke Hand und halte den Blumenstrauß in meiner rechten. Dann reiche ich ihm meine linke Hand und er ergreift sie nach kurzem Zögern mit seiner rechten. In einem Beutel befinden sich das kleine Briefchen, ein Fotoapparat und meine Hausschlüssel, das Nudelholz ist im Tuch an meinem Gürtel befestigt. Alles gerichtet. Noch einmal tief durchatmen... ich öffne die Fronttür.

Als das erste Auto vorbeibraust, drücke ich fest Richards Hand, der sich nicht minder fest auf die Lippen beißt.

„Schau nicht hin, schau auf den Boden, oder zu mir, aber sei nicht verkrampft. Ich helfe dir", flüstere ich, als ich seine instinktive Abwehr spüre.

„Höllenmaschinen, Hexenwerk", höre ich ihn murmeln.

„Und lass‘ um Himmels willen weder meine Hand los, noch die Flasche fallen, ja?"

Er nickt stumm.

Wir sind noch keine dreißig Yards gelaufen, da werden wir auch schon von einer Gruppe Passanten von der gegenüberliegenden Straßenseite angesprochen: „Herzlichen Glückwunsch!",  „Wieder hat's einen erwischt, der guckt ja jetzt schon ganz bekümmert" oder auch „Hey, Mittelalter-Hochzeit, cool."

Am Abzweig zur Brownlow Road haben wir's fürs Erste geschafft, wir erreichen die Ausläufer des Parks mit vielen großen Bäumen, die uns nun ein bisschen von der modernen Welt abschirmen. Ich halte an und atme durch.

„Das war sehr gut, Dickon, wirklich."

Seine blauen Augen flackern unruhig hin und her und er macht den Eindruck eines halb zu Tode gehetzten Tieres auf mich.

„Das ist Wahnsinn", würgt er heiser hervor.

Ich lege meinen Blumenstrauß ins Gras und streiche ihm mit beiden Armen beruhigend über die samtenen Ärmel seines edlen Wams‘, wobei ich ihm unglaublich nahe komme. Ich spüre seinen Wein-getränkten Atem.

Einem nicht zu unterdrückenden Impuls folgend sinkt mein Kopf zum kurzen Verweilen an seine Brust, während ich erwidere: „Ich weiß. Wir sind schon weit gekommen. Du schaffst das. Du bist ein großer Krieger, ein tapferer Mann."

„Lieber kämpfe ich in einer Schlacht, als dieser Welt hier hilflos ausgeliefert zu sein."

Ich nicke verstehend, dann löse ich mich ein klein wenig von ihm und frage erwartungsfroh: „Und? Erkennst du schon etwas?"

Richard schüttelt den Kopf. Ich ahnte, dass es so einfach nicht werden würde.

„Wir klettern mal auf den Erdwall, dann vielleicht, ja?"

Reiner Zweckoptimismus meinerseits.

Langsam erklimmen wir die kleine Anhöhe. Von dort oben hat man einen deutlich besseren Überblick, wird aber auch von anderen gut gesehen. Wir bekommen sofort Feedback, denn ein Mitbürger spurtet von der anderen Seite hoch zu uns und bietet sich an, ein paar Fotos von uns zu schießen. Wir müssen das Spielchen fröhlich mitspielen, ob wir wollen oder nicht.

„Ey Mann, du hast ja'n echtes Schwert. Geil! Weißt du was? Damit köpfst du jetzt die Pulle Sekt, das kommt tierisch gut auf den Fotos, ja?"

Richard sieht mich verzweifelt an. Ich empfinde das, was mein Mitmensch und Zeitgenosse aus dem Jahr 2015 von sich gibt, als extrem unpassend, und schäme mich nun dafür, dass ich in der Früh‘ ähnlich gedacht und reagiert hatte.

Weil ich merke, dass Richard kein Wort versteht, flüstere ich ihm deswegen rasch ins Ohr: „Zu schnell gesprochen und Worte, die du nicht kennst, nicht wahr? Er möchte, dass du mit deinem Schwert der Flasche den Hals abschlägst. Mach' es einfach, dann sind wir ihn gleich los."

Er nickt in sein Schicksal ergeben und zieht das Schwert. Die Reaktion des anderen folgt prompt.

„Oho, was'n Teil! Hoffe, du kannst damit umgehen, Alter!"

So ein Vollidiot! Ich halte unwillkürlich die Luft an, doch wenn einer das Schwert hervorragend führen kann, dann ist es wohl Richard, sogar mit einem ordentlichen Schwips. Mit einem gekonnten, zielgerichteten Hieb ploppt der Korken aus der Flasche, nicht einmal das Glas splittert dabei, und die Sektfontäne schießt heraus. Ich bin sichtlich beeindruckt und schmiege mich bewundernd an meinen hehren Ritter... und nie war dieser Spruch wohl mehr wörtlich zu nehmen. Der Fotoapparat klickt und klickt. Dann reicht der Fremde uns den Apparat zurück.

„Seid'n echt cooles Paar. Hammer. Glückwünsche und noch viel Spaß."

Diese Geschichte ist archiviert auf http://rafanfiction.janeites.net/viewstory.php?sid=212