Fern der Heimat - die Abenteuer des jungen Arthur Clennam by doris anglophil
Letzte lesenswerte GeschichteSummary:

 

Wer sich schon gefragt hat, was der schneidige Arthur Clennam alles so erlebt hat, bevor er zur männlichen Hauptfigur bei Charles Dickens "Little Dorrit" geworden ist - hier ist die Antwort!

 

Liebe Leser, die ihr dieses Werk offensichtlich regelrecht "verschlingt": Ihr dürft ruhig mal sagen, weswegen das hier die einzige Story im ganzen Archiv ist, die weit über EINHUNDERTTAUSEND Mal gelesen wurde! Reviews dringend erwünscht! 


Categories: Sonstige Schauspieler, Matthew Macfadyen, Rollenbezogene Geschichten, Novel-length Characters: Amy Dorrit, Arthur Clennam, eigener m/w Charakter
Genres: Drama, Romanze
Warnings: Charakter-Tod
Challenges: Keine
Series: Keine
Chapters: 55 Completed: Ja Word count: 85680 Read: 461857 Published: 22 Feb 2009 Updated: 05 Apr 2010
Story Notes:

 

Thematisch und zeitlich gesehen ist dies eine Prequel zu Charles Dickens "Little Dorrit". Allerdings habe ich es zeitlich nicht in den gleichen Rahmen wie die jüngste Verfilmung gepackt, sondern es - aus diversen Gründen - insgesamt um vierzehn Jahre nach hinten geschoben.D.h. praktisch würde sich die Verfilmung (außer dem Prolog von der Geburt Amy Dorrits im Marshalsea) direkt an die Handlung der Geschichte später anschließen. Blendet einfach die kurzen Zeiteinblendungen aus der Verfilmung aus, die ohnehin kaum jemand sehr nachhaltig wahrgenommen haben dürften.

Mein Dank geht an Becci, die fleißig gegengelesen hat!

Es gibt zu jedem Kapitel meist umfangreiche Randnotizen, oft auch ein Glossar, da teilweise andere Sprachen vorkommen. Ebenso wie Dickens umfangreich war, ist auch diese Story recht dicht und reich an Personen, Orten und Begebenheiten.

 

DISCLAIMER


Alle Charaktere, Handlungen, Schauplätze etc. von „Fern der Heimat...", die auf der Mini-Serie „Little Dorrit" beruhen, sind Eigentum des rechtmäßigen Besitzers BBC UK.

Die von der Autorin selbst erschaffenen Charaktere und die Handlung des Romans „Fern der Heimat...“ sind Eigentum der Autorin.

Die Autorin ist in keiner Weise mit den Besitzern, Erschaffern oder Produzenten irgendeiner Medienkonzession verbunden.
Vorsätzliche Verstöße gegen das Urheberrecht sind nicht beabsichtigt.

© Doris Schneider-Coutandin 2009

 

1. Kapitel eins by doris anglophil

2. Kapitel zwei by doris anglophil

3. Kapitel drei by doris anglophil

4. Kapitel vier by doris anglophil

5. Kapitel fünf by doris anglophil

6. Kapitel sechs by doris anglophil

7. Kapitel sieben by doris anglophil

8. Kapitel acht by doris anglophil

9. Kapitel neun by doris anglophil

10. Kapitel zehn by doris anglophil

11. Kapitel elf by doris anglophil

12. Kapitel zwölf by doris anglophil

13. Kapitel dreizehn by doris anglophil

14. Kapitel vierzehn by doris anglophil

15. Kapitel fünfzehn by doris anglophil

16. Kapitel sechzehn by doris anglophil

17. Kapitel siebzehn by doris anglophil

18. Kapitel achtzehn by doris anglophil

19. Kapitel neunzehn by doris anglophil

20. Kapitel zwanzig by doris anglophil

21. Kapitel einundzwanzig by doris anglophil

22. Kapitel zweiundzwanzig by doris anglophil

23. Kapitel dreiundzwanzig by doris anglophil

24. Kapitel vierundzwanzig by doris anglophil

25. Kapitel fünfundzwanzig by doris anglophil

26. Kapitel sechsundzwanzig by doris anglophil

27. Kapitel siebenundzwanzig by doris anglophil

28. Kapitel achtundzwanzig by doris anglophil

29. Kapitel neunundzwanzig by doris anglophil

30. Kapitel dreißig by doris anglophil

31. Kapitel einunddreißig by doris anglophil

32. Kapitel zweiunddreißig by doris anglophil

33. Kapitel dreiunddreißig by doris anglophil

34. Kapitel vierunddreißig by doris anglophil

35. Kapitel fünfunddreißig by doris anglophil

36. Kapitel sechsunddreißig by doris anglophil

37. Kapitel siebenunddreißig by doris anglophil

38. Kapitel achtunddreißig by doris anglophil

39. Kapitel neununddreißig by doris anglophil

40. Kapitel vierzig by doris anglophil

41. Kapitel einundvierzig by doris anglophil

42. Kapitel zweiundvierzig by doris anglophil

43. Kapitel dreiundvierzig by doris anglophil

44. Kapitel vierundvierzig by doris anglophil

45. Kapitel fünfundvierzig by doris anglophil

46. Kapitel sechsundvierzig by doris anglophil

47. Kapitel siebenundvierzig by doris anglophil

48. Kapitel achtundvierzig by doris anglophil

49. Kapitel neunundvierzig by doris anglophil

50. Kapitel fünfzig by doris anglophil

51. Kapitel einundfünfzig by doris anglophil

52. Kapitel zweiundfünfzig by doris anglophil

53. Kapitel dreiundfünfzig by doris anglophil

54. Kapitel vierundfünfzig by doris anglophil

55. Kapitel fünfundfünfzig by doris anglophil

Kapitel eins by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – einziger Sohn und Erbe des Familienunternehmens Clennam & Sons (in „Little Dorrit“ Clennam & Co., hier zugunsten Arthurs leicht abgeändert)
Mrs. Clennam – Arthurs Mutter und derzeit Matriarchin des Unternehmens, da ihr Gatte im Ausland (China) weilt
Mr. Clennam – Der Inhaber von Clennam & Sons, derzeit in Geschäften in China weilend
Affrey Weston – Magd/Dienstmädchen im Hause Clennam (der Nachname ist erfunden, da bei Dickens nicht erwähnt, bzw. dort später unter anderem Nachnamen aufgeführt)
Jeremiah Flintwinch – Dienstbote/Butler im Hause Clennam, leider von Geburt an leicht missgestaltet
Gilbert Clennam – Großvater väterlicherseits von Arthur
Flora Casby – Arthurs große Liebe, von der er aber durch undurchsichtige Machenschaften seitens seiner Mutter und seitens Mr. Casby vor seiner Abreise nach China getrennt wurde
Mr. Casby – Vater Floras, Eigentümer von verschiedenen Mietobjekten in London

Weiterhin Passagiere, Kapitän und Besatzung der Pride of the Seas

Erwähnung finden Arthurs Lehrer, Marktfrauen und Mädchen in Spanien

Zeit: Ende Juni/Anfang Juli 1825, dann fortlaufend, bzw. nach Angabe

Orte: London Docks, an Bord des Klippers Pride of the Seas auf der Themse und auf hoher See im Atlantik zwischen England und Spanien, in Vigo/Spanien

Glossar: ./.

 

Langsam verschwand London im Morgendunst. Arthur Clennam fröstelte und wandte seinen Blick bedächtig vom Land auf die Schiffsplanken des Klippers Pride of the Seas. Er wusste nicht, ob er froh oder traurig über seine Abreise sein sollte.

Es war sicher eine Mixtur aus beiden Gefühlen. Froh war er, einer freudlosen Kindheit und Jugend, einer Mutter, die kalt wie Eis war, und einem Elternhaus, das kaum etwas anderes als Geschäft, Geschäft und nochmals Geschäft kannte, entkommen zu sein.

Traurig, weil er ahnte, dass er London auf sehr lange Zeit nicht wieder sehen würde und weil man ihn fast gewaltsam von seiner großen Liebe Flora Casby getrennt hatte. Er hatte der gesamten Situation fast ohnmächtig gegenüber gestanden und fassungslos mit angesehen, wie seine Mutter und Mr. Casby einen Keil zwischen Flora und ihn getrieben hatten. Flora war leicht zu beeinflussen gewesen, sie war sehr jung, naiv und unerfahren, und war schnell eingeknickt, wenn auch unter reichlich Tränen, als ihr Vater und Mrs. Clennam auf sie eingeredet hatten.

Er hatte nie genau erfahren, was sie Flora alles für Geschichten aufgetischt hatten, aber er schätzte, dass ein Großteil dessen, was sie ihr erzählt hatten, gewaltig gelogen gewesen sein musste. Sie selbst hatte ihn danach nur noch einmal kurz für fünf Minuten sehen wollen und dabei lediglich weinend auf einem Stuhl gehockt, während er versucht hatte, etwas aus ihr herauszubringen. Ihm war nur klar geworden, dass seine Reise in den fernen Osten eine nicht unerhebliche Rolle dabei gespielt haben musste und Flora nicht mehr bereit war, auf ihn in London zu warten.

Zornig stampfte er mit dem Fuß auf den Schiffsbrettern auf und biss sich verärgert auf die Unterlippe in Gedanken an diese unschönen Vorkommnisse. Verdammt, verdammt! Er hatte sich im Geiste schon mit Flora unterm Weihnachtsbaum verlobt gesehen und nun das! Jetzt war er allein auf der langen Reise nach China, um dort in Shanghai das Familienunternehmen gemeinsam mit seinem Vater zu leiten. Es war viel besser direkt in China zu arbeiten, da man die dortigen Kontakte ständig pflegen musste und auch die Verarbeitung der Stoffe, vor allem die der wertvollen Seide, und deren Verschiffung nach England viel besser überwachen konnte.

Etwa neun Monate Schiffsreise, das war sehr beschwerlich. Auch wenn immer schnellere und leichtere Klipper gebaut wurden, um die gut geschätzten sechzehntausend Seemeilen zwischen England und China zu überwinden, so war man doch weiterhin Wind, Wetter und Naturgewalten ausgesetzt, ganz zu schweigen von sonstigem Unbill wie Krankheiten oder gar Piratenüberfällen.

Der gerade erst dreiundzwanzigjährige Arthur Clennam seufzte schwer, er war auf einem Weg ins Ungewisse. Ob die Reise ein angenehmes Erlebnis, ein schönes Abenteuer, oder ein Horrortrip in die Hölle werden würde, konnte man nun, etwa eine Stunde nach Ablegen von den Docks in London, noch nicht sagen. Die Pride of the Seas steuerte jetzt das offene Meer an und damit begann endgültig Arthurs lange Abwesenheit von der Heimat.

Er würde seiner Mutter beweisen, was in ihm steckte! Er würde sich als würdiger Erbe des Unternehmens Clennam & Sons erweisen, das hatte er sich geschworen, vor allem auch seinem verstorbenen Großvater, außer seinem Vater der einzige freundliche Verwandte. Und wenn seine Mutter ihn auch ablehnte, mit seinem Vater kam er recht gut aus und er würde gemeinsam mit ihm auf alle Fälle ein besseres, lebenswerteres Leben führen als mit seiner Mama in England.

Die Schulzeit, zuerst bei einem strengen Hauslehrer, später in einem Internat, hatte er gut hinter sich gebracht, ebenso war er umfangreich in Buchführung und Ökonomie unterwiesen worden. Das Internat war kaum besser als das lieblose Elternhaus gewesen, er hatte dort wenig Gutes erfahren, kaum Zuneigung, meist hatte man die Jungs dort nur mit düsteren Drohungen, drakonischen Strafen und eiserner Disziplin erzogen. Von daher war er eigentlich vom Regen in die Traufe gekommen. Nur ein Lehrer auf der Royal Alexandra School in Reigate war dem insgesamt strengen Regiment nicht so ganz gefolgt und hatte sich auch ab und zu mal privat um die Belange der Jungs gekümmert. Das hatte Arthur sehr gut getan und ihm geholfen, seine Persönlichkeit trotz emotionaler Vernachlässigung herauszubilden. Wäre sein Großvater, Gilbert Clennam nicht gewesen, hätte Arthur auch zu Hause nie erfahren, was Zuneigung und Liebe bedeuteten, da sein Vater zu oft abwesend gewesen war.   

Fast drei Jahre lang hatte er nun im Geschäft der Clennam’schen Tuchwaren-Handlung gearbeitet und dabei viel über die Stoffe, deren Herkunft und Verarbeitung gelernt, so dass er nun endlich genug Wissen angesammelt hatte, um seinem Vater in China unmittelbar zur Seite zu stehen. Außerdem hatte es sehr den Anschein gehabt, als wäre seine Mutter regelrecht froh, ihn nicht mehr im Hause zu haben und würde ihn mit tausend Freuden nach Übersee schicken.

Und das wohl nicht nur wegen Flora Casby.

Die Tuchhandlung war schon immer ein florierendes Geschäft gewesen, die Clennams waren hoch angesehen und nicht gerade arm. Man konnte sich Dienstboten leisten, darunter das Faktotum Jeremiah Flintwinch und die Magd Affrey Weston. Stoffe wurden immer und überall gebraucht, vom Fluss-Schiffer bis hinauf zum königlichen Hof hatten Clennam & Sons Kunden.

Zu Affrey hatte Arthur ein besonderes Verhältnis, da sie die einzige Person im Hause Clennam war, die ihm gegenüber zuvorkommend und liebenswürdig gewesen war, und so war ihr gegenseitiger Umgangston lockerer und vertrauensseliger gewesen als zu allen anderen Personen, seine Mutter eingeschlossen.

Affrey hatte bitterlich geweint, als er sich an diesem Morgen von ihr verabschiedet hatte. Sie hatte ein letztes Mal sein Bettzeug glatt gestrichen und war dann aufgelöst in Tränen weggerannt, weil sie der Abschiedsschmerz übermannt hatte.

Über den Abschied von seiner Mutter wollte Arthur lieber nicht nachdenken. Er verstand ganz und gar nicht, warum sie ihn so furchtbar abweisend behandelte. Früher, als Kind, hatte er gedacht, dass sie einfach nur streng mit ihm war und ihm eine ordentliche Erziehung zugute kommen ließ, doch nun, da er es besser wusste, trieb ihn die Frage nach dem Grund ihrer Herzenskälte stets weiter um. Er konnte sich keinen Reim darauf machen, vor allem, da er sich selbst kaum einer Schuld bewusst war.

Die Pride of the Seas kam gut voran, bis sie Vigo in Spanien anlief. Dort wurde angelegt und neuer Proviant an Bord genommen. Für die wenigen Passagiere des Klippers, der fast nur unnützen Ballast geladen hatte, da die Hauptfracht ja von China nach England transportiert wurde, nämlich Seide, Tee und Gewürze, gab es daher einen Tag Landgang.

Arthur schaute sich neugierig in der spanischen Stadt um. Die Sprache konnte er nicht, er hatte nur ein wenig Chinesisch gelernt, und das war ein recht kompliziertes Unterfangen gewesen, da es nur wenige Chinesen in London gab, vor allem kaum welche, die befähigt waren, ihre Sprache weiterzuvermitteln.

Also wanderte er nur auf den Straßen und Plätzen der kleinen Stadt entlang und schaute sich die schönen Häuser mit den hölzernen Balkonen und hölzernen Klappläden genauer an. Es war sehr warm hier unten im Süden Europas, das Wetter war während der Reise immer besser und schöner geworden und nun war es in der Tat so heiß in der Sonne, dass man den Rock ausziehen und in Hemd und Weste herumbummeln konnte.

An einem Marktstand kaufte Arthur einer Spanierin einiges Obst ab, sie verständigten sich mit Zeichensprache und Arthur lächelte breit, als er die Orangen, Pfirsiche und Mirabellen entgegennahm. Bedächtig kaute er einige der Mirabellen und spuckte diskret die Kerne hinter große Büsche. So etwas bekam man in London nicht oft, auch nicht wenn man gut betucht war und keine finanziellen Sorgen hatte.

Er blickte ein paar sehr rassigen Mädchen nach, die ihre dunklen, fast schwarzen Haare in strenge Knoten gefasst hatten und in bunten, lebensfrohen Gewändern schnatternd durch die Stadt gingen. Als sie den großen Fremden erblickten, blieben sie kurz stehen, stießen sich gegenseitig an und brachen in albernes Gekichere aus. Dann stiebten sie davon, als wäre er der Leibhaftige direkt hinter ihnen her. 

Arthur betrat am Abend mit dem Rest seines Obstes das Schiff und nahm ein bescheidenes Abendessen ein. Die Verpflegung an Bord war weniger auf die Bedürfnisse der Handvoll Passagiere ausgerichtet, als auf kräftige, aber eintönige Seemannskost und das hing allen bereits jetzt, wo man sich noch immer in Europa befand, zum Hals heraus. Daher hütete Arthur sein Obst wie einen Schatz, auch wenn man Mirabellen und Pfirsiche bald würde essen müssen. Die Orangen würden zum Glück etwas länger haltbar sein.

Der Klipper legte am nächsten Morgen von dem spanischen Hafen ab und von da an verlief die Reise nur noch selten in geregelten Bahnen!

 

 

Kapitel zwei by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis

Arthur Clennam – Näheres siehe unter Kapitel eins

Weiterhin Passagiere, Kapitän, Bootsmann und Besatzung der Pride of the Seas, Hafenmeister von Casablanca

Erwähnung finden Affrey Weston und Jeremiah Flintwinch

Orte: Auf hoher See im Atlantik zwischen Vigo und Casablanca an Bord des Klippers Pride of the Seas

Glossar: ./.

 

 

Auf dem Weg nach Casablanca, der nächsten Station der Reise, gerieten sie in den ersten Herbststurm auf dem Atlantik. So ein Klipper war wegen der Fracht, die er zu transportieren hatte, leicht und wendig gebaut, was damit gleichbedeutend war, dass hoher Seegang für alle an Bord schlecht verträglich war.

Arthur war zwar nicht gerade mit einem sehr empfindlichen Magen ausgestattet, da er sich aber auf Grund des Platzmangels auf dem Schiff eine Kabine mit einem weiteren männlichen Reisenden teilen musste, und dieser beim ersten Anzeichen von hohen Wellen bereits seekrank wurde, dauerte es nicht lange bis auch Arthur die Übelkeit heimsuchte. Es gab dann auch eine Zeit, wo es unmöglich war an Deck zu gehen, da man sonst sofort von den haushohen Brechern über Bord gespült worden wäre, also mussten die Reisenden in ihrer engen Kabine bleiben und gegenseitig ihr Leid mit ansehen.

Beide Männer versuchten so ruhig wie möglich zu liegen und sich nicht viel zu bewegen, aber der enorme Seegang brachte das Schiff so sehr ins Rollen und Schlingern, dass der gesamte Gleichgewichtssinn völlig aus dem Lot gebracht wurde und man sich trotz aller Bemühungen oft übergeben musste.

Arthur waren diese Übelkeitsattacken furchtbar peinlich, er hatte sich noch niemals zuvor in seinem Leben vor anderen Leuten erbrochen, Flintwinch oder Affrey zu Hause einmal abgesehen, als er noch ein Kind gewesen war.

Er betete stumm zu Gott, dass das schlimme Wetter sich bald bessern möge und er von der Seekrankheit erlöst sein würde.

Doch der Sturm war ausdauernd und hielt mehrere Tage lang an.

Im Inneren der Kabine stank es bereits zum Himmel, da man kaum eine Chance hatte, Brechschüsseln und Nachttöpfe auszuleeren. Arthur sank immer mehr in sich zusammen, so wenig erbaulich hatte er sich die Reise nicht vorgestellt. Sie waren nicht einmal in Afrika angelangt und er wünschte sich schon sehnlich nach London zurück. Festen Boden unter den Füßen zu haben, stellte er sich gerade himmlisch vor.

Am vierten Tag ließ der Sturm endlich nach, die Mannschaft begutachtete die Schäden und der Kapitän verkündete mürrisch, dass man gehörig vom Kurs abgekommen sei, nun bereits fast eine Woche Verspätung habe und ihm außerdem während des Orkans ein Matrose über Bord gegangen war.

Man segelte den Klipper ohnehin mit knapp bemessener Mannschaft, und so würde man einen Ersatz für den verlorenen Matrosen benötigen. Da aber erst in Casablanca wieder angeheuert werden konnte, musste bis dahin einer der Passagiere notgedrungen einspringen.

Arthur, der sich gerade einigermaßen vom Schlimmsten erholt hatte, hob schüchtern die Hand und meldete sich zum Dienst. Besser tätig sein und Hand anlegen, als weiterhin Däumchen zu drehen und an Langeweile fast einzugehen.

Der Kapitän ließ ihn in seine Kajüte kommen und schaute sich ihn genauer an: „Gut. Sie sind ein junger, kräftiger Kerl, wenn auch körperliches Arbeiten anscheinend fremd für Sie ist. Nun, das wird sich ab heute ändern. Der Bootsmann wird Sie in Ihre Pflichten einweisen. Solange Sie als Matrose mitarbeiten, bin ich Ihr Vorgesetzter, ich erteile durch den Offizier oder den Bootsmann die Befehle und Sie haben sich danach zu richten. Verstanden?“

„Verstanden, Herr Kapitän.“

„Wie heißen Sie mit Vornamen?“

„Arthur, Herr Kapitän.“

„Wunderbar. Matrose Arthur, hiermit stelle ich dich in Dienst der Pride of the Seas. Abtreten!“

Der Bootsmann drückte ihm als Erstes ein Kleiderbündel in die Hand: „Los, umziehen! Mit feinem Kragen, Weste und Krawatte kannst du hier nicht arbeiten. Und ein bisschen Tempo, wenn ich bitten darf, wir sind hier nicht im Kontor, sondern bei der Handelsmarine und da geht es zackig zu. Auch wenn du dich freiwillig gemeldet hast, erwarte ich Disziplin und Gehorsam. Sonst kommen wir hier nämlich auf keinen grünen Zweig.“

Er nahm die Matrosenkleidung genauer in Augenschein und legte sie dann an. In einem kleinen, halbblinden Spiegel versuchte er sich zu betrachten, aber er sah nicht viel von seinem neuen äußeren Erscheinungsbild.

Auf Deck bekam er eine Einweisung in die Eigenheiten des Klippers, der Seefahrt allgemein und was zu seinen Aufgaben gehören würde.

Zuerst musste er sich die Masten und Segel einprägen.

Arthur schaute in die Höhe und murmelte vor sich her: „Klüverbaum, Bugspriet, Fockmast, Großmast, Kreuzmast, Bramsegel, Marssegel, Gaffelsegel, Großsegel, Rahsegel, Kreuzsegel… puh, und die Unterrahsegel alle, meine Güte, ist das kompliziert! Das lerne ich nie. Die Pride of the Seas ist ein Klipper, das heißt, Mars- und Bramsegel sind ungeteilt, haben aber ein Royalsegel darüber, und sie ist ein Dreimast-Vollschiff.“

Arthur kratzte sich am Kopf, Seefahrt war wohl kein einfaches Unterfangen und er bekam gehörig Respekt vor dem ganzen Wissen der Seeleute. Wenn es dann noch ans Navigieren mit dem Sextanten, Kompass und Seekarten ging – Wahnsinn!

Man teilte ihn zunächst für einfache Wachgänge ein, ließ ihn am Ruder Kurs halten, mehr durfte er nicht, auch keine Kletterei in die Rahen oder zum Ausguck, da die See noch immer unruhig war.

Nach wenigen Tagen hatte Arthur sich gut in die Mannschaft eingefügt, und da das Wetter sich erheblich gebessert hatte und man afrikanischer Sonne entgegen segelte, blinzelte er in das grelle Sonnenlicht und fühlte sich fast wie neugeboren. Er hatte das Privileg einer Doppelkabine, da er zahlender Passagier war, und gehörte trotzdem der Mannschaft an, das war ein ganz besonderer Status, den er zunehmend genoss.

Da das Meer nun endlich spiegelglatt war, ließ man ihn zum ersten Mal in die Takelage klettern. Er stellte sich geschickt an, auch wenn ihm einmal kurz beim Blick nach unten leicht schwindlig wurde, doch er schaffte es bis in den Ausguck und durfte dort seine erste Wache halten. Arthur war überwältigt von dem majestätischen Ausblick über das gesamte Schiff und das blaue Meer rundum. Bedauerlicherweise waren sie noch weit vom Land entfernt, doch ab und zu sah er andere weiße Segel am Horizont und machte auch prompt und dienstbeflissen Meldung davon.

Nach seiner Wache im Ausguck erwies sich das Runterklettern als nicht ganz so einfach, einmal hatte er sich nur ein wenig vergriffen und war ein kleines Stück abgerutscht, doch es gelang ihm sich in der nächsten Rah wieder zu fangen. Er atmete erleichtert auf, als er die Schiffsplanken wieder unter seinen Füßen spürte.

„Land in Sicht!“

Bedauerlicherweise saß Matrose Arthur gerade in der Mannschafts-Messe und nahm sein Frühstück zu sich, als dieser Ruf vom Ausguck ertönte. Er ärgerte sich, denn nur eine Viertelstunde länger und er hätte Dienst im Ausguck gehabt. Aber es hatte wohl nicht sollen sein, dass er das afrikanische Festland als Erster zu sehen bekam.

Doch das Glück war der Pride of the Seas, ihrer Mannschaft und ihren Passagieren weiterhin nicht hold, denn sie bekamen keine Einfahrt in den Hafen von Casablanca und mussten draußen auf Reede ankern. Der Hafenmeister war persönlich im kleinen Boot vorbeigekommen und hatte die Nachricht überbracht, dass Casablanca vorläufig wegen einer Epidemie von hämorrhagischem Fieber unter Quarantäne stand.

Arthur schaute den Bootsmann ungläubig an, als dieser ihm halb verlegen, halb befehlend mitteilte, dass man wegen der Quarantäne-Situation keinen neuen Matrosen würde anheuern können und er, Arthur, noch mindestens bis Dakar in Dienst gestellt würde bleiben müssen.

„Das ist nicht Ihr Ernst, Sir.“

„Nun, drastische Situationen erfordern nun mal drastische Maßnahmen. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Wir können nicht einmal Proviant an Bord nehmen, und werden daher bis Dakar die Essens- und Trinkrationen pro Person kürzen müssen. Es wird sonst nicht reichen.“

„Können wir nicht vorher schon einen anderen Hafen ansteuern?“

„Wir haben durch den Sturm ohnehin bereits mehr als genug Zeit verloren. Wir können ein klein wenig aufholen dadurch, dass wir jetzt nicht in Casablanca anlegen, sondern gleich weiterfahren, aber es würde zu viel Zeit kosten, nun beispielsweise noch die Kanaren anzusteuern. Das ist einfach unmöglich.“

Arthur blickte seufzend auf die in der Ferne liegende weiße Stadt am afrikanischen Festland und fühlte sich ganz und gar nicht wohl. Diese Reise entpuppte sich als ein weit größeres Abenteuer als er sich jemals in seinen kühnsten Träumen vorgestellt hatte.

Aber er merkte auch, dass ihm die harte Arbeit auf dem Segler gut tat. Er war von der Sonne bereits leicht gebräunt und hatte Muskeln an Armen, Bauch und Beinen aufgebaut. Außerdem war er überzeugt davon, dass ihn die Arbeit auf dem Schiff auch davor bewahren würde, erneut seekrank zu werden, sollte man noch einmal in ein Unwetter geraten. Ein Mitglied der Mannschaft wurde niemals seekrank!

Mit einer Mischung aus Trotz und Verzweiflung trat er daher eine gute Stunde später seine Ruderwache an und sah vom Ruderstand aus noch immer recht fassungslos mit an, wie die Pride of the Seas sich von Casablanca entfernte und Kurs auf den offenen Atlantik nahm.

Leise fluchte Arthur Clennam vor sich hin. Bis Dakar! Na, das konnte ja heiter werden.

 

 

Kapitel drei by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins

Weiterhin Kapitän, Erster Offizier, Bootsmann und Besatzung der Pride of the Seas

Erwähnung finden schwarze Sklaven, Arthurs Lehrer und Flora Casby

Orte: Auf hoher See im Atlantik zwischen Casablanca und Dakar an Bord des Klippers Pride of the Seas, Dakar in Französisch-Westafrika (das heutige Senegal) und die Insel Gorée vor Dakar, das Zentrum des dortigen Sklavenhandels mit dem Maison des Esclaves.

Glossar: Maison des Esclaves - französisch: Haus der Sklaven
 

 

War es auf dem Weg nach Casablanca noch die stürmische, raue See gewesen, die Probleme verursacht hatte, so war es nun zwischen Casablanca und Dakar eine mehrtägige Flaute, die alle in Verzweiflung stürzte. Sicher musste man bei einer Schiffsreise mit derartigen Dingen rechnen, doch dass sich kein einziges Lüftchen für so lange Zeit regte, war mehr als ungewöhnlich, das musste sogar der Kapitän zugeben.

Dafür war reichlich Gelegenheit für Arthur, sich zum ersten Mal ein wenig mehr mit Navigation auseinanderzusetzen, aber er wusste, den perfekten Umgang mit den astronomischen Messinstrumenten würde er nie lernen. Es war ein Buch mit sieben Siegeln für ihn. Lieber saß er an einem schattigen Plätzchen an Deck und schrieb in seiner freien Zeit in sein Reisetagebuch, dem er sich ausgiebig widmete. Er notierte natürlich auch all das, was der Erste Offizier ihm bezüglich Navigation beibrachte, aber ein Meister in diesem Fach würde er, wie gesagt, wohl nicht werden.

Überdies lernte er während der Flaute vor der Küste Afrikas endlich das Schwimmen. Im Internat hatte man zwar ein wenig auf Leibesertüchtigung Wert gelegt, doch das hatte meist Dauerlauf und Rudern bedeutet. Schwimmen zu können war kaum ein Ziel gewesen, dem sich die Lehrer dort gewidmet hatten. Im Sommer war es an ein oder zwei Tagen erlaubt gewesen, im See baden zu gehen, doch die wenigsten konnten wirklich schwimmen. Die meisten Schüler hatten stets nur im seichten Uferbereich herumgeplanscht.

Es hatte von den wenigen, die etwas schwimmen konnten, auch keiner Interesse gezeigt, denen, die es nicht konnten, das Schwimmen letztendlich beizubringen.

Arthur war immer nach einigen wenigen unbeholfenen Schwimmstößen, die er sich bei den anderen abgeguckt hatte, untergegangen als wäre er aus Blei. Also hatte er das Schwimmen ziemlich rasch aufgegeben und nicht mehr weiterverfolgt, wozu auch.

Nachdem er jetzt einige Male ordentlich Seewasser neben der Pride of the Seas geschluckt hatte und mit Händen und Füßen rudernd prustend wieder an der Oberfläche aufgetaucht war, hatte er langsam begriffen, wie er den Auftrieb des Wassers mit kontrollierten, eingeübten, technisch einwandfreien Bewegungen für sich nutzen konnte.

So dauerte es gar nicht lange, bis er das nasse Element ordentlich erobert hatte und er es schließlich richtig genießen konnte, im wohl temperierten Wasser zu schwimmen und sich dabei auch ein gutes Stück weit vom Schiff zu entfernen, um dann mit kraftvollen Schwimmbewegungen erfrischt und vor allem körperlich sauber zur Strickleiter zurückzukehren.

Panik erzeugte in ihm jedoch eines Mittags der laute Ruf des Bootsmannes „Hai in Sicht!“. Natürlich erscholl diese Warnung ausgerechnet dann, als Arthur sich am weitesten überhaupt vom Schiff entfernt hatte, so weit war er zuvor noch nie hinausgeschwommen. Hektisch und beinahe wieder so unbeholfen wie früher schwamm er zurück und erreichte atemlos mit Mühe und Not die rettende Strickleiter. Mit zittrigen Knien erklomm er diese und kaum hatte er sich die Bordwand entlang ein Stück nach oben gehievt, da erblickte er unter sich auch schon die dreieckige, silbrig schimmernde Flosse des Meeres-Raubtieres. Arthur brach der kalte Schweiß aus, das war ja gerade noch mal gut gegangen!

In der Mannschafts-Messe kursierten die wildesten Geschichten über riesige Meeresungeheuer, gefräßige, lebensgefährliche Raubfische und allerlei andere ungewöhnlichen Dinge, von denen man nicht genau wusste, ob es nun lediglich kräftig gesponnenes Seemannsgarn oder in der Tat die schreckliche Wahrheit war.

Dass man sich aber vor Haifischen in Acht nehmen musste, das wusste Arthur und er verspürte wahrlich keine Lust, als Fischfutter zu enden oder mit abgefressenen Gliedmaßen sein restliches Dasein als Krüppel zu fristen.

Mit weiterer erheblicher Verspätung kam die Pride of the Seas endlich in Dakar, der Hauptstadt Französisch-Westafrikas an. Es war für alle eine große Erleichterung, da die Lebensmittel an Bord mehr als knapp geworden waren und nicht nur Arthur in den letzten Tagen sehr oft mit knurrendem Magen zu Bett hatte gehen müssen.

Arthur hatte Landgang bekommen, aber er ahnte bereits, dass es nicht sonderlich viel bringen würde, da sein Französisch absolut miserabel zu nennen war. Er hatte in der Schule vor allem Latein pauken müssen, Französisch hatte es zwar als Dreingabe gegeben, aber es war nicht viel davon bei ihm hängen geblieben.

Es hing ein schweres Gewitter über der Stadt und Arthur hatte das Gefühl, nur mit Mühe atmen zu können. Trotzdem bewegte er sich unsicher und unauffällig durch die Straßen in Hafennähe und schaute sich staunend die Menschen in Afrika an. Wie dunkelhäutig, regelrecht schwarz sie alle waren. Und diese krausen Haare und die - Arthur wurde über und über rot im Gesicht - wenige Kleidung, die die Einheimischen trugen. Du liebe Zeit, die meisten liefen wirklich halbnackt durch die Gegend. Beschämt ertappte er sich dabei, wie er aus den Augenwinkeln einige Frauen anstierte, die völlig ungeniert ihre Babys an der Brust saugen ließen und dies auch noch in aller Öffentlichkeit.

Wenn man Arthur über biologische Vorgänge aufgeklärt hatte, dann nur unvollständig und entsprechend unangemessen. Von einigen älteren Jungs im Internat hatte er hier und da ein paar Brocken aufgeschnappt und sie zu einem wirren Mosaik zusammengesetzt. Sein Lieblingslehrer, zu dem er klein wenig privates Vertrauen aufgebaut hatte, hatte ihm einige weitere Dinge erläutert, doch vieles auch nur nebulös angedeutet.

Arthur war klar, dass Männer und Frauen sich anatomisch unterschieden, dass Frauen Brüste hatten, um Kinder nähren zu können, aber in Natura hatte er dergleichen wahrlich noch nie zu sehen bekommen. Er war sexuell absolut unerfahren, obwohl er schon mehr als zwanzig Jahre zählte. Einmal hatte er mit knallrotem Kopf ein Mädchen geküsst, eines, von dem es damals hieß, dass man es nicht heiraten musste, wenn man es geküsst hatte. Als dieses, zugeben ziemlich leichte, Mädchen ihm dann weitere Dienste erweisen wollte, hatte er sich völlig verunsichert aus dem Staub gemacht. Er hatte Herzrasen bekommen und sich vorgestellt, wie er Flora Casby in absehbarer Zeit küssen würde, und sie dabei im Arm halten würde, und… alles Weitere überstieg dann allerdings sein Vorstellungsvermögen.

Mit Flora war es natürlich nie so weit gekommen und nun lief er hier in einem afrikanischen Land durch die Gegend und war noch immer so unschuldig wie ein Engelchen. Nun ja, ein Mann war er durchaus, er hatte auch entsprechende körperliche Reaktionen - vor allem oft beim Anblick Floras - gehabt, und als er zum ersten Mal in seinem Leben mit einer fast schmerzhaften morgendlichen Erektion aufgewacht war, hatte er entsetzt auf die Beule in seinem Nachthemd gestarrt und gebetet, dass es rasch aufhören möge.

An Bord der Pride of the Seas hatte er endlich, durch den rauen Jargon der Seeleute bedingt, kapiert, was Beischlaf konkret bedeutete und – er lief erneut krebsrot an – wie man auch als Junggeselle ohne Frau eine Erektion recht genussvoll loswurde. Und dies ganz ohne Beten! Er sagte sich zwar, dass dies sicher eine große Sünde sei, konnte aber trotzdem nicht umhin, diesen praktischen Tipp seiner Matrosenkollegen anzuwenden, als er mal wieder von Flora träumend erregt in seiner Kajüte lag. Danach war er zwar nicht mehr erregt, dafür aber sehr aufgeregt! Oh, lieber Himmel, das waren ja unglaubliche Wonnen. Wie musste so ein Erlebnis erst gemeinsam mit einer Frau sein? Arthur wagte gar nicht, sich das auszumalen, denn eine derart beflügelte Fantasie hatte er nämlich mangels Erfahrung nicht.

In Dakar bekam Arthur weitere Dinge zu sehen, die ihn sehr nachdenklich machten. Dass die Afrikaner fast gänzlich ohne Scham halbnackt herum sprangen, war zwar eine faszinierende Erfahrung, doch dass Dakar das größte Zentrum Westafrikas für den Sklavenhandel war, stimmte Arthur sehr nachdenklich.

Er hatte in der Schule gelernt, dass Sklavenhandel in England seit 1807 gesetzlich verboten war. Viele andere Länder jedoch schien das nicht im Geringsten zu interessieren, und so verschiffte man große Horden an kräftigen schwarzen Männern, aber auch Frauen und Kinder, nach wie vor von Dakar aus nach Brasilien und zu den karibischen Inseln, wo in Curaçao einer der größten Sklavenmärkte im karibischen Raum betrieben wurde. 

Arthur war entsetzt, unter welch furchtbaren Bedingungen man die Einheimischen auf der Insel Gorée vor Dakar vom Maison des Esclaves auf die Schiffe trieb, dort hineinpferchte und dann schwer beladen mit der menschlichen Fracht ablegte. Er wandte sich mit Grauen ab von dem Anblick, den der nicht Enden wollende Strom der Schwarzen auf den Quais und den Planken zu den Schiffen ihm bot.

Er lag lange wach in dieser Nacht und dachte intensiv darüber nach, ob Clennam & Sons sich nicht auch in China schuldig machte an einer Art Versklavung, wenn man die Chinesen dort für einen Hungerlohn in den Seidenmanufakturen schuften ließ. Arthur war sehr, sehr unwohl bei diesem Gedanken. Erst gegen Morgen fiel er endlich in einen unruhigen Schlummer.

Wenigstens musste er nicht länger als Matrose an Bord arbeiten und konnte nun den Rest der langen Seereise als Passagier genießen.

 

 

Kapitel vier by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Martin Brown – Smut der Pride of the Seas

Weiterhin Passagiere, Kapitän, Erster Offizier, Bootsmann und Besatzung der Pride of the Seas

Erwähnung finden Mrs. Clennam, Affrey Weston, Jeremiah Flintwinch und Flora Casby.

Orte: Auf hoher See im Atlantik zwischen Dakar und Accra an Bord des Klippers Pride of the Seas, Accra in Goldküste (das heutige Ghana).

Glossar: Smut - Schiffskoch
Kombüse - Schiffsküche
Backschafter - Küchenhilfe aus den Reihen der Mannschaft, immer wechselnd
Kaffer - abfälliger Ausdruck für die einheimische Bevölkerung Afrikas
Klabautermann - Kobold, Poltergeist auf dem Schiff (eine Figur seemännischen Aberglaubens)

 

 

Doch Arthur wurde es schnell langweilig, als er sich nicht mehr nützlich machen musste an Bord. Nur im Reisetagebuch sich Notizen zu machen auf der Fahrt von Dakar nach Accra füllte ihn auf Dauer nicht aus. Er erwischte sich dabei, wie er öfter mal mit beiden Händen in die Takelage griff und daran hochklettern wollte. Schwimmen war nun auch nicht mehr möglich, da die Pride of the Seas auf dieser Strecke gut Fahrt machte und man keine Stopps einlegte.

Je näher man dem Äquator kam, desto stabiler wurde das Wetter. Es wurde fast die Tag- und Nachtgleiche erreicht, zwölf Stunden Helligkeit und Sonne und zwölf Stunden Dunkelheit und Sternenhimmel.

Der Wind war nicht unbedingt eine steife Brise zu nennen, ließ aber die Pride of the Seas recht flott vorankommen, da es der Kapitän und die Crew trefflich verstanden, den eigentlich nicht ganz so günstigen Nord-Ost-Passat geschickt für einen Zick-Zack-Kurs zu nutzen.

Arthur begann gelangweilt, lange Briefe nach England zu schreiben, jeder im Hause Clennam erhielt einen mit detaillierten Reisebeschreibungen: Seine Mutter, Affrey und auch Flintwinch. An Flora zu schreiben, traute er sich nicht, es war ihm klar, dass man ihr diesen Brief sicherlich vorenthalten würde. Er wollte in Accra die Briefe einem Schiff mitgeben, das auf der Rückreise nach England war.

Außerdem vervollständigte er sein ledergebundenes Reisetagebuch mit Zeichnungen, vor allem von den technischen Geräten an Bord, vom Schiff selbst und seiner Takelage, wobei er jedes Segel einzeln aufmalte und beschrieb.

Am Tag vor dem Einlaufen in Accra passierte jedoch ein neuerlicher Zwischenfall, diesmal in der Kombüse, denn Smut Martin Brown stürzte während eines unglücklichen Manövers die Stiege zu den Vorräten hinunter und brach sich den rechten Arm.

Arthur hatte nicht den blassesten Schimmer vom Kochen. Aber eine große Kunst konnte es wahrlich nicht sein, diesen Fraß zuzubereiten. Nachdem der Erste Offizier den Arm des Smuts geschient hatte, zeigte dieser sich mit schmerzverzerrtem Gesicht bereit, eine Aushilfe anzulernen. Arthur grinste: Sein bislang sehr beschränkter Horizont würde sich wiederum erweitern. Und schlechter zu kochen als Martin würde ohnehin ein Ding der Unmöglichkeit sein.

Für das Schälen der Kartoffeln brauchte Arthur jedoch Ewigkeiten und Martin fluchte in seiner Sitzecke aus zwei Gründen: Erstens würde das Mittagsmahl so niemals pünktlich auf den Tisch kommen und zweitens hatte er tierische Schmerzen.

Mit einer halben Stunde Verspätung trugen Arthur und der Backschafter, also der Matrose, der diese Woche Aushilfsküchendienst hatte, das Essen auf: Eine sehr dünne Kartoffelsuppe mit ein wenig Speck darinnen. Zum Ausgleich hatte Arthur gegen den Widerstand Martins darauf bestanden, dass jeder eine Scheibe Ananas bekommen sollte, die man in Dakar mit an Bord genommen hatte, vor allem auch, um Vitaminmangelerscheinungen wie Skorbut vorzubeugen. Das exotische Obst gab es meist nicht unter der Woche, sondern nur sonntags.

Doch Arthur hatte sich aus der sauertöpfischen Miene von Smut Martin nichts gemacht und kurzerhand die Ananas-Früchte geholt und aufgeschnitten.  

Der Kapitän runzelte sofort ungnädig die Stirn und blaffte: „Wer ist nun für die Kombüse verantwortlich?“

„Ich, Sir“, meldete sich Arthur ein wenig kleinlaut.

„Ach nein, das Rundum-Talent Mr. Clennam. Hätte ich mir ja fast denken können. Hast du veranlasst, Smut Arthur, dass es heute Ananas gibt?“

„Habe ich, Sir.“

„Auf wessen Befehl?“

„Auf meinen eigenen, Sir. Wenn ich die Verantwortung für die Küche, Verzeihung, die Kombüse tragen soll, dann tue ich dies mit aller Konsequenz.“

Der Kapitän warf ihm einen erstaunten Blick zu. Dieser Clennam war kein übler Bursche, vor allem war er auf ziemlich allen Gebieten sehr gelehrig und scheute kaum eine Arbeit, auch wenn diese ihm anfangs sicher nicht leicht von der Hand ging.

„Das merke ich. Die Suppe ist genauso schlecht, wie sie immer schon auch bei Martin gewesen ist, das dürfte also bestimmt am Lehrmeister liegen. Und Obst, Smut Arthur, ist streng rationiert, das gibt es hier an Bord nur sonntags. Das ist und bleibt ein Befehl! Du kannst von Glück sagen, dass wir nahe an Accra sind und dort Proviant an Bord nehmen, sonst hätte ich dich für den Rest des Tages am Großmast festbinden und in der prallen Sonne schmoren lassen, mein Freund! Eigenmächtigkeiten in der Kombüse können weit reichende Konsequenzen für alle an Bord der Pride of the Seas haben. Die Vorräte sind mehr als knapp kalkuliert und wenn wir wieder wegen eines Sturms oder einer Flaute länger unterwegs sind als geplant, hat jeder einzelne von uns nämlich das Nachsehen. Haben wir uns verstanden?“

„Ja, Sir“, murmelte Arthur und schlich dann leicht niedergeschlagen zurück an seinen Arbeitsplatz, um Berge von schmutzigem Geschirr zu spülen.

Die Arbeit als Smut war wesentlich zeitaufwändiger und schlimmer als gedacht. Als Matrose hatte er Wache und Freiwache im Vierstunden-Rhythmus gehabt, doch hier merkte er schnell, dass diese Tätigkeit mindestens vierzehn Stunden täglich in Anspruch nahm, mit wenigen kleinen Pausen dazwischen. Und den Landgang in Accra konnte er somit auch vergessen, denn Essen musste an Bord trotzdem aufgetischt werden, auch wenn man in einem Hafen lag.

Mit Schrecken im Blick stieg er aus den Vorratskammern wieder nach oben und rümpfte die Nase. Was er da unten entdeckt hatte, war einfach nur eklig! Verschimmelte Lebensmittel, aufgekeimte, verfaulte Kartoffeln, verdorbenes Obst, und einen Süßwasser-Vorrat, den man nicht mehr lange würde trinken können.

Er baute sich in seiner ganzen Größe vor Martin Brown auf, der in Erwartung der Gardinenpredigt bereits in sich zusammensank und Arthur fragend anstarrte: „Sag schon! Schlimm?“

„Schlimm? Schlimm ist gar kein Ausdruck! Ich bin entsetzt! Martin, es grenzt an ein Wunder, dass hier noch keiner krank geworden ist an Bord! Ich verstehe, dass auf einer so langen Reise mal Vorräte verderben und kaputtgehen, aber dann muss man den Kram eben über Bord werfen, damit die Fische auch leben können. Wenn man das alles da unten zusammen lässt, wird es ja nur noch schlimmer. Die Fäulnis geht dann umso schneller vonstatten.

Ich lege nun eine Liste dessen an, was noch verwendbar ist, und dann schreiben wir auf, was uns der Bootsmann hier in Accra besorgen muss. Kriegt man in diesem Land Kartoffeln?“

Martin zuckte mit den Schultern: „Schwer zu sagen. Manchmal haben sie ein paar Säcke da für einlaufende Handelsschiffe. Aber richte dich besser nicht drauf ein.“

„Welche Alternativen hat man dann?“

„Hirse.“

„Was ist das?“

„Eine Art Getreide, das man eigentlich zu allem möglichen verarbeiten kann. Hirsebrei zum Frühstück anstelle von Porridge. Das Mehl kann man zum Backen von brotähnlichen Dingen verwenden. Und man kann es statt Kartoffel als Beilage zum Fleisch essen. Aber Frischfleisch hält sich hier in diesen Breiten sowieso nicht und wir müssen alles pökeln. Schau mal, wie viel Salz noch da ist zum Einpökeln.“

„Geräuchertes Fleisch kriegt man hier auch nicht?“

„Nein, das ist den Kaffern wohl unbekannt. Und die wenigen Europäer, die hier in den Küstenstädten hocken, behalten das dann natürlich für sich und ihre Festtafeln. Gouverneure und diese Leute, du weißt schon. Kolonialherren eben.“

Arthur legte genaue Listen an, das konnte er perfekt, es ließ seine Buchhalterseele förmlich Freudensprünge machen.

Zunächst machte er die Einkaufsliste für die Landgänger fertig und gab denen auch seine Briefe mit, damit man sie einem Schiff übergeben konnte, das in Kürze in Richtung Heimat in See stechen würde.

Dann machte sich Arthur daran, ein neues Wareneingangsbuch für den Proviant zu kreieren, das die Bestände wesentlich detaillierter auflistete und somit die Vorräte besser kontrollierbar machte.

Gemeinsam mit Martin Brown schuf er Ordnung im Vorratsraum, er erschlug mit großer Überwindung überdies etliche Schiffsratten und legte Giftköder für die aus, die er nicht erwischt hatte, außerdem ließen sie alle verdorbenen Sachen über Bord gehen. Martin konnte mit dem unverletzten Arm ein paar kleinere Dinge tragen und zumindest ein wenig mithelfen.

Als der neue Proviant an Bord kam, verstaute Arthur die Lebensmittel höchstpersönlich. Die länger haltbaren Sachen kamen weiter nach hinten, und alles, was rasch verbraucht werden musste, so beispielsweise ein großer Korb voll Eier, brachte er gleich am Eingang unter.

Er führte genau Buch über das, was an Bord kam, sowohl über Art, Menge und auch Konsistenz und Lagerort der Ware.

Das sah an einigen Beispielen dann so aus:

Pos. 7 - Zwei Säcke gemahlene Hirse, zu jeweils vier Stone = acht Stone, Mehl, gelagert an Bordwand hinten mittig

Pos. 8 - Ein Korb Eier, gezählt 76 Stück, roh, gelagert Regal 2 vorne links

Pos. 9 - Drei kleine Fässer Wein, zu jeweils sechs Pints = 18 Pints = neun Quarts = eine Gallone und ein Quart, flüssig, gelagert Regal 5 hinten links

Martin Brown starrte Arthur Clennam ehrfürchtig an und sagte dann im rauen Seemannsjargon: „Verdammt und zugenäht, du bist mir Einer! Wenn du nun noch besser kochst als ich, dann hol’ mich der Klabautermann!“

Arthur grinste ihn an und antwortete: „Diese Herausforderung nehme ich doch gerne an!“

 
Kapitel fünf by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Martin Brown – Näheres unter Kapitel vier

Weiterhin Passagiere, Kapitän, Erster Offizier und Besatzung derPride of the Seas, sowie eine einheimische Muschelsammlerin

Orte: Auf hoher See im Atlantik zwischen Accra (Goldküste, heute Ghana) und Sao Tomé an Bord des Klippers Pride of the Seas, Porto Alegre auf Sao Tomé im Golf von Guinea.

Glossar: Neptun - In der Mythologie der römische Gott des Wassers und der Meere, gleichzusetzen mit dem griechischen Poseidon. Neptun ist der Vater von Triton.
 

 

Von Accra, der Hauptstadt von Goldküste, hatte er nichts gesehen. Nun hatten sie schon mal in einer britischen Kronkolonie vor Anker gelegen und er hatte nicht an Land gehen können! Es ärgerte Arthur schon ordentlich. Der nächste Halt würde dann erst wieder in einer portugiesischen Kolonie sein und das passte ihm irgendwie gar nicht. Heimlich versetzte er einem der Säcke mit Hirsemehl einen festen Tritt vor lauter unterdrückter Wut.

Aber er war nicht nachtragend und fand sich rasch mit seinem Schicksal ab.

Er wusste außerdem, dass man sorgfältig mit dem Proviant umgehen musste, man konnte es sich nicht leisten, Lebensmittel wegzuwerfen, weil man beim Kochen sich als unfähig erwiesen oder Versuche damit angestellt hatte.

Dennoch wagte er es, mit sehr kleinen Mengen zu experimentieren und buk eines mittags im heißen Fett kleine Hirsefladen aus, die gar nicht mal schlecht schmeckten. Einige Matrosen hatten recht große Fische gefangen, die unglaublich gut schmeckten, auch wenn das dunkelrote Fleisch zunächst nicht danach ausschaute. Arthur bekam von Martin gezeigt, wie man einen Fisch ausnahm. Er hätte sich beim ersten Mal dabei fast in der Kombüse übergeben, aber er schluckte den Ekel tapfer hinunter und lernte das äußerst unappetitliche Handwerk.

Der zubereitete Thunfisch war exzellent, dazu diese von Arthur erfundenen Hirsefladen und zum ersten Mal griffen die Offiziere, Matrosen und Passagiere mit unverhohlener Begeisterung in die Töpfe und Schüsseln.

„Es geschehen noch Zeichen und Wunder, Neptun hat unsere Gebete erhört und es gibt was Schmackhaftes zu essen. Smut Arthur, du hast deine Sache gut gemacht.“

Der Erste Offizier äußerte sich sehr lobend und über Arthurs Gesicht zog ein zufriedenes Lächeln.

„Sir, verzeihen Sie, dass ich Ihnen widerspreche, aber Sie haben doch hoffentlich Ihre Gebete an Gott gerichtet, oder?“

„Neptun ist unser Gott hier auf dem Meer, Arthur, merk dir das.“

„Aye, Sir.“

„Ich werde dem Kapitän berichten, dass es sich heute lohnt, zum Essen zu gehen.“

Arthur hielt Martin an, so oft wie möglich Fische zu angeln, soweit ihm das mit einem Arm möglich war, denn damit konnte der Speiseplan erheblich aufgewertet werden. Doch war ihnen das Anglerglück nicht immer hold und dann mussten es wieder Eintöpfe mit gepökeltem Fleisch sein, damit die schwer arbeitenden Matrosen einigermaßen satt wurden.

Die Arbeit in der Kombüse ließ Arthur spätabends todmüde in seine Koje wanken und in einen bleiernen Schlaf fallen. Vom Schwimmen im blauen Atlantik wagte er nur noch zu träumen, derzeit musste er sich mit minimalistischer Körperpflege, einer morgendlichen kurzen Wäsche an der Waschschüssel, begnügen. Zeit zum Rasieren hatte er auch kaum noch und so spross schon bald ein rötlich getönter Bart in seinem Gesicht.

Martins Arm war schon beinahe wieder verheilt, als die Pride of the Seas genau auf Äquatorhöhe die Südspitze von Sao Tomé im Golf von Guinea anlief. Martin Brown schaute in das graue, müde Gesicht von Arthur Clennam und entschied mit einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete: „So, mein Lieber, du gehst nun an Land. Für eine Mahlzeit komme ich ganz gut allein klar, wenn du ein wenig vorarbeitest. Nein, ohne Protest bitte, ich schaffe das schon!“

Arthur wusste nicht, was er in einer portugiesischen Kolonie tun sollte, aber er fügte sich den Anweisungen von Martin und ging über den Laufsteg vom Schiff und betrat staunend Porto Alegre.

Außer dem sehr kleinen, bescheidenen Hafen sah er sogleich nur noch azurblauen Himmel, grüne Palmen, türkisfarbenes Meer und einen feinen, fast weißen Sandstrand. Laut lachend ließ er sich in den warmen Sand fallen und schloss seine Augen. Das war das Paradies! Eindeutig, ohne Zweifel! Und keine Menschenseele war hier außer ihm. Er zog sich seine Kleidung aus und watete in das seichte Wasser. Weit, weit konnte man hinauslaufen, bevor das Wasser tiefer wurde und man endlich schwimmen konnte.

Trotzdem war Arthur wachsam und hielt aufmerksam nach Haien Ausschau. Vor diesen Biestern hatte er wirklich Angst.

Er planschte ausgelassen wie ein kleines Kind im warmen Wasser herum und ließ sich auf dem Rücken liegend von den kleinen Wellen hin- und herschaukeln. Oh, wie wundervoll war es doch hier! Arthur wollte nie mehr wieder weg von diesem zauberhaften Fleckchen Erde.

Träge schwamm er zum Strand zurück und steuerte auf sein Kleiderbündel zu, als ihm der Atem stockte! In unmittelbarer Nähe zu seinen Kleidern lief eine Einheimische über den Strand und sammelte anscheinend Muscheln in einen Korb.

Es gab nur einen Weg für ihn: Den zurück ins Meer, denn er war komplett nackt!

Doch die Frau hatte seine Kleider bemerkt, blickte sich nun suchend um und winkte ihm fröhlich zu. Arthur wurde feuerrot im Gesicht und trat die Flucht ins Wasser an.

Die Muschelsammlerin dachte jedoch nicht daran sich zurückzuziehen und setzte sich kurzerhand zu seinen Kleidern, um ein Päuschen zu machen.

Arthur war die Sache mehr als peinlich. Wenn sie dort noch lange sitzen blieb, musste er wohl oder übel aus dem Wasser. Ewig konnte er nicht im Meer bleiben. Er sah, dass sie einen langen bunten Rock trug, der offensichtlich gewickelt war, aber kein Oberteil, ihre Brüste waren nackt und kaum von ein paar farbenfrohen Ketten bedeckt. Gut, wenn sie entblößt durch die Gegend laufen konnte, konnte er es doch auch, oder?

Nein! Das ging nicht! Arthur wollte für keine Sekunde an solche Freizügigkeiten denken, doch welche Alternative hatte er? Er musste ja auch schon bald zum Schiff zurück, sonst würde man sich Sorgen um ihn machen. Martin war ganz allein in der Kombüse, das konnte er ihm nicht antun.

Er fühlte sich jetzt schon im Wasser unwohl und merkte auch, dass ihn die Sonne wohl gerade recht ordentlich verbrannte. Die Schultern waren schon gerötet und sein Rücken offensichtlich auch. Er fluchte unterdrückt.

Mit gequältem Gesichtsausdruck und einem lang gezogenen Seufzer kam er sehr rasch aus dem Wasser und sprintete regelrecht auf sein Kleiderhäufchen und die Einheimische zu, wobei er vor Verlegenheit und Scham am liebsten in den Boden versunken wäre. Schnell griff er sich seine Hose und zog sie sich über, dann stieß er erleichtert die angehaltene Luft aus und warf der Frau ein schüchternes Grinsen zu.

Diese entblößte eine Reihe weißer Zähne zwischen breiten Lippen und plapperte etwas in ihrer Sprache daher.

Arthur zuckte bedauernd mit den Schultern und gestikulierte wild, dazu sagte er langsam das Wort: „Englisch!“

Die Frau griff in ihren Korb und reichte Arthur eine wunderschöne Wellhornschnecke mit etlichen Seepocken darauf. Er betrachtete die Muschel staunend und wollte sie dann der Frau wiedergeben, doch diese machte eine eindeutig abwehrende Handbewegung, sie schien zu wollen, dass er die Muschel behalten solle.

Arthur verbeugte sich zum Dank anständig, dann zog er seine restliche Kleidung an, drückte die Muschel an sich, winkte der Muschelsammlerin zu und gab Fersengeld. Nun, sie war zumindest nicht völlig geschockt über den Anblick eines nackten weißen Mannes gewesen, so viel stand fest. Der Schock saß wohl um einiges tiefer in Arthur, der sich zum ersten Mal im Adamskostüm vor einem weiblichen Wesen gezeigt hatte. Diese Reise war ein einziges Abenteuer, so viel stand fest.

Arthur kehrte eiligen Schrittes durch Porto Alegre zur Pride of the Seas zurück, doch als er am Schiff angekommen war, merkte er sofort, dass irgendetwas nicht stimmte! Wunderbar, sehr viel mehr Aufregung konnte er gar nicht mehr gebrauchen an diesem Tag. Außerdem begann sein Sonnenbrand nun langsam zu schmerzen und versprach unangenehme kommende Tage.

Sobald er die Reling hinter sich gelassen und das Schiff betreten hatte, wurde er von mehreren Männern hinterrücks überwältigt, er bekam einen stinkenden Sack über den Kopf gezogen und wurde sofort brutal gefesselt. Er schätzte, dass man ihn am Großmast festgebunden hatte und er fragte sich, ob es eine disziplinarische Maßnahme seitens des Kapitäns war - wenn ja, aus welchem Grund? - oder ob Piraten das Schiff erobert hatten und ihn nun gefangen hielten. So schnell konnte ein nettes Abenteuer sich in einen Alptraum verwandeln!

 

 

Kapitel sechs by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Martin Brown – Näheres unter Kapitel vier

Weiterhin Passagiere, Kapitän, Bootsmann und Besatzung der Pride of the Seas

Orte: An Bord des Klippers Pride of the Seas / Liegeort Porto Alegre auf Sao Tomé im Golf von Guinea.

Glossar: Kardinalspulver – damalige Bezeichnung von Chinin
Schwarzwasserfieber – damalige Bezeichnung der Malaria in einem prekären Stadium.
 

 

Er meinte, unterdrücktes Gelächter irgendwo zu hören und das passte seiner Meinung nach nicht direkt zu einem Piratenüberfall. Und wenn man es genau betrachtete, würde wahrscheinlich kaum ein Pirat so dämlich sein, ein im Hafen liegendes Schiff zu kapern, zumal man sich hier direkt gegenüber von allen behördlichen Gebäuden befand.

Der Grund für den Überfall an ihm musste also ein anderer sein. Doch welcher?

Die Aufklärung der Sache stand unmittelbar bevor, denn er bekam den Sack vom Kopf gezogen und erschrak heftig, da er in die Augen eines merkwürdigen Ungeheuers blickte. Doch dann schweifte sein Blick herum und er sah, dass sich die gesamte Mannschaft der Pride of the Seas an Deck versammelt hatte und ihn grinsend anstarrte. Das Ungeheuer war auch niemand Geringerer als der grotesk verkleidete Martin Brown, der sich nun vor Lachen fast in die Hose machte.

Arthur räusperte sich: „Sollte dies eine Maßnahme des Kapitäns sein, dann weiß ich nicht, was es da zu glotzen und vor allem zu lachen gibt. Und warum zur Hölle läuft Martin verkleidet durch die Gegend? Ist etwa Karneval hier?“

Alles grölte laut, doch Antwort erhielt Arthur noch immer nicht.

Endlich teilte sich die Menge und ein in ein weißes Bettlaken gehüllter, mit einem Wollbart versehener und einen Dreizack tragender Bootsmann kam daher, gefolgt vom Kapitän.

„Der große Neptun befiehlt, dass der Gefangene nun eingeseift wird!“

Neptun? Waren hier alle plötzlich meschugge? Einseifen? Wozu?

Er bekam eine große Menge Rasierschaum lieblos von Martin ins Gesicht geklatscht und dann klappte der Kapitän sein Rasiermesser auf und hielt es Arthur unter die Nase. Dieser wich unwillkürlich ein Stück mit dem Kopf zurück.

„Der große Neptun fragt, ob der Gefangene würdig der Prozedur ist?“

Würdig? Welcher Prozedur? Nun ja, wenn man ihm unbedingt seinen Bart abrasieren wollte, er hatte nichts dagegen.

Doch der Bootsmann dröhnte weiter mit verstellter Stimme: „Ich habe dem Gefangenen eine Frage gestellt!“

Martin trat einen Schritt auf ihn zu und raunte: „Du sagst einfach, dass du würdig bist. Fertig.“

Arthur hob den Kopf und machte den Mund auf, wobei er eine Menge Rasierschaum hinein bekam, er spuckte und hustete, dann keuchte er: „Ja, ja. Ich bin würdig. Was es auch immer sei!“

Er wurde vom Kapitän persönlich rasiert, was ihm sehr unangenehm war, aber er wurde nicht ein einziges Mal geschnitten, zum Glück.

Dann befahl Neptun in Gestalt des Bootsmannes: „Bindet ihn los.“

Er wurde vom Großmast losgebunden, aber weiterhin von einigen Matrosen festgehalten.

Dann setzte sich eine kleine Prozession in Bewegung, mit Neptun, dem Kapitän und dem verkleideten Martin Brown vornweg und dem Rest, samt Arthur, hinterher. Am Heck des Schiffes hatte man eine hölzerne Wanne mit Wasser aufgestellt, darum gruppierten sich nun alle.

Er hatte noch immer Reste vom Seifenschaum im Gesicht und Martin sorgte dafür, dass er nun noch eine Ladung abbekam.

„Nein, ich wurde doch schon rasiert!“

„Der Delinquent hat den Mund zu halten“, kam es von Neptun prompt.

Na bravo! Erst war er der Gefangene gewesen und nun schon der Delinquent. Das waren ja reizende Aussichten.

Die Matrosen packten ihn recht grob an und schubsten ihn zur Holzwanne. Dann zwangen sie ihn in die Knie und tauchten ihn kopfüber in das Wasser. Einige Sekunden später kam er prustend wieder hoch. Kaum hatte er Luft geholt, ging es erneut mit dem Kopf unter Wasser.

Nach dem dritten Tauchgang brandete Applaus auf und er wurde plötzlich losgelassen.

Meeresgott Neptun kam auf ihn zu: „Arthur Clennam, derzeit Passagier und Besatzungsmitglied der Pride of the Seas zu London, hiermit bestätigen Kapitän und Mannschaft dieses stolzen Schiffes vor dem Angesicht des großen und mächtigen Neptun, dass du erfolgreich die Äquatortaufe absolviert hast! Herzlichen Glückwunsch, Arthur!“

Der Kapitän fügte schmunzelnd hinzu: „Zur Feier der Äquatorüberquerung gibt es heute Abend eine Ration Wein und Musik für alle!“

Gejohle brach unter den Matrosen aus. Dann wurden noch die restlichen Passagiere getauft, ebenso erst eingeseift und dann untergetaucht, wenn man bei diesen Leuten auch nicht ganz so einen Trubel veranstaltete wie bei Arthur, der ja immerhin auch zur Mannschaft gehörte.

Arthur war noch immer völlig perplex und nahm die Glückwünsche der Kameraden überrascht entgegen. Als Martin ihm die Hand schüttelte, fragt er ihn: „Hast du mich deswegen vor ein paar Stunden loswerden wollen? Damit ich nichts von den Vorbereitungen mitkriege?“

„Ja und nein. Du hattest dringend eine Pause nötig, brauchtest ein bisschen Zeit zum Ausruhen. Das habe ich dir angesehen. Und dann war es natürlich auch wegen der Äquatortaufe, klar doch. So konnten wir zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.“

„Ihr habt mir zuerst einen Riesenschreck eingejagt, ich dachte, das Schiff wäre in der Hand von Piraten.“

„Ach was, da sieht man, wie unerfahren du doch bezüglich der Seefahrt bist. Piraten würden da ganz anders vorgehen, glaub mir. Und – wie war es in Porto Alegre?“

„Traumhaft schön. Ein paradiesischer Strand. Ich bin viel geschwommen. Aber ich fürchte, ich habe mir einen Sonnenbrand geholt.“

„Ja, das geht schnell in diesen Breiten. Direkt am Äquator halt.“

„Und eine Frau hat mir diese Muschel geschenkt.“ Er holte die leere Schale der Wellhornschnecke aus seiner Hosentasche und hoffte, dass sie bei seiner etwas brutalen Äquatortaufe keinen Schaden genommen hatte. Doch alles war noch ganz.

„Schön. Eine Wellhornschnecke. Von einer Muschelsammlerin?“

Arthur nickte.

„Mit was hast du denn bei ihr Eindruck schinden können? Mit deinem rötlichen Rauschebart, den du bis vor wenigen Minuten noch hattest, sicher nicht.“

Arthur lief flammendrot an, musste aber trotzdem grinsen und antwortete schlagfertig: „Tja, wenn es die Barthaare nicht waren, dann müssen es eben andere Haare gewesen sein!“

Damit drehte er sich um und ließ Martin alleine stehen, dem gerade wahrhaftig die Kinnlade herunterklappte.

Am Abend, als sie die Kombüse aufgeräumt, das Dinner hinter sich und das erste Glas Wein intus hatten, lachten sie beide über die Geschichte von Arthurs ‚nackten Tatsachen’ am Strand von Porto Alegre.

Einige der Matrosen hatten Fidel und Dudelsack ausgepackt und es wurden flotte, manchmal auch melancholische Weisen gespielt.

Einige wenige der Seeleute tanzten einen Highland Fling, dem Arthur interessiert zuschaute, dessen fast akrobatische, ballett-ähnliche Schrittfolgen und –kombinationen ihm aber zu kompliziert waren.

Er hatte Tanzstunden im Internat gehabt, was so lange witzig gewesen war, wie man es nicht praktisch mit einer Dame als Gegenüber anwenden musste. Als dann ein Saisonabschlussball gegeben worden war und der Tanzsaal plötzlich von herausgeputzten, schwatzhaften jungen Damen nur so gewimmelt hatte, hatte Arthur jeden sich zuvor mühsam angeeigneten Tanzschritt verlernt. Er hatte nichts tun können außer sich zu blamieren, weil er den anderen während des Tanzes nur im Weg gewesen war und nichts mehr auf die Reihe brachte, so dass alle bereits über ihn getuschelt und einige der Damen ihn sogar hinter vorgehaltenem Fächer ausgelacht hatten. Ans Tanzen hatte er also keine sehr guten Erinnerungen.

Aber er schaute gerne zu, klatschte mit und lachte ausgelassen, obwohl sein Sonnenbrand ihm arg zu schaffen machte.

Als er in seiner Koje lag, merkte er erst, dass es wohl mehr als ein Sonnenbrand sein musste.

Er hatte Schmerzen fast überall, sein Kopf glühte wie ein Schmiedefeuer und er träumte furchtbar wirres Zeug. Immer wieder wachte er schweißgebadet auf und wusste nicht, ob es Traum, Fantasieren oder Realität war. Er hoffte, dass er nur einen Hitzschlag von der unbarmherzigen Äquatorsonne hatte und nicht ein schlimmes Fieber, das womöglich ihn und die halbe Besatzung der Pride of the Seas letztendlich dahinraffen würde.

Sein Mitpassagier informierte am frühen Morgen Martin Brown von dem schlechten Gesundheitszustand von Mr. Clennam und dieser kam sehr bald mit einem aufgekochten Sud angestürzt, den er sofort Arthur verabreichte. Zwar konnte er kaum etwas zu sich nehmen, weil sein hohes Fieber dies nur schlecht zuließ, doch gemeinsam zwangen Martin und sein Kabinen-Mitbewohner ihn löffelweise den bitteren Aufguss aus Kardinalspulver (Anm.: wir kennen es eher unter dem Namen Chinin) zu trinken.

Das Zeug war so bitter, dass Arthur es zuerst wieder – vielleicht sogar mehr unbewusst – ausspuckte.

Die beiden anderen Männer blickten sich an und Martin sprach es aus: „Hoffentlich ist es kein Schwarzwasserfieber (Anm.: eine der früheren Bezeichnungen der Malaria)!“

 

 
Kapitel sieben by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Martin Brown – Näheres unter Kapitel vier
Manoel Campos-Fuentes – Der Gouverneur von Portugiesisch-Westafrika

Weiterhin Passagiere, Kapitän, Erster Offizier, Bootsmann und Besatzung der Pride of the Seas, Angesteller der Hafenmeisterei, Diener des Gouverneurs

Erwähnung findet König Johann VI. von Portugal

Orte: Auf hoher See im Atlantik zwischen Sao Tomé und Luanda an Bord des Klippers Pride of the Seas, Luanda in Portugiesisch-Westafrika (heute Angola)

Glossar: Vollzeug – ein Schiff unter vollen Segeln
 

 

Der Kapitän wurde über den Krankheitsfall informiert, doch er sagte zu Martin Brown, der nun einarmig den Dienst in der Kombüse versah: „Ich halte es für nicht sehr wahrscheinlich, dass es ein Fall von Schwarzwasserfieber ist. Arthur war nur in Dakar an Land, in Accra gar nicht. Von daher müsste es schon viel früher bei ihm ausgebrochen sein. Hoffen wir also, dass es nur ein tropischer Hitzschlag ist, da er offensichtlich ja auch einen fürchterlichen Sonnenbrand hat. Falls noch genügend Kardinalspulver an Bord ist, verabreicht ihm ordentlich was davon. Dann dürfte er sich schon bald wieder besser fühlen.“

Sofern es in der Hitze in unmittelbarer Äquatornähe überhaupt möglich war, wickelte man den Kranken in kühle, feuchte Tücher und sorgte weiterhin für eine Behandlung mit dem Bitterpulver. Zwei Tage später ging es Arthur schon besser, aber auch das wäre nicht ungewöhnlich für einen Schub Schwarzwasserfieber gewesen, auch diese Krankheit besserte sich immer zwischendrin nach einigen Tagen wieder.

Er bat darum, an einem schattigen Ort an Deck liegen zu dürfen, da es in der Kabine furchtbar stickig war. Ein Matrose spannte ihm eine Hängematte zwischen einen Mast und einen Decksaufbau und er konnte sich unter die Schatten spendenden Segel legen, da das Schiff derzeit fast unter Vollzeug Fahrt machte. Es war ein tolles Gefühl, so direkt unter den zwar nicht ganz weißen, eher grau schimmernden Segeln an der frischen Luft zu liegen. Zwar war es sehr heiß, aber es ging doch ein schöner Seewind, und das war Arthur wichtig.

Der Sonnenbrand begann sich abzuschälen und Arthur verlor große Hautfetzen dabei. Er hatte nun auch stets ein Leinenhemd an, er würde sich hüten noch einmal splitterfasernackt an einem Traumstrand herum zu springen.

Der Bootsmann schaute kurz bei ihm vorbei: „Ach, Arthur hängt in den Seilen im wahrsten Sinne des Wortes. Man merkt es am Fraß bei den Mahlzeiten, dass wir derzeit wieder von Smut Martin bekocht werden und das auch noch einarmig. Mach bloß, dass du gesund wirst und wieder das Sagen über die Kombüse übernimmst. Wobei ich nicht behaupten will, dass du ein guter Koch bist, aber allemal ein besserer als der vermaledeite Brown!“

Damit ging er wieder seiner Wege und seine Worte hinterließen ein recht zufriedenes Grinsen auf den Lippen von Arthur Clennam.

Die Pride of the Seas war nun seit dreieinhalb Monaten unterwegs und hatte mit geschätzten fünftausend Seemeilen auch etwa ein Drittel der Strecke bewältigt. Sicher war nur, dass die veranschlagten neun Monate Reisedauer wohl überschritten werden würden. Um wie viel, das konnte zu diesem Zeitpunkt der Reise noch niemand genau sagen. Zu viel Unvorhergesehenes lag noch vor allen an Bord des Klippers.

Beim Anlaufen von Luanda in Portugiesisch-Westafrika war Arthur wieder genesen und entlastete noch immer Martin, obwohl dieser seinen gebrochenen Arm inzwischen wieder einigermaßen bewegen konnte. Sie hatten beide gemerkt, dass es viel brachte sich die Küchenarbeit zu teilen. Arthur verzog das Gesicht zu einer säuerlichen Grimasse, es war erneut ein portugiesischer Hafen und er fragte sich ernsthaft, was den Kapitän und die Handels-Schifffahrtsgesellschaft antrieb, als britisches Schiff ständig andere Kolonien anzulaufen. Das würde doch sicher auch höhere Hafengebühren kosten, als wenn man in eigenen Häfen Station machen würde. Arthur wunderte sich. England hatte offensichtlich in Westafrika nicht so viele Kolonien. Das würde sich aber mit der Umrundung des Kaps der Guten Hoffnung dann ändern.

Arthurs Gesundheit war gut wiederhergestellt und es stand nicht zu befürchten, dass er am Schwarzwasserfieber litt. Zwar war das nicht ansteckend für die Mitreisenden, aber gefährlich für den Kranken und mit elenden Zuständen während der akuten Schübe verbunden. Letztendlich würde diese Krankheit mit großer Wahrscheinlichkeit tödlich ausgehen.

Was Arthur vor einigen Wochen bei seinem Ausflug in Dakar bereits gesehen hatte und was ihn ziemlich gegen den Sklavenhandel aufgebracht hatte, sah er noch einmal in Luanda bestätigt, wo man ebenfalls lukrativ die Schwarzen vor allem nach Brasilien verschiffte. Von einer Kolonie in die nächste eben, auch wenn Brasilien seit kurzem ein unabhängiger Staat war, so wurden dort doch weiterhin Sklaven, vor allem auf den Zuckerrohrplantagen, gebraucht. Arthur hatte keine Ahnung, was die Afrikaner in Südamerika alles erwarten würde, er hatte sich bislang noch nie mit diesem Thema beschäftigt, doch er ahnte, dass es kaum Gutes sein würde, falls man die menschenunwürdige Überfahrt überhaupt überleben würde.

Als er von seinem Landausflug in ziemlich depressiver Stimmung an Bord der Pride of the Seas zurückkehrte, machte ihm der Erste Offizier ein Zeichen, dass er ihn kurz zu sprechen wünschte. Arthur wandte sich ihm zu: „Was gibt es denn? Sie machen ja ein sehr ernstes Gesicht.“

„Nicht minder ernst als deine Miene, Arthur. Ja, es gibt leider schlechte Nachrichten, wir müssen hier länger bleiben, da am Schiff einige Reparaturen notwendig geworden sind. Sehr bedauerlich, aber so hätten wir kaum noch sehr viel weiter fahren können.“

„Verstehe. Wie lange wird es voraussichtlich dauern?“

„Wir werden mindestens eine Woche hier liegen müssen.“

„Welche Reparaturen sind denn erforderlich?“

„Einiges an den Rudern, und Segel müssen wir neu machen lassen, es wird auch etliches an Zimmererarbeiten geben, na ja, so manches fällt einem manchmal auch erst auf, wenn man dann so richtig angefangen hat. Wir wollen jedoch nicht hoffen, dass wir noch weitere Mängel entdecken.“

Arthur wusste das alles nicht einzuordnen, war es gut oder schlecht, dass man nun hier festsaß? Luanda war portugiesisches Territorium und man sprach nur wenig Englisch in dieser Kolonie.

Er sortierte seine Wäsche in der Kabine, denn er hatte festgestellt, dass er nur noch ein wirklich weißes, sauberes Hemd im Gepäck hatte. Wenn man hier länger ankerte, konnte er die Gelegenheit nutzen, seine Kleidung waschen zu lassen. Er packte die schmutzigen Sachen in eine Extratasche, schulterte diese und ging gegen Abend wieder von Bord. Wohin er sich mit seinem Anliegen wenden sollte, war ihm jedoch noch ein Rätsel.

Er sprach in der Hafenmeisterei deswegen vor. Doch der zuständige Angestellte verstand kaum Englisch und konnte ihm daher nicht weiterhelfen. Arthur bedankte sich trotzdem und stand unschlüssig in Nähe der Quais herum. Erneut nahm er die schwere Reisetasche auf, drehte sich damit um und rempelte versehentlich jemanden an: „Oh, entschuldigen Sie vielmals, Sir. Ich habe Sie wirklich nicht gesehen, als ich mich gerade mit der schweren Tasche umdrehte.“

Er blickte in das gütliche Gesicht eines älteren, weißen Herren, der vornehm gekleidet war.

Dieser verzog seinen Mund zwischen zwei grauen Backenbärten zu einem freundlichen Lächeln und antwortete in gebrochenem, aber relativ gut verständlichen Englisch: „Kein Grund, sich zu entschuldigen. Es ist ja nichts passiert. Sie sehen so aus, als würden Sie etwas suchen. Kann ich Ihnen vielleicht weiterhelfen?“

Arthur war überaus erleichtert: „Danke, das ist sehr freundlich von Ihnen. Ich suche in der Tat eine Einrichtung, wo ich meine Wäsche sauber gewaschen bekomme. Mein Name ist Arthur Clennam, ich bin Passagier auf der Pride of the Seas auf dem Weg von London nach Shanghai.“

„Und ich bin Manoel Campos-Fuentes, der Gouverneur dieses Landes.“

Arthur war sichtlich erstaunt, dass der Gouverneur Seiner Majestät König Johanns VI. von Portugal hier am Hafen herumschlich – andererseits, warum auch nicht?

Senhor Campos-Fuentes machte eine einladende Handbewegung: „Bitte, Mr. Clennam, meine bescheidene Villa ist ganz in der Nähe und meine Dienstboten werden sich gerne um Ihr Wäscheproblem kümmern, das kann ich Ihnen versichern.“

„Ich bitte Sie, Mr. Campos-Fuentes, das ist zuviel des Aufwands. Es reicht mir vollkommen, wenn Sie mir jemanden nennen, der die Sachen am Ufer eines Flusses oder Baches auswaschen kann.“

„Mr. Clennam, die Flüsse Congo und Cuanza sind viele Meilen weit entfernt von hier. Keine falsche Bescheidenheit, ich bitte Sie. Mein Haus steht Ihnen offen und meine Familie wird sich sicher freuen, Ihre Bekanntschaft zu machen. Und nun folgen Sie mir einfach, wie gesagt, es ist nicht weit.“

Arthur war erstaunt, sagte aber nichts mehr und setzte sich in Bewegung, lief mit der schweren Tasche dem Gouverneur immer hinterher.

Nach kurzer Wegstrecke kamen sie an einer Toreinfahrt an, dahinter sah man nur dicht gewachsene Bäume und Büsche. Doch kaum hatten sie die erste Wegbiegung der Hausauffahrt hinter sich gelassen, da tauchte eine traumhafte Villa, fast schon ein kleiner Palast vor ihnen auf.

Das versetzte Arthur noch mehr in Staunen, denn er hatte absolut nicht erwartet, dass ein Gouverneur und Hausherr eines solch imposanten Anwesens ohne Equipage und Kutscher, sondern viel mehr zu Fuß unterwegs in der Stadt gewesen war.

Ein livrierter Diener nahm würdevoll seinen Herrn und dessen Besuch in Empfang.  Senhor Campos-Fuentes wechselte nur wenige leise Worte mit ihm und schon hatte er Arthur sein Gepäck abgenommen.

„Sehen Sie, es wird sich bereits darum gekümmert, keine Sorge. Willkommen im Gouverneurs-Palast von Luanda, Mr. Clennam!“

 

 

Kapitel acht by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Martin Brown – Näheres unter Kapitel vier
Manoel Campos-Fuentes – Näheres unter Kapitel sieben
Donha Maria Campos-Fuentes – die Gattin des Vorgenannten
Rafaela Campos-Fuentes – die Tochter der beiden Vorgenannten

Weiterhin Diener (Boys) des Gouverneurs

Erwähnung findet König George IV. von England

Orte: Im Gouverneurs-Palast von Luanda, an Bord des Klippers Pride of the Seas / Liegeort Luanda in Portugiesisch-Westafrika

Glossar:
Senhor/Senhora/Senhorita – portugiesisch: Herr/Frau/Fräulein (im Spanischen wird es Señor/Señora/Señorita geschrieben)
Kaffer – sehr abwertende Bezeichnung der afrikanischen Bevölkerung (siehe auch Kapitel vier)
 

 

Er wurde kurz herumgeführt, die Bibliothek, der Schreibsalon, das Damenzimmer, dann traten sie hinaus auf eine zauberhaft schöne Terrasse, inmitten von exotischen Gewächsen und Blumen; Pflanzen, die Arthur niemals zuvor gesehen hatte.

„Nehmen Sie doch bitte Platz, ich bin in Kürze wieder bei Ihnen. Möchten Sie eine Erfrischung zu sich nehmen? Dann sage ich dem Personal Bescheid, dass man Ihnen eine kühle Limonade serviert. Oder lieber Tee? Ihr Briten schwört ja auf Tee, nicht wahr?“

Arthur lächelte: „Ja, das tun wir. Aber eine Limonade wäre mir bei diesen Temperaturen ehrlich gesagt lieber, danke.“

„Wunderbar. Wir sehen uns dann gleich wieder.“

Er verschwand und keine fünf Minuten später kam ein Boy und brachte die gewünschte Limonade.

Kaum war dieser weg und hatte Arthur erneut allein zurückgelassen, kam eine Erscheinung durch die Terrassentür geschwebt, die Arthur sofort von seinem Stuhl aufspringen ließ. Artig verbeugte er sich vor der jungen Dame, die ihn abschätzend musterte. Ohne ein Wort zu sagen verließ sie die Terrasse wieder, nur um wenige Augenblicke später mit Senhor Campos-Fuentes und einer deutlich älteren Dame mittleren Alters wiederzukehren.

„Mr. Clennam, erlauben Sie mir, Ihnen meine Frau Donha Maria und meine Tochter Rafaela vorzustellen. Dies, meine Lieben, ist Senhor Clennam aus England, der auf seiner Reise nach China hier Station macht.“

Senhora Campos-Fuentes schien der englischen Sprache nicht mächtig zu sein, deswegen fächelte sie sich nur elegant Luft zu und nickte gnädig mit dem Kopf. Rafaela Campos-Fuentes hatte nach ihrem zweiten Betreten der Terrasse einen zierlichen Sonnenschirm aufgeklappt und knickste nun gegenüber Arthur: „Enchanté, Mr. Clennam.“

Auch ihr Englisch war von einem starken südeuropäischen Akzent durchzogen, genau wie das ihres Vaters.

Arthur war heilfroh, wenigstens zwei Leute gefunden zu haben, die seiner Sprache halbwegs mächtig waren, dass diese auch noch gesellschaftlich so hoch standen, war ein großer Glücksfall.

Er erzählte, dass er auf der Reise zu seinem Vater in der Nähe von Shanghai war, um dort seine Ausbildung zu vollenden, damit er später einmal das alteingesessene Familienunternehmen Clennam & Sons würde weiterführen können. Er berichtete offen, aber mit einer gewissen, ihm eigenen Zurückhaltung; was geschäftliche Dinge betraf, gab er mehr Einblick, in die privaten Belange der Familie Clennam deutlich weniger.

Als Senhor Campos-Fuentes sich eine Zigarre anzündete und Arthur höflich ebenfalls eine reichte, seufzte sein Gastgeber und fragte mit einem Seitenblick auf die beiden Damen: „Nun, da es scheint, dass das Schiff, mit dem Sie reisen, hier noch ein paar Tage liegen wird, wäre es mir und meiner Familie eine große Freude, Sie für übermorgen zum Geburtstagsball meiner Tochter einzuladen. Sie müssen wissen, es mangelt ein klein wenig an tanzbegabten, schneidigen jungen Männern in dieser Kolonie und Sie würden die Ball-Gesellschaft mit Ihrer Anwesenheit erheblich aufwerten.“

Arthur war sichtlich überrascht: „Oh, danke Senhor Campos-Fuentes, aber… ich kann wirklich nicht kommen, ich habe leider keine Ballkleidung mit auf diese Reise genommen, da mir die Wahrscheinlichkeit einer solchen Einladung während einer einfachen Seereise äußerst gering schien. Es tut mir leid, dass ich der Einladung somit kaum werde Folge leisten können.“

„Aber, aber. Diesen Einwand lasse ich nicht gelten. Hier wird sich bis übermorgen auf alle Fälle entsprechende Kleidung auftreiben lassen, es gibt sicher nicht viele europäische Herren in Luanda, die ebenfalls Ihre Größe und Statur haben, aber man wird etwas auftreiben, dessen dürfen Sie gewiss sein. Ich werde sofort veranlassen, dass entsprechende Maßnahmen ergriffen werden.“

Er ließ wirklich keinen Einwand mehr von Arthur gelten und strahlte aus allen Knopflöchern, während er weiterhin genüsslich seine Zigarre rauchte.

Arthur fühlte sich ein klein wenig unbehaglich, vor allem, als der Gouverneur auf Portugiesisch mit seiner Frau und seiner Tochter redete. Er vermutete, dass er Donha Maria über die Einladung in Kenntnis setzte, denn diese unterzog ihn erneut einer strengen Musterung. Dann sagte sie etwas zu ihrem Gatten, der dies Arthur schließlich übersetzte: „Meine Frau sagte gerade, dass sie jemanden wüsste, der Ihnen Abendkleidung zur Verfügung stellen könnte. Notfalls kann man auch daran etwas umändern lassen, das geht schnell. Sie freut sich ebenfalls, wenn Sie am Ball teilnehmen könnten.“

Arthur nickte Donha Maria lächelnd zu, blickte dann zu Rafaela und stellte ihr eine Frage: „Ich hoffe sehr, dass das Arrangement Ihres Vaters Ihren Plänen für den Ballabend nicht zuwiderläuft. Dann würde ich selbstverständlich von der freundlichen Einladung Abstand nehmen, Miss.“

Die Portugiesin blickte weiterhin auf einen unbestimmten Fleck auf dem Terrassenboden und schaute Arthur nicht an, als sie leise antwortete: „Ich… ich verstehe Ihre Sprache nicht so gut. Verzeihen Sie. Aber ich wünsche sehr, dass Sie den Ball besuchen. Danke.“

Er fand ihren Akzent, ihr gebrochenes Englisch unglaublich entzückend, wie er auch ihre ganze Erscheinung als überaus wohltuend empfand. Dass er so eine reizende junge Dame im tiefsten Afrika treffen würde, wer hätte das gedacht.

Sie war ungewöhnlich groß für eine Frau, sehr schlank und zierlich und hatte die dunkelbraunen Haare zwar hochgefasst, aber nicht streng zurückgekämmt, es fielen ihr einige lange Locken aus der Frisur heraus und kringelten sich an ihrem Rücken hinab. Irgendwie hatte sie eine gewisse Ähnlichkeit mit Flora Casby und dann wiederum auch nicht. Arthur musste lächeln. Ganz offensichtlich hatte er eine kleine Schwäche für brünette Frauen.

Obwohl er kein guter und vor allem kein sehr sichererer Tänzer war, begann er sich so langsam mit dem Gedanken anzufreunden auf das Ballereignis zu gehen und sich darauf zu freuen. Ein Tanz mit Senhorita Rafaela würde ihn für allen Ungemach mehrfach entschädigen.

Als er auf das Schiff zurückkehrte, war er aufgedreht und konnte lange nicht einschlafen. Er blickte an die Reling gelehnt lange Zeit auf den nächtlichen Ozean hinaus und sah die Sterne am klaren tropischen Nachthimmel funkeln. Sie waren ja bereits auf der südlichen Hemisphäre angelangt und der Sternenhimmel, der Arthur bekannt war, bot sich ihm hier nicht. Er suchte vergebens nach den bekannten und auch markanten Sternbildern. Er würde sich erneut intensiv mit dem Thema Navigation beschäftigen, das gesamte bereits erworbene Wissen neu aufrollen müssen.

Martin Brown riss erstaunt die Augen auf, als am nächsten Tag ein würdevoller, aber pechschwarzer Dienstbote am Quai danach verlangte, Mr. Clennam im Auftrag des Gouverneurs sprechen zu wollen.

Martin kam atemlos in dessen Kabine geschossen: „Ey, was wird denn hier gespielt? Da unten vor dem Schiff steht ein Kaffer, der tut vornehmer als unser guter König George IV. persönlich und sagt, dass er dich auf Befehl des Gouverneurs aufsuchen muss. Rück sofort mit der Sprache raus, du Geheimniskrämer!“

Arthur wusch sich gerade den letzten Rasierschaum aus dem Gesicht, dann drehte er sich zu Martin um und grinste: „Nichts Besonderes. Ich gehe hier morgen Abend auf einen Ball.“

„Waaas? Wie… wie kommt das denn?“

„Das erzähle ich dir, wenn wir mehr Zeit haben. Ich spreche nun schnell mit diesem Abgesandten des Gouverneurs, falls wir uns überhaupt gegenseitig verständigen können und dann sorgen wir beide für ein anständiges Mittagessen.“

Martin wollte gerade die Kabine verlassen, da rief ihm Arthur hinterher: „Und Martin, ich sagte ‚anständiges Mittagessen’, ja?“

Der Dienstbote aus dem Haus Campos-Fuentes hatte zwei Körbe mit dabei. Im ersten Korb befanden sich Kniehosen, Strümpfe, Hemd, Weste, Krawattentuch und Frack von allerfeinster Qualität, und wenn jemand das beurteilen konnte, dann war es Arthur Clennam von Clennam & Sons. Im zweiten Korb waren drei geschlachtete und gerupfte Hühner, sowie getrocknete Bohnen und recht frisch aussehende Karotten. Das würde doch eine leckere Suppe geben, Arthur freute sich darüber fast mehr als über die Festkleidung.

Da er sich mit dem Neger nicht verständigen konnte, war es ihm auch nicht möglich, sich für die Gaben zu bedanken oder gar Protest über die enorme Großzügigkeit des Gouverneurs zu äußern.

So nahm er die Körbe einfach an sich und strahlte den Schwarzen vor ihm eine Weile an. Dieser strahlte jedoch nicht zurück, sondern verbeugte sich ohne eine Miene zu verziehen und machte sich dann wieder auf den Rückweg.

Arthur brachte die Kleidung schnell in seine Kabine und begab sich dann mit dem Vorratskorb auf zur Kombüse, wo er Martin mit breitem Grinsen triumphierend entgegen trat: „Es wird sogar ganz sicher ein anständiges Mittagessen geben, wage ich zu behaupten!“

 

 

Kapitel neun by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Martin Brown – Näheres unter Kapitel vier

Weiterhin Rafaela Campos-Fuentes und deren Eltern

Erwähnung finden der Boy Rabou sowie der Segelmacher der Pride of the Seas

Orte: In Luanda und an Bord des Klippers Pride of the Seas / Liegeort Luanda in Portugiesisch-Westafrika

Glossar: ./.

 

Er probierte im Verlauf des Tages die Festkleidung an und versuchte, einen Blick von sich in diesem vermaledeiten, halbblinden und viel zu kleinen Spiegel zu erhaschen, was ihm natürlich nicht gelang.

Doch Martin, der da und dort an ihm zupfte, meinte mit angestrengt in Falten gelegter Stirn: „Also Arthur, du siehst schon fantastisch aus. Die Hose ist nicht mehr ganz gemäß der aktuellen Mode, aber ich denke, das fällt hier in Afrika wohl nicht auf. Die Weste ist dir ein wenig zu weit, und der Frack wohl auch. Der Segelmacher könnte dir das abnähen. Wollen wir ihn fragen?“

Arthur schaute Martin voller Entsetzen an: „Wo denkst du hin! Den lasse ich doch nicht an fremder Leute Kleidung rumpfuschen. Besorge mir Nadel und Faden und ich werde selbst nähen.“

„Du kannst nähen?“

„Ich bin kein Schneider, wenn du das meinst, aber in meinem Beruf, wo man täglich Umgang mit Stoffen aller Art hat, sollte man zumindest ein wenig mit Nadel und Faden umgehen können. Besser als der Segelmacher sollte ich es auf alle Fälle können.“

„Ich bin beeindruckt, Arthur, wirklich.“

„Halt keine langen Reden, hol Nähzeug!“

Im Schein der Kerzen nähte er am Abend mühsam die Nähte ein wenig enger und musste zum Schluss zugeben, dass der Segelmacher es sicher auch nicht schlechter gemacht hätte. Er hatte einfach zu große Hände für derart feine Arbeiten. Die Nähnadel zu führen war etwas für jemanden mit zarten, feinen Frauenhänden. Flora hatte oft einen Stickrahmen vor sich gehabt und er hatte ihr gerne dabei zugesehen, wie das filigrane Stickmuster entstanden war. Nun, die Kleidung würde ihren Zweck erfüllen und äußerlich sah man fast nichts, außer ein paar Falten an Stellen, wo der Stoff eigentlich keine Falten schlagen sollte. Es würde hoffentlich niemandem auffallen. 

Er schlief erneut unruhig und träumte davon, dass er beim Tanzen kläglich versagte, den Damen auf die Füße trat, die Reihenfolge der Figuren vertauschte und zu allem Überdruss jeder Anwesende beim Ball über seine stümperhaft abgenähte Kleidung tuschelte.

Mehrmals erwachte er schweißgebadet, etwas, das er seit seinem schweren Hitzschlag öfters nachts hatte. Ausgerechnet in dieser Nacht trat es noch verstärkt zutage. Er würde am nächsten Morgen eine Runde schwimmen gehen müssen, um den Körperschweiß nachhaltig loszuwerden.

Im Dreck des Hafenbeckens wollte er nicht baden, deswegen spazierte er am Morgen ein gutes Stück an den Docks vorbei, ließ die letzten Häuser der Bebauung hinter sich und suchte sich nordwestlich davon eine Stelle, wo Strand war und der Atlantik direkt auf den Sand traf. Luanda hatte einen riesigen Naturhafen, der aber durch vorgelagertes Land eher brackig war und in den durch Form und Größe bedingt nicht genügend Frischwasser eingespült wurde. Auf dieses vorgelagerte Land jenseits des Hafens traf hier nun endlich ungehemmt der Ozean und dies befand Arthur für eine wundervolle Stelle zum Baden. Zwar hatte er nach wie vor Angst vor Haien, aber er würde vorsichtig sein und sich stets nach diesen Biestern umschauen.

Er ließ definitiv sein Leinenhemd dieses Mal an - ein schwerer Sonnenbrand hatte ihm gereicht, er würde nicht noch einmal seine blasse englische Haut und seinen gesamten Körper dieser Tortur aussetzen – als er sich in die Fluten stürzte.

Endlich, endlich konnte er wieder schwimmen. Er hatte sich regelrecht danach gesehnt, hatte das Meerwasser total vermisst. Begeistert ließ er sich von Wellen überrollen und warf sich ihnen entgegen. Mehr als einmal gab er seiner Begeisterung auch durch laute Ausrufe Ausdruck und fühlte sich rundum wohl. Dass keine Haifische zu sehen waren, steigerte sein Glücksgefühl noch um einiges. Leider hatte er nicht viel Zeit, denn er hatte Martin versprochen, sich gemeinsam mit ihm um das Mittagessen zu kümmern, auch wenn dessen Arm inzwischen wieder ganz gut verheilt war. Bis zum nächsten Halt in Südwest-Afrika war bestimmt alles vollständig wiederhergestellt und Martin würde dann die Kombüse wieder voll übernehmen können. Er hatte aber vor, da nach wie vor ein Auge drauf zu haben, vor allem auf die Vorratshaltung und den Speisenplan, denn er wusste, Martin würde dies allein nicht unter einen Hut bekommen.

Rundum zufrieden und erfrischt kehrte er zum Schiff zurück und half Martin sogleich beim Zubereiten des Essens.

Dieser war eher schweigsam und in sich gekehrt, etwas, das Arthur gar nicht von ihm kannte: „Was ist los? Haben die Ratten etwas Wichtiges weggefressen, oder was?“

Martin Brown schüttelte den Kopf und rührte abwesend in einem Topf.

„Was dann? Rück schon raus mit der Sprache. Ist es, weil ich zu lange am Strand gewesen bin? Oder ist es, weil ich heute Abend auf den Ball gehe? Bist du sauer auf mich? “

Ein weiteres Kopfschütteln war die Antwort.

„Herrgott, dann rede doch, Menschenskind!“

Martin blickte Arthur an und antwortete dann lahm: „Kann es nicht sagen. Will dir den Spaß heute Abend nicht verderben.“

„Wie bitte? Na, du bist gut. Jetzt hast du mich erst recht neugierig gemacht. Sag sofort, was los ist, sonst werfe ich dir irgendwas in den Topf hier, was das Essen ungenießbar macht und sage der Mannschaft, du warst es!“

„Arthur, du wirst nicht auf den Ball gehen wollen, wenn du es weißt, und das möchte ich nicht riskieren.“

„Ich werde nicht gehen, wenn ich es nicht weiß, ganz einfach. Und ich werde dem Gouverneur sagen, dass du die Schuld an meinem Nichterscheinen trägst.“

Sein Gegenüber schnaubte und nickte: „Also gut. Du wirst mich hassen dafür, dass ich dir die ganze Sache gründlich verdorben habe. Aber du hast es ja nicht anders gewollt. Ich habe heute einige Leute, Hafenarbeiter und Mitarbeiter der Hafenbehörde vor allem, sagen hören, dass die schöne Miss Campos-Fuentes ein düsteres Geheimnis hütet. Und der Gouverneur und seine Frau natürlich dementsprechend auch.“

„Was faselst du denn da? Drück dich gefälligst etwas deutlicher aus.“

„Wie du meinst. Aber es wird dich schockieren, ganz gewiss. Vor etwas mehr als einem Jahr ist Miss Rafaela von einem jungen Mann attackiert worden. Er wollte sie anscheinend vergewaltigen.“

„Und? Es klingt zwar entsetzlich, das muss ich zugeben, aber völlig geschockt bin ich nicht.“

„Es geht noch weiter, hör zu: Der Mann war Boy im Gouverneurs-Palast und hatte sich in die junge Miss verguckt. Es war ihr nicht ganz verborgen geblieben und sie hat ihn daher schamlos ausgenutzt. ‚Rabou hol mir bitte das, Rabou mache bitte dies…’ und so weiter. Zunächst dachte er wohl, er könnte sich bei ihr beliebt machen, wenn er ihr blindlings Folge leistet, doch irgendwann wurde ihm ihre Rumkommandiererei wohl zuviel und er wollte sich dies nicht länger gefallen lassen. Das wiederum hat ihr dann nicht ins Konzept gepasst und sie haben sich gestritten. Dann muss er ausgerastet sein und ist über sie hergefallen.“

„Ich verstehe.“

„Nein, du verstehst noch gar nichts, leider. Denn nun kommt’s: Miss Rafaela hat sich gewehrt, natürlich, und hat an der Ecke ihres Schreibtisches einen spitzen Brieföffner zu fassen bekommen. Mit diesem Teil hat sie dann Rabou erstochen.“

Arthur wurde bleich und musste sich hinsetzen: „Nein“, hauchte er, „aber… aber das ist in Notwehr gewesen.“

„Das ist richtig. Trotzdem hat sie einen Boy ermordet und die ganze Stadt scheint es zu wissen, auch wenn man krampfhaft versucht hat, die Wahrheit zu vertuschen. Offiziell hieß es, Rabou wäre von einer Raubkatze angefallen worden. Was ja vielleicht nicht einmal völlig gelogen ist. Miss Rafaela Campos-Fuentes muss etwas Raubkatzenartiges an sich gehabt haben. Welchen Eindruck hat sie auf dich gemacht, Arthur?“

Arthur Clennam fuhr sich verwirrt durch die Haare und sah zu Martin auf: „Einen komplett anderen Eindruck. Sie war sehr zurückhaltend, richtiggehend schüchtern und wagte kaum den Blick zu heben, geschweige denn, sich mit mir zu unterhalten.“

„Ja. Es scheint, dass dieses Erlebnis sie komplett verändert hat. Sie muss sehr lebenslustig und aufgeschlossen gewesen sein, kein Kind von Traurigkeit, wenn du verstehst, was ich meine. Und ziemlich herablassend in ihrer Art Untergebenen gegenüber. Noch etwas: Seit diesem Vorfall versucht ihr Vater, sie an jeden halbwegs annehmbaren jungen Mann zu verheiraten, der ihm über den Weg läuft. In der Gesellschaft dieser Kolonie ist das so gut wie unmöglich, denn jeder kennt die Wahrheit, wenngleich auch niemand öffentlich darüber spricht. Alle Heiratskandidaten, die in Portugiesisch-Westafrika in Frage kommen, würden sofort höflich, aber bestimmt einen Rückzieher machen. Auf den Ball gehen, sich auf Kosten des Gouverneurs durchfuttern und durchsaufen, ja, das machen sie, du wirst sehen, aber Rafaela will keiner von denen, so viel ist sicher. Auch wenn dieser Kaffer, dieser Rabou, im Prinzip keinen Pfifferling wert war, außerdem hatte er den Tod schließlich verdient. Miss Rafaela jedoch haftet seit dem Vorfall etwas Unheimliches an. Wahrscheinlich haben alle Angst, sie würden eines Morgens mit einem Messer in der Brust aufwachen – also eigentlich natürlich nicht mehr aufwachen, du weißt schon.“

Nun stand Arthur auf und nickte: „Ich verstehe. Auch wenn ich nicht mag, wie du über einen Neger sprichst. Er ist auch ein Mensch. Aber du meinst… sie haben den Köder nach mir ausgeworfen.“

„Natürlich. Sag mir, wann kommt ein Mann deines Alters, gesund an Leib und Seele, recht gut aussehend, wohl situiert und gebildet, in diesem gottverdammten Land schon vorbei? Nicht einmal alle Schaltjahre! Das ist die Gelegenheit für Campos-Fuentes, seine Tochter an den Mann zu bringen. Und welch ein Glücksfall, dass du auch noch zu ihrem Geburtstag den Weg in dieses Land gefunden hast. Du bist für diese Familie wie der weiße Ritter, der in schimmernder Rüstung am Horizont auftaucht.“

Die Antwort von Arthur klang trotzig, überraschte Martin jedoch fast gar nicht: „Ich werde zum Ball gehen. Trotzdem. Der Gouverneur war sehr freundlich zu mir, auch wenn ich nun den Grund dafür weiß, wieso er mich mit all diesen Nettigkeiten überschüttet hat. Er ist ein verzweifelter Vater, ein Familienoberhaupt, ein Vertreter der portugiesischen Krone, der diesen Makel leider nicht mehr abschütteln kann. Er tut mir leid. Rafaela und Donha Maria natürlich auch. Aber wie kann ich ihnen begegnen, ohne ihnen zu deutlich zu zeigen, dass ich von der Geschichte weiß? Ich möchte sie nicht vor den Kopf stoßen. Und doch werde ich es müssen, wenn man mir vermutlich heute auf dem Ball Rafaela anpreisen und es wirklich darauf anlegen wird, sie an mich zu verkuppeln.“

Arthur war der Verzweiflung nahe, die Situation war äußerst prekär und verfahren. Wie am besten reagieren, wie sich verhalten? Er kam sich vor, als hätte ihn eine Kutsche überrollt.    

Er konnte an nichts anderes mehr denken, als er sich fast wie in Trance für das Ballereignis zurechtmachte.

 

 

Kapitel zehn by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Manoel Campos-Fuentes – Näheres unter Kapitel sieben
Donha Maria Campos-Fuentes – Näheres unter Kapitel acht
Rafaela Campos-Fuentes – Näheres unter Kapitel acht

Weiterhin die feine weiße Gesellschaft Luandas und Diener des Gouverneurs

Erwähnung finden König Johann VI. von Portugal, Kaiser Pedro I. von Brasilien und der Boy Rabou

Orte: Im Gouverneurs-Palast von Luanda in Portugiesisch-Westafrika


Glossar: ./.

 

Er hatte es abgelehnt, mit einer Kutsche abgeholt zu werden und mittlerweile war er ganz froh drum, ein Stück laufen zu können und noch ein wenig seinen Gedanken nachzuhängen, bevor er den Gouverneurs-Palast betrat und der hohen Gesellschaft dieser Kolonie vorgestellt werden würde. Er biss sich unterwegs einige Male auf die Lippen, noch immer nicht schlüssig darüber, wie er dem allem begegnen sollte.

Als er zwei livrierte Neger am Eingang des Portals stehen sah, musste er an den toten Rabou denken, den er zwar nicht gekannt, dessen Schicksal ihn aber den ganzen Tag über doch ziemlich beschäftigt hatte. Er konnte weder diesen Hausboy noch Rafaela wirklich verurteilen. Sie waren beide Opfer unglücklich verketteter Umstände geworden. Oder etwa nicht? 

Dann sah er seinen Gastgeber mit einem strahlenden Lächeln auf ihn zukommen und er verbot sich fürs Erste weiter an die Sache zu denken, auch wenn es ihm sehr schwer fiel.

„Senhor Clennam! Wie schön, Sie hier zu haben! Und wie formidabel Sie aussehen. Ich wusste, dass wir etwas für Sie finden würden und Ihnen das wunderbar stehen würde. Kommen Sie mit, meine Frau und meine Tochter warten bereits auf Sie.“

Arthur sagte nichts und setzte ein unverbindliches Lächeln auf. Er fühlte sich furchtbar unwohl und konnte sich einfach nicht entspannen.

Als er Rafaela sah, musste er tief Luft holen. Bei Gott, sie sah fantastisch aus und wenn… wenn er nicht wüsste, was dahinter steckte, hätte er sich auf der Stelle unsterblich in sie verliebt. Er hatte große Mühe, das Gefühlschaos in ihm zu ordnen.

Er wusste, ihr strahlend-weißes Ballkleid sollte diesen Makel, der ihr anhaftete,  reinwaschen. Ein in seinen Augen – und sicher auch in den Augen der Gesellschaft Luandas – misslungener Versuch, Rafaela als Unschuld darzustellen. Aber es war wohl üblich, junge, unverheiratete Damen auf einem Ball in Weiß zu kleiden und deswegen insofern nicht verwerflich. Sie war ja schließlich jung und unverheiratet. Und – eine Mörderin!

Mein Gott, Arthur, reiß dich zusammen! Er musste sich selbst zur Ordnung rufen. Unruhig trat er von einem Bein auf das andere, während ihm Gouverneur Campos-Fuentes einige wichtige Persönlichkeiten der Kolonie vorstellte.

Dann begann der Tanz. Senhor Campos-Fuentes selbst führte seine Tochter auf das Parkett und tanzte den ersten Tanz mit ihr. Donha Maria stand am Rand der Tanzfläche und verbarg ihr Gesicht fast ständig zur Hälfte hinter einem Fächer. Er würde um einen Pflichttanz mit der Gastgeberin nicht herumkommen, das war ihm klar. Aber erst später. Er wollte überhaupt so wenig wie möglich tanzen, da es ihm nicht sonderlich lag.

Nachdem der erste Tanz fertig war, führte der Gouverneur seine Tochter direkt zu Arthur, es war keine Frage, in welcher Absicht dies geschah. Arthur biss sich kurz zweifelnd auf die Lippe, dann verbeugte er sich artig und fragte mit halblauter Stimme: „Senhorita Rafaela, ich wäre sehr erfreut, wenn Sie den nächsten Tanz mir schenken würden.“

Sie fächelte sich kurz Luft zu und knickste dann: „Gerne, Senhor Clennam.“

Mehr sagte sie nicht. Dann nippte sie an dem Champagner-Glas, das ihr Vater ihr gereicht und ihr dabei verschwörerisch zugezwinkert hatte. Die ersten Paare stellten sich auf der Tanzfläche auf und Arthur verbeugte sich erneut, wenn auch dieses Mal etwas knapper und reichte Rafaela seinen Arm. Sie legte ihre Hand sehr leicht auf und ließ sich von ihm aufs Parkett führen. Sie war froh, dass sie nicht mitten im Saal standen, sondern eher zu einer Stirnseite gerückt mit dem Tanz begannen. Es war ihr unangenehm, von allen begafft zu werden, denn sie wusste ohnehin, dass das Getuschel nun unmittelbar einsetzen würde. Alle würden sofort wissen, auf was es hinauslaufen würde mit Senhor Clennam. Und es tat ihr leid, dass er der Einzige im Saal war, der es nicht wusste.

Doch bereits während der ersten Tanzfiguren erkannte sie, dass sie Unrecht hatte. Es wollte einfach keine Konversation mit ihm aufkommen. Zuerst dachte sie, es wäre wegen der Sprachbarriere, doch sie merkte, dass seine Hände mindestens genauso zitterten wie ihre und das machte sie stutzig.

Der Tanz kam ihnen beiden endlos vor und als er sich dem Ende neigte, raunte sie ihm zu: „Sie wissen es, nicht wahr?“

Er lief feuerrot an und neigte nur kurz, fast unmerklich den Kopf. Er wollte sie keinesfalls anlügen. Aber es hätte dieser bestätigenden Bewegung von ihm nicht bedurft, denn seine Augen sprachen nun Bände und konnten die Wahrheit nicht mehr verbergen.

Rafaela traten die Tränen in die Augen und Arthur führte sie sofort weg von der Versammlung: „Kommen Sie, wir gehen hinaus an die Luft.“

„Danke, Senhor.“ Mehr zu sagen war sie nicht imstande.

Er reichte ihr ein Taschentuch, mit dem sie sich im Garten der Residenz die Augen abtupfte.

„Was soll ich nur tun? Ich bin ruiniert“, klagte sie weinend.

Er holte tief Luft: „Ich sage es nur ungern – ja, das sind Sie. Aber… sch, nicht weinen… nur hier in diesem Land. Sehen Sie zu, dass Sie Ihren Vater dazu bewegen, seinen Posten hier aufzugeben und bitten Sie Ihren König in Portugal, ihm neue Aufgaben zuzuweisen. Wenn er klug ist, fängt er vielleicht in Brasilien ein neues Leben mit Ihnen und Ihrer werten Frau Mama an. Ich weiß, dass Brasilien keine portugiesische Kolonie mehr ist, aber der Einfluss ist noch immer da. König Johann kann bei Kaiser Pedro intervenieren. Und vor allem ist es weit genug weg von Afrika und von alldem, was hier geschehen ist.“

„Sie meinen doch nicht ernsthaft, dass man vor seinen Problemen davonlaufen kann. Gerne würde ich das glauben, doch so naiv bin ich nicht.“

„Sie haben Recht, Senhorita Rafaela. Man kann vor seinen Problemen nicht weglaufen. Aber man kann sie verblassen lassen. Man kann dorthin gehen, wo diese Probleme keine große Relevanz mehr haben. Wo keiner weiß, mit welchen Belastungen Sie zu kämpfen hatten. Wo Sie sich freier und unbekümmerter in der Gesellschaft bewegen können. Wo Sie nicht auf Schritt und Tritt mit der Vergangenheit konfrontiert werden.“

Seine ruhigen Worte führten nur dazu, dass Rafaela noch mehr schluchzte: „Ich werde niemals einen Mann wie Sie finden. So nett und verständnisvoll und… und… es steht mir nicht zu, dies zu sagen, aber ich tue es dennoch, ich habe nichts mehr zu verlieren – der so attraktiv ist wie Sie. Wenn Sie ohnehin alles wissen, dann… dann könnten Sie mich doch auch heiraten und mich mit nach China nehmen. Aber… aber Sie hassen mich sicher, hassen mich für das, was ich getan habe. Und das bricht mir erst recht das Herz. Ich werde als alte Jungfer enden.“

Es war schwer, hierauf eine passende Antwort zu finden, ohne allzu abweisend zu klingen: „Sie sind eine sehr schöne Frau, Senhorita Rafaela. Es schmerzt mich, Sie so aufgelöst zu sehen, bitte fassen Sie sich doch. Aber um eine Ehe in Betracht zu ziehen, kennen wir uns viel zu wenig und die Grundlage, dass ich Sie zu meiner Frau mache, nur weil der gesellschaftliche Druck so groß hier ist, und nur, um Ihren verehrten Eltern einen Gefallen zu tun, diese Grundlage wäre dann doch zu gering für eine dauerhafte und erfolgreiche Ehe, oder etwa nicht? Dazu kommt noch, dass ich nicht einmal selbst weiß, was mich in China erwartet und ich würde es einer Frau an meiner Seite auch wirklich nicht zumuten wollen.“

„Das ist sehr rücksichtsvoll von Ihnen, aber nur ein schwacher Trost. Denn Sie trauen sich nur nicht, mir die Wahrheit ins Gesicht zu sagen, nämlich, dass Sie niemals eine Mörderin heiraten würden. Keiner wird mich jemals zur Frau nehmen, nicht, weil Rabous Blut an meinen Händen klebt, sie hätten ihn ohnehin für das, was er versucht hatte mir anzutun totgeschlagen, aber jeder hat nun Angst, dass ich wieder Mordgelüste verspüre, wenn mir etwas nicht passt. Jeder glaubt, ich wäre launisch und unberechenbar.“

Arthur spürte ihre Verzweiflung, vor allem hatte sie es sehr schwer, dies alles auf Englisch auszudrücken, weswegen ihren Ausführungen nicht leicht zu folgen war, doch er konnte nicht wirklich etwas tun. So nahm er ihre Hand auf, drückte einen Kuss darauf und erwiderte: „Glauben Sie mir, wir würden nicht glücklich miteinander werden und das hat nichts, rein gar nichts mit diesem unglückseligen Mord zu tun. Nehmen Sie meinen Rat an und verlassen Sie Luanda und diese Kolonie so rasch wie möglich. Reisen Sie mit Ihren Eltern so weit weg wie es nur irgend geht und bauen Sie sich dort eine neue Existenz auf.“

„Es wird für mich nicht China sein?“

Arthur schüttelte leicht den Kopf: „Es wird für Sie nicht China sein. Brasilien wäre das Beste.“

Es herrschte einen Augenblick Schweigen, dann schniefte sie noch ein letztes Mal und drückte dann seine Hand: „Ja. Sie haben Recht. Ich weiß, dass Sie Recht haben. Ich werde mit Papa sprechen. Gleich morgen. Werden Sie kommen, mich zu unterstützen?“

„Selbstverständlich.“

„Danke.“ Sie stellte sich, trotz dass sie recht groß für eine Frau war, auf die Zehenspitzen ihrer Slipper und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Dann raffte sie ihren Rock und hastete davon.

Arthur blieb einen Moment alleine im Garten und ging dann langsam zur Gesellschaft zurück. Es galt, sich dem Gouverneur und Donha Maria zu stellen und sie mit den Tatsachen zu konfrontieren. Nach der Offenlegung der Dinge war dies nun unvermeidlich.

Er kam in den Saal zurück und merkte sofort, dass Senhor Campos-Fuentes ihn in seinen Blick fasste. Arthur spürte instinktiv, dass der Gouverneur wusste, dass er es wusste.

 
Kapitel elf by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Manoel Campos-Fuentes – Näheres unter Kapitel sieben
Martin Brown – Näheres unter Kapitel vier
Rafaela Campos-Fuentes – Näheres unter Kapitel acht

Weiterhin Donha Maria, Kapitän, Offiziere und Besatzung der Pride of the Seas

Orte: An Bord des Klippers Pride of the Seas / Liegeort Luanda in Portugiesisch-Westafrika, im Gouverneurs-Palast von Luanda

Glossar:
Boa Noite - portugiesisch: Gute Nacht!
Bom dia – portugiesisch: Guten Tag!
Obrigado – portugiesisch: Danke!
Até a vista – Auf Wiedersehen! (vgl. spanisch: Hasta la vista)
 

 

„Ich hätte wissen müssen, dass man einem Mann wie Ihnen nicht lange etwas vormachen kann, Senhor Clennam.“

Sie standen beide auf der Terrasse des Hauses und rauchten gemeinsam Zigarre.

„Sie haben mir nichts vorgemacht, Sir.“

„Sie sind sehr großzügig und nachsichtig in Ihren Ansichten.“

„Ich bin einfach nur ein Mann, der mit der Zeit geht und Erfahrungen, seien sie nun angenehm oder unangenehm, nicht aus dem Weg geht und aus diesen zu lernen versucht.“

„Sie sind ein bemerkenswerter junger Mann. Und der größte Fehler von mir war, Sie zu unterschätzen. Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen das alles zugemutet habe. Ich versuche auch erst gar nicht, es zu rechtfertigen.“

„Dann lassen Sie mich das an Ihrer Stelle tun, Gouverneur. Es war Ihr gutes Recht, es zu versuchen. Sie haben eine Chance gewittert und das kann Ihnen keiner verübeln. Nur wäre es vielleicht besser gewesen, es von vorneherein mit Ehrlichkeit zu versuchen. Obwohl ich sicher bin, dass Sie vorhatten, mir in Kürze reinen Wein einzuschenken. Ich glaube an das Gute.“

Der Gouverneur war sichtlich beeindruckt: „Ein Jammer, dass Sie als Schwiegersohn für mich verloren sind. Einen besseren Mann kann ich mir für meine Tochter nicht vorstellen.“

„Haben Sie Geduld. Es werden bessere Zeiten kommen. Ihre Tochter möchte morgen gerne mit Ihnen sprechen und wenn es erlaubt ist, würde ich Rafaela gerne in ihrem Anliegen unterstützen.“

Ein Fünkchen Hoffnung glomm in Senhor Campos-Fuentes’ Augen auf, dass Arthur leider gleich im Keim ersticken musste: „Eine andere Lösung, Senhor. Es liegt nicht alles Glück in einer halb erzwungenen Ehe. Wenn es Recht ist, spreche ich morgen Nachmittag bei Ihnen wieder vor. Und nun – Boa Noite, Senhor Campos-Fuentes. Vielen Dank für die Einladung. Entbieten Sie bitte Donha Maria meine ergebensten Grüße. Auf morgen dann, Sir.“

Es war Arthur klar, dass Martin noch wach sein und auf ihn warten würde. Er war viel zu neugierig auf seinen Bericht, als dass er ins Bett hätte gehen können. Und so war es auch, mit einer Lampe in der Hand erwartete er ihn gleich an der Reling: „Und?“

Arthur seufzte: „Frag lieber nicht. Ich hoffe, dass ich mich tapfer geschlagen habe. Ganz sicher bin ich mir jedoch nicht.“

Und dann erzählte er vom Ballabend in der Gouverneurs-Residenz. Martin bekam immer größere Augen und wagte kaum Zwischenfragen zu stellen, so tief tauchte er in Arthurs Bericht ein. Erst als dieser geendet hatte, meinte Martin: „Uff! Ich finde, das hast du großartig hingekriegt. Du bist ja ein richtiger Diplomat, Glückwunsch.“

„Ich für meinen Teil bin mir da nicht so sicher.“

„Doch, doch. Du hast dich goldrichtig verhalten und die perfekte Lösung für Familie Campos-Fuentes gefunden. Der alte Herr wird dir einen Orden dafür verleihen.“

„Übertreib nicht schamlos, Martin. Und nun lass uns zu Bett gehen, die Sonne wird bald aufgehen, schätze ich und damit ein neuer, arbeitsreicher Tag anbrechen. Gute Nacht.“

„Klar. Gute Nacht, Arthur.“

Er war kaum überrascht, dass am nächsten Tag eine Ladung der nicht verwendeten oder noch sehr gut weiter verwertbaren Lebensmittel vom Ballabend am Schiff eintraf. Es würde nur wenig davon zu bevorraten sein, die meisten dieser Sachen würden Martin und er gleich ins Essen verarbeiten müssen. Was aber tun mit rohem Schinken, Früchten, Gemüse und anderen Leckereien? Arthur sah durch seine Vorratslisten und nahm die Neuzugänge an Lebensmitteln auf, zumindest das, was länger lagerbar war. Dann entschied er, dass es massig Rührei mit Schinken und dazu ein wenig gebratenes Gemüse geben würde. Das war einfach und schnell zuzubereiten und nichts würde verderben.

Die Früchte versuchte er zu lagern, nur die Mangos waren schon sehr weich und würden sofort verspeist werden müssen.

Während Martin mit dem Schinken, dem restlichen Gemüse und den Eiern kaum etwas falsch machen konnte, dachte Arthur darüber nach, wie er die Mangos erfolgreich servieren könnte. Einfach nur häuten und klein schneiden war ja langweilig. Das Obst war unerlässlich zu Vitaminversorgung und daher absolut notwendig auf einer langen Seereise.

Er schälte die Früchte, trennte das Fruchtfleisch vom Kern und würfelte dieses. Dann warf er Martin einen fragenden Blick zu. Dieser zuckte ratlos mit den Schultern und widmete sich dem Aufschlagen der Eier.

Arthur griff sich eine der Pfannen, bevor Martin sie in Beschlag nehmen konnte, und setzte sie auf den Herd. Dann schüttete er ohne groß zu überlegen eine Riesenschaufel Zucker hinein und ließ diesen leicht karamellisieren. Mit zufriedener Miene warf er die Mangostückchen dazu und schwenkte alles zusammen ordentlich durch.

„Fertig!“

Martin kam mit einem Löffel und probierte: „Sensationell! Du bist sehr kreativ.“

„Nein, es war nur eine blöde Idee, die sich zufällig als goldrichtig erwiesen hat.“

Die Mannschaft dachte, es müsste mindestens Weihnachten sein, doch dem war nicht so. Es war ein Schmaus, wie ihn Besatzung und Passagiere schon lange nicht mehr gegessen hatten.

Der Kapitän selbst sagte zwar nichts, aber das war ein wesentlich besseres Zeichen, als wenn er sich zu Wort gemeldet hätte. Er saß wie alle anderen pappsatt und äußerst zufrieden länger am Tisch als beabsichtigt. Endlich löste er die Messe auf und rief alle energisch zurück an die Arbeit.

Nachdem das Geschirr gespült und die Kombüse einigermaßen aufgeräumt war, zog Arthur sich um und machte sich auf den Weg zum Gouverneurs-Palast. Er hatte es Rafaela versprochen und auch der Gouverneur erwartete ihn.

Er wurde dieses Mal nicht auf die Terrasse, sondern in die Bibliothek geführt. Dort deutete Senhor Campos-Fuentes nach der Begrüßung zuerst auf einen Wäschekorb: „Senhor Clennam, hier ist Ihre Wäsche gewaschen zurück. Ich lasse sie nachher zum Schiff bringen; wenn Sie wollen, können Sie gerne in der Kutsche mitfahren. Und nun werde ich meine Tochter holen lassen, ich schätze, sie wird bereits ungeduldig warten.“

Keine zwei Minuten später war Rafaela da. Sie war sehr bleich, aber gefasst und lächelte Arthur zaghaft zu: „Bom dia, Senhor Clennam.“

„Bom dia, Senhorita Rafaela. Es geht Ihnen hoffentlich gut?“

„Einigermaßen ja, danke.“

„Senhor Campos-Fuentes, gestern während des Balles hatte ich Gelegenheit, mich länger und ausführlicher mit Ihrer Tochter zu unterhalten. Ich habe ihr angesichts gewisser Ereignisse geraten, mit Ihnen über eine Umsiedlung nach Brasilien zu sprechen. Und so denke ich, wird Ihre Tochter Ihnen nun auch gerne diesen Vorschlag unterbreiten. Ich bin nur zu ihrer moralischen Unterstützung hier, mehr nicht. Bitte, Senhorita.“

Rafaela setzte sich und schaute von einem Mann zum anderen: „Obrigado, Senhor Clennam. Wenn Sie gestatten, spreche ich mit meinem Vater in unserer Sprache, das fällt mir leichter.“

Dann kam ein Schwall portugiesischer Worte aus Rafaelas Mund.

Arthur wartete geduldig, bis Rafaela geendet hatte, einige wenige Male hatte er seinen eigenen Namen dem Portugiesisch von Rafaela entnehmen können, ansonsten hatte er natürlich kein einziges Wort davon verstanden.

Der Gouverneur nickte leicht mit dem Kopf und antwortete seiner Tochter, zunächst ebenfalls auf Portugiesisch. Dann wandte er sich Arthur zu: „Ich dachte mir schon, dass es darauf hinauslaufen würde. Um ehrlich zu sein, überlegen meine Frau und ich schon seit Monaten das Gleiche. Aber es ist nicht einfach, sich von einem Land zu trennen, das man zum Teil mit aufgebaut und mitgeprägt hat. Rafaela kennt Portugal selbst kaum, sie hat den größten und längsten Teil ihres Lebens hier in Afrika verbracht. Aber ich weiß, dass Sie Recht haben, Mr. Clennam, Sie und meine Tochter. Es wird uns nichts anderes übrig bleiben. Sie hat im Prinzip nichts Verwerfliches getan, sie hat einen Hausboy in Notwehr niedergestochen, er wäre ohnehin nicht weiter als bis zum Ausgang gekommen, spätestens dort hätte ihn der Tod anderweitig ereilt. Das ist es auch nicht, was die Leute so distanziert ihr gegenüber sein lässt, es ist eher…“, er hielt inne, weil Arthur ihm die Hand auf die Schulter gelegt hatte und den Satz für ihn vollendete: „Es ist eher, weil eine junge Lady in der Position von Senhorita Rafaela nicht selbst Hand anlegen sollte, sich nicht zu einem Mord, oder wie Sie es sicher benennen würden, zu einer Hinrichtung herablassen sollte. Sie hat nur keine Aussicht auf einen passenden Heiratskandidaten, weil sie so furchtbar aus ihrer Rolle als wohlerzogene, zurückhaltenden junge Lady gefallen ist und nun jeder befürchtet, sie könnte irgendwann wieder das Messer zücken, nicht wahr?“

Der Gouverneur nickte betrübt: „Ich bewundere Ihren Sinn für Verständnis und Takt. Niemals zuvor, außer mit einem sehr guten Freund von mir, habe ich mit jemanden derart offen über die Angelegenheit sprechen können. Das unheilvolle Ereignis wurde unter den Teppich gekehrt, was falsch gewesen ist, das sehe ich nun ein. Dadurch verschwand das Problem nämlich nicht, sondern hatte Zeit, zu schwären und zu gären und umso hässlicher wieder zu Tage zu treten. Sobald ich meine Frau dazu bewegen kann von hier wegzugehen, werden wir die Rückreise nach Portugal antreten. Und dort sehen wir weiter, vielleicht müssen wir ja gar nicht bis nach Brasilien.“

„Ein vernünftige Entscheidung, Senhor. Ich denke, es ist im Interesse aller Beteiligten und vor allem im Interesse der Zukunft Ihrer Tochter. Übrigens sind die Reparaturen an der Pride of the Seas fast abgeschlossen, ich denke, dass wir spätestens übermorgen auslaufen werden.“

„Wie bedauerlich für uns und wie schön für Sie, dass Ihre Reise nun endlich weitergehen kann. Wo werden Sie als nächstes anlegen? Südwest-Afrika?“

„So weit ich informiert bin ja, in Walfish Bay.“

„Angeblich ein Drecksnest, aber das werden Sie dann ja selbst sehen. Wir werden gerne kommen und Sie am Quai verabschieden übermorgen.“

„Wie überaus freundlich von Ihnen, danke. Und nun – klemme ich mir meine Wäsche unter den Arm, worüber ich Ihnen sehr zu Dank verpflichtet bin und kehre zum Schiff zurück.“

„Ich lasse die Kutsche vorfahren, Senhor Clennam.“

„Sehr freundlich, dann kann ich dem Kutscher die mir ausgeliehene Kleidung vom Ball mitgeben, damit diese zu Ihnen zurückkommt. Auf Wiedersehen, Senhor, Senhorita.“

„Até a vista, Senhor Clennam.”

 

 

 

Kapitel zwölf by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Manoel Campos-Fuentes – Näheres unter Kapitel sieben
Rafaela Campos-Fuentes – Näheres unter Kapitel acht
Martin Brown – Näheres unter Kapitel vier

Weiterhin Passagiere, Kapitän, Offiziere und Besatzung der Pride of the Seas, holländische Händler

Erwähnung finden Lord Charles Henry Somerset, Gouverneur der Kapkolonie (real existierende Person damals dort!), König George VI. von England, Elizabeth I. von England und Sir Francis Drake.

Orte: In Luanda, auf hoher See im Atlantik an Bord des Klippers Pride of the Seas zwischen Luanda und Walfish Bay in Südwest-Afrika (heute Namibia), in Walfish Bay, auf hoher See im Atlantik an Bord des Klippers Pride of the Seas zwischen Walfish Bay, Saldanha und Malinesburg (im heutigen Südafrika) und in Kapstadt in der Kapkolonie (heute Südafrika)

Glossar:
Minheer – niederländisch: Anrede – Herr, mein Herr!
Kan ik u helpen – niederländisch: Kann ich Ihnen helfen?
Bedankt – niederländisch: Danke!
 

 

Die Regenzeit begann genau am Abreisetag. Es war nun Mitte November und der Monsun setzte ein, sehr heftig und stark. So waren zwar der Gouverneur und seine Tochter an den Quai gekommen, um Arthur mit der Pride of the Seas zu verabschieden, doch aus der Kutsche aussteigen konnten sie wegen des Platzregens leider nicht.  

So stand Arthur unter einem Regenschirm am Kutschen-Fenster und sagte Auf Wiedersehen.

„Wir danken Ihnen, Senhor Clennam für die nette Abwechslung, die uns Ihr kurzer Aufenthalt gebracht hat und für Ihren Rat und Ihr Verständnis. Es war uns ein großes Vergnügen und eine Ehre, Ihre Bekanntschaft machen zu dürfen. Wir wünschen eine gute und gesunde Weiterreise. Até a vista! Alles Gute und viel Glück!“

„Auch ich danke. Vor allem für die netten Wünsche, aber auch für Ihr freundliches Entgegenkommen mir gegenüber hier in Luanda. Ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie nur das Beste. Es ist sehr nett, dass Sie bei diesem schrecklichen Wetter zum Hafen gekommen sind, um mich zu verabschieden. Good-bye und passen Sie auf sich auf, ja?“

Er küsste Senhorita Campos-Fuentes die behandschuhte Hand, sah die Tränen in ihren Augen und schaute mit einem verlegenen Lächeln schnell weg. Dann schüttelte er die Hand des Gouverneurs fest zum Abschied, reichte dem Lakaien den Regenschirm, winkte und spurtete im strömenden Regen zum Schiff.

Zehn Minuten später waren die Leinen losgemacht und die Pride of the Seas glitt durch den riesigen Naturhafen von Luanda in Richtung Atlantik.

Auf dem offenen Meer machten sie gute Fahrt, so dass laut Aussage des Ersten Offiziers ein Liegetag bereits wieder gut gemacht werden konnte.

Als man die tropischen Breiten langsam verließ und sich den subtropischen Gegenden der südlichen Halbkugel näherte, merkte man nicht sehr viel davon, da dort nun Sommer war und es eigentlich klimatisch kaum eine große Veränderung zu den äquatorial-afrikanischen Staaten gab, abgesehen davon, dass die Luftfeuchtigkeit nicht so hoch war und man mehr eine trockene Wärme verspürte.

Senhor Campos-Fuentes hatte den kleinen Ort Walfish-Bay in Südwest-Afrika zu Recht als Drecksnest bezeichnet, es gab dort kaum etwas, was einen ausführlichen Landgang lohnen würde. Außer der Tatsache, dass es eine von britischen Missionaren geführte Missionsstation hier gab, war es ein gottverlassener Landstrich, da zu dieser Jahreszeit natürlich keine Walfänger unterwegs waren. Den Walen war es nun im Sommer viel zu warm in dieser Gegend.

Daher hielt man sich auch nicht lange in Südwest-Afrika auf, es reichte Arthur gerade für ein Bad im Meer, dann nahmen sie noch äußerst bescheidene Vorräte an Bord und segelten dem Kap der Guten Hoffnung entgegen.

Obwohl der Kapitän sagte, dass die Umfahrung im Sommer nur selten Probleme mit sich bringe, gerieten sie in einen Gewittersturm zwischen Saldanha und Malinesburg. Normalerweise hätte man den geschützten Hafen von Saldanha anlaufen können, doch dafür hätte man ein Stück retour segeln müssen und das war vor allem zeitlich nicht machbar. So versuchte man, dem Sturm so gut es ging zu trotzen.

Arthur ging es gewaltig gegen den Strich, dass er wiederum den rauen Seegang nicht vertrug und die meiste Zeit – sofern es wegen des Sturms möglich war – über der Reling hing und die Fische fütterte. Er ärgerte sich mehr über sich selbst und seine Empfindlichkeit, als über das schlechte Wetter. Er hatte gedacht, dass er auf der langen Reise die Seekrankheit endgültig überwunden hätte, aber seit dem großen ersten Sturm zwischen Spanien und Marokko waren sie in kein allzu schlimmes Wetter mehr geraten, das war nun die erste Bewährungsprobe seitdem und wieder spielte sein Magen, sein ganzer Körper nicht mit.

Nach etwas mehr als einem kompletten Tag ließ das Tosen endlich nach und Arthur sank kraftlos an Deck zusammen. Er kauerte in einer Ecke und schämte sich zu Tode. Noch immer schlingerte das Schiff nicht unerheblich, doch es war erträglich gegenüber dem, was er in den letzten zwanzig oder mehr Stunden erlitten hatte.

Sie erreichten die Kapkolonie und Kapstadt einen Tag darauf, auch wenn Arthur sich bereits besser fühlte, hatte er zunächst keinen Blick für die wunderbare landschaftliche Kulisse, als die Pride of the Seas sich vor dem Tafelberg entlang schob und schließlich in der Tafelbucht den Anker warf.  

Die Kapkolonie war noch nicht sehr lange im Besitz der Engländer, sie wurde erst im August 1814 zur Kronkolonie ernannt, nachdem man das Land von den Niederländern im Jahr 1806 erkämpft hatte. Der damalige Außenposten der Niederländischen Ostindien-Kompanie war leicht zu erobern gewesen, da die Holländer ihre Handelsgesellschaft hatten bankrott gehen lassen.

Derzeit war Gouverneur Lord Charles Henry Somerset der Vertreter der britischen Krone im Kap der Guten Hoffnung.

Arthur ließ sich auf die Planken eines Anlegers am Hafen fallen und atmete auf: Fester Boden unter den Füßen! Und endlich wieder eine Kolonie, in der man seine Muttersprache sprach!

Nachdem er eine ganze Weile träge in der Sonne gelegen hatte, stand er auf und machte einen Rundgang. Doch das, was er hörte, war ziemlich weit entfernt von Englisch.

„Minheer, kan ik u helpen?“

Arthur zuckte völlig irritiert mit den Schultern und hastete weiter. Bei Gott, die sprachen ja alle noch Niederländisch, das war ja nicht zum Aushalten! Er hatte immer gedacht, die kolonialen Bestrebungen Englands wären von großem Erfolg gekrönt gewesen, aber die wenigsten Länder, die er nun kannte und besucht hatte, waren englisches Territorium gewesen. Franzosen, Niederländer und vor allem Portugiesen, die hatten sich wohl Afrika untereinander aufgeteilt. Englische Kolonien gab es nur erschreckend wenig.

Arthur war zu Hause ein gänzlich anderes Bild seines Landes, und dessen Bestrebungen, Außenposten, Dependancen und Niederlassungen in aller Welt zu eröffnen und damit das Weltreich und den Einfluss- oder Machtbereich auszudehnen, vermittelt worden. England sei eine Weltmacht, hatte man ihm immer erklärt. Dass die Realität längst nicht so rosig aussah, wurde ihm nun langsam klar.

Allerdings war König George IV. auch nicht gerade ein Herrscher, der dies mit aller Konsequenz und Nachhaltigkeit betrieben hätte. Er liebte das bequeme Leben und überließ derlei Dinge lieber den Handels-Kompanien und dem Außen- und Handelsministerium. Wenn das britische Weltreich untergehen würde, dann war dieser König mit seiner Prunk- und Verschwendungssucht maßgeblich daran beteiligt, so viel dürfte feststehen.

Was Sir Francis Drake unter Elizabeth I. alles zusammengetragen hatte, würde George IV. vermutlich in einer Nacht verspielen, wenn er denn tatsächlich könnte.  

Arthur war froh, als er mit Martin Brown zusammentraf. Dieser hatte gerade Fisch bei einem Händler gekauft und rief dem Mann nun ein fröhliches: „Bedankt, Minheer“ zu.

„Na, hast du wieder ein wenig Appetit, Arthur? Wollen wir uns den Fisch irgendwo am Lagerfeuer braten?“

„Nett, dass du mich auf so einfühlsame Art und Weise an mein Elend der vergangenen Tage erinnerst. Ich hatte gerade vergessen, wie schlecht mir gewesen war.“

„Ach komm, du musst was essen. Der Fisch ist gut.“

„Wenn ich daran denke, dass wir erst knapp die Hälfte der Reise hinter uns haben, lässt mich das hochrechnen, dass ich noch mindestens zwei weitere Stürme auf See zu überstehen haben werde. Das sind keine sonderlich ermutigenden Aussichten für mein Dafürhalten. Und ich habe gehört, diese Orkane im Chinesischen Meer seien fürchterlich.“

„Taifune. Ja, das sind sie.“

„Danke, ich glaube, mir ist der Appetit total vergangen. Sei mir nicht böse, aber ich laufe lieber noch ein wenig durch die Stadt und genieße den Landgang. Wasser habe ich noch lange genug um mich herum in den nächsten Wochen und Monaten.“

„Ganz wie du meinst. Aber du wirst es bereuen, nichts Anständiges im Magen zu haben, ganz gewiss!“

Doch Arthur Clennam hatte sich bereits umgedreht und war weitergelaufen. Er hörte Martin nicht mehr. Dieser seufzte, nahm seine Fische und ging zurück zum Schiff. Sollte der sture Kerl doch machen, was er wollte. Vielleicht würde er in einer Spelunke am Hafen etwas zu essen bekommen. Aber das würde ihm vermutlich nicht so gut munden, wie ein frisch über dem Feuer gebratener Fisch. Nun ja, seine Sache. Er würde es schon noch merken. Kapstadt war nicht gerade für höchste kulinarische Genüsse bekannt. Die Holländer hatten viel verbrannte Erde und eine zutiefst verunsicherte Bevölkerung, zusammengewürfelt aus allen möglichen Nationalitäten und Schichten, zurückgelassen. Die Engländer hatten große Mühe, so etwas wie Struktur und Organisation in die Kapkolonie zu bringen. Wahrlich kein leichtes Unterfangen.

 

 

 

Kapitel dreizehn by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Martin Brown – Näheres unter Kapitel vier

Weiterhin eine holländische Schankmagd

Erwähnung findet Mrs. Clennam

Orte: In einer Hafenschänke in Kapstadt, in einem Gästezimmer dieser Schänke, an Bord des Klippers Pride of the Seas / Liegeort Kapstadt in der Kapkolonie

Glossar:
Proost – niederländisch: Prost!
Genever – ein meist klarer Schnaps, gebrannt aus Roggen, Gerste, Mais, ähnlich dem Gin
Mijn forse Held – niederländisch: Mein starker Held
Je bent so snoezig – niederländisch: Du bist so süß/niedlich
Ui, wat een guy – niederländisch: Ui, was für ein Kerl
Ik ben blij verrast – niederländisch: Ich bin angenehm überrascht
Moet u al gaan – niederländisch: Musst du schon gehen?
De andere kleding van jou – niederländisch: Die andere Kleidung von dir
Meisje – niederländisch: Mädchen, junge Frau
 

 

Wie lange Arthur in Kapstadt, in dieser Ansammlung von Nationalitäten, und demzufolge einer fast babylonischen Sprachverwirrung, herumgelaufen war, wusste er nicht mehr zu sagen. Jedenfalls knurrte irgendwann gegen Abend dann doch sein Magen und er entschloss sich, dem Hunger nachzugeben und in einer Gastwirtschaft nach einem Teller Suppe zu fragen.

Der Schuppen war ziemlich heruntergekommen, zumindest schien er einst deutlich bessere Tage gesehen zu haben, und das Essen war ebenfalls ziemlich mies, kaum besser als auf dem Klipper. Da er aber wirklich Hunger hatte, aß er die Suppe und das nicht näher zu definierende Fleisch artig auf. Der Fraß lag ihm auch sofort derart im Magen (da machte es sich bemerkbar, wie ausgehungert er gewesen war), dass er nicht umhin kam, einen Schnaps hinterher zu kippen. Normalerweise vermied er es, scharfe Schnäpse und Spirituosen aller Art zu sich zu nehmen, aber hier konnte es wahrhaft nicht schaden.

Deswegen nickte er der drallen Bedienung hinter der Theke auch freundlich zu, als er sein Glas hob und in einem Zug austrank. Verständigt hatte er sich mit einer Mischung aus Englisch und Zeichensprache, das Gasthaus schien nach wie vor einem Holländer zu gehören.

„Proost!“

Arthur verzog das Gesicht, dieses Zeug war nicht schlecht. Was hatte die Frau gesagt, ‚Genever’ würde es heißen? Er grinste, wenn’s half, umso besser. Er winkte die Bedienung herbei und ließ sich einen weiteren einschenken. Dieses Mal erwiderte er den Toast und sagte mit ulkigem Akzent „Proost“, bevor er den Inhalt des Glases erneut hinunterkippte.

Als er am nächsten Morgen erwachte, merkte er sofort, dass er keinesfalls in seiner Koje auf dem Schiff lag! Dafür war alles viel zu stabil rund um ihn herum. Entsetzt fuhr er im Bett hoch und riss die Augen auf: Neben ihm lag die üppige Bedienung aus der Schänke!

Oh Gott, was hatte er getan? Seinem brummenden Schädel nach zu urteilen, musste er den Krug Genever ganz alleine ausgetrunken haben. Dementsprechend fühlte er sich auch. Aber… was war mit – ihr? Und – die noch dringendere Frage lautete: Was war mit ihr und ihm? Er wagte es, die Decke etwas zu lüften und stellte mit Panik im Blick fest, dass sowohl er als auch die Dame neben ihm gänzlich unbekleidet waren.

In diesem Moment rollte sie zu ihm herum, umfasste ihn im Halbschlaf, kuschelte sich an ihn und murmelte: „Mijn forse Held… je bent so snoezig.“ Arthur lief rubinrot an - auch wenn er nicht verstanden hatte, was sie gesagt hatte, ihr Tonfall verriet es annähernd - und versuchte, die Frau ein klein wenig auf Distanz zu halten, was ihm aber ganz und gar nicht gelang, da er sie auch nicht komplett aufwecken wollte.

Er raufte sich die Haare und fluchte innerlich. Ergeben in sein Schicksal ließ er sich in die Kissen zurückfallen und seufzte. Ganz offensichtlich hatte er mit dieser Magd Unzucht getrieben. Allein diese Tatsache war bereits äußerst schockierend. Was ihn aber viel mehr zur Weißglut trieb, war der Umstand, dass er sich daran nicht mehr erinnern konnte! Nun hatte er anscheinend zum ersten Mal in seinem Leben ein Weib beschlafen und es nicht einmal mitgekriegt!

Langsam stahl er sich Inch für Inch aus dem Bett, er fand sein Hemd direkt neben dem Bett liegend und streifte es sich über. Doch als er sich erhob, quietschte das Bettgestell sehr laut und die Frau im Bett schlug die Augen auf. Er schnellte überrascht zu ihr herum, da er aber nichts außer dem noch immer komplett offenen Hemd trug, stellte sich das als kein sonderlich guter Gedanke heraus. Sie grinste breit und meinte träge: „Ui, wat een guy! Ik ben blij verrast.“

Völlig konsterniert und vollends peinlich berührt drehte er ihr eilends wieder den Rücken zu, zum Glück war sein Hemd so lange, dass es gerade so sein entblößtes Hinterteil bedeckte.

„Wo ist meine Hose? Und meine restliche Kleidung?“

„Wat?“

Arthur murmelte undeutlich die wenigen Flüche, die er kannte, dann ergänzte er mehr zu sich selbst sprechend: „Wie das alles funktioniert hat, ohne einander sprachlich verständigen zu können, ist mir ein großes Rätsel.“

Er erblickte seine Hose auf einer Stuhllehne, etwas weiter weg vom Bett und reckte sich, um sie zu erreichen.

„Moet u al gaan?“

„Ähm, wie auch immer, ich muss gehen.“ Er kratzte sich verlegen am Kopf, das war auch offensichtlich ihre Frage gewesen, nun, wo er genauer drüber nachdachte, fiel es ihm auf. Er deutete auf sein Hemd und fragte langsam und deutlich: „Meine andere Kleidung?“

„De andere Kleding van jou?“

Ach, das war ja gar nicht so schwer, wenn sie nicht zu schnell sprach. Er verstand es bruchstückhaft, aber immerhin verstand er überhaupt etwas von ihrem holländischen Gebrabbel. Er nickte daher mit Nachdruck.

Sie zog etwas unter dem Bett auf ihrer Seite hervor und warf es ihm zu. Es stellte sich als seine Weste heraus. Seine Schuhe fand er vor der Tür, als er diese suchend öffnete. Mehr hatte er nicht angehabt, er hatte auf einen Frack verzichtet, da er sich auf dem Schiff und meist auch in den Häfen nicht mehr komplett formell kleidete.

„Good-bye, Miss. Es war mir… ähm… ein Vergnügen!“

Blöde Floskel! Warum war ihm nichts Besseres eingefallen? Er hastete über die Treppe nach unten, stolperte durch den verräucherten Schankraum nach draußen und holte dort tief Luft.

Dann erst wurde er des einzigartigen Panoramas gewahr, da die Luft an diesem Morgen sehr klar und rein war und keine Wolken den Blick auf den Tafelberg verhängten.

Jedoch konnte er das alles nicht recht genießen, da ihn die Gedanken an vergangene Nacht quälten und ihm einfach keine Ruhe ließen.

Martin Brown hatte eine finstere Miene aufgesetzt und seine Arme vor der Brust verschränkt, als Arthur auf die Pride of the Seas zurückkehrte: „Mann, wo hast du nur die ganze Nacht gesteckt? Ich wollte gerade einen Suchtrupp losschicken, der nach dir Ausschau halten sollte. Was war denn los?“

Arthur winkte ab: „Nichts, alles in Ordnung.“

„Alles in Ordnung? Das kannst du deiner Großmutter erzählen. Hat man dich ausgeraubt? Dir eins über den Schädel gehauen?“

„Nein. Nichts dergleichen.“

„Arthur! Rede endlich!“

„Es gibt nichts zu reden, Martin.“

Arthur steuerte seine Kabine an, doch Martin Brown blieb ihm auf den Fersen: „So leicht kommst du mir nicht davon. Es muss etwas Außergewöhnliches vorgefallen sein, so viel ist sicher. Hast du überhaupt schon was gegessen?“

„Ja, gestern Abend.“

Arthur ließ sich auf seine Koje sinken, und schaute Martin an, er wusste, er würde nicht lockerlassen bevor er ihm nicht die ganze Geschichte erzählt hatte.

„Mann, lass dir nicht jeden Wurm einzeln aus der Nase ziehen. Also, du hast irgendwo gegessen. In einem Gasthaus, anzunehmen.“

„Genau.“

„Fantastisch. Und dort hast du auch übernachtet.“

„Du sagst es.“

„Weswegen?“

„Man hat mir ein paar Schnäpse zuviel serviert und ich war wohl nicht mehr dazu fähig, zum Schiff zurückzukehren.“

„Du warst also sturzbetrunken.“

„So kann man es auch ausdrücken.“

„Arthur! Sag schon, was war noch?“

„Nichts. Ich habe dort übernachtet, bin heute früh mit einem leichten Brummschädel aufgewacht, habe mich angezogen und bin zum Schiff zurückgelaufen. Ganz einfach.“

„Du hast dich angezogen? Demnach hattest du dich in der Nacht wohl ausgezogen. Wie hast du das im Vollrausch zustande gebracht?“

Arthur drehte die Augen himmelwärts, fuhr sich nervös durch die strähnigen Haare und lief rosa an. Man konnte diesem Kerl aber auch nichts verheimlichen!

„Arthur, du bist ein miserabler Lügner! Also – eine Frau, nicht wahr?“

Dieser lief nun vollends knallrot an und nickte rasch.

Martin wieherte vor Lachen und klopfte sich dabei ausgelassen auf die Schenkel: „Ich glaube es nicht! Das Unschuldslamm hat seine Unschuld verloren! Ja, wo gibt es denn so etwas! Genial! Eine Engländerin?”

Arthur biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf.

„Was? Sag bloß, sie war Holländerin?”

Nun nickte Arthur erneut.

Martins Gelächter schwoll noch an: „Wahnsinn! Der brave, tugendhafte Arthur hat ein holländisches Meisje flachgelegt. Und, wie war es?“

„Pscht, brüll doch nicht so laut, es wird gleich das ganze Schiff wissen! Über solche Dinge spricht man nicht, ganz einfach.“

Martin grinste: „Du gehörst zur Mannschaft, da spricht man sehr wohl über ‚solche Dinge’, wie du dich auszudrücken pflegst.“

„Ich bin aber auch Passagier. Also, wenn du nun bitte nicht so ein Aufhebens um all dies machen würdest, wäre ich dir sehr dankbar.“

„Hör mal, ich bleibe so lange hier in deiner Kajüte hocken, bis du mir alles haarklein berichtet hast. Und du weißt, ich meine das im Ernst.“

Arthur seufzte: „Ja, das steht zu befürchten. Also gut, die Kurzfassung: Ich habe gestern ein paar Verdauungsschnäpse zuviel gehabt und bin vorhin völlig unbekleidet im Bett dieser ebenfalls unbekleideten Schankmagd aufgewacht. Was genau gewesen ist, weiß ich nicht, mein Erinnerungsvermögen hat mit dem Kippen eines Schnapsglases in der Schänke ausgesetzt. Erst heute früh kam ich wieder richtig zu mir.“

„Woher weißt du dann, dass du es mit dieser holländischen Holden getrieben hast?“

„Martin, wie du dich ausdrückst, furchtbar. Ich weiß es. Frag mich bitte nicht woher, aber es war mir sofort klar, als ich die Augen richtig aufschlug. Es gibt keinen Zweifel daran.“

Martin unterdrückte einen erneuten Lachanfall mit großer Mühe: „Alles klar. Du musst es ja wissen.“

„Ja. Und nun lass mich bitte mal für einen Augenblick allein. Ich bin noch nicht ganz bei mir. Wir sehen uns nachher. Brauchst du Hilfe beim Kochen?“

„Wäre nett von dir, ja. Bis dann.“

Martin erhob sich, kicherte noch einmal albern und machte sich dann auf den Weg zur Kombüse.

Arthur warf sich nachdenklich auf sein Bett. Seine Mutter hatte Recht! Er wusste, dass sie Recht hatte! Er war voller Sünde! Er war schlecht und Gott nicht wohlgefällig. Der Fleischeslust zu frönen war eine große Sünde! Und er hatte schwer gesündigt. Ob Gott ihm das jemals verzeihen würde? Arthur war sich nicht sicher, ob da viel Beten überhaupt noch helfen würde. Gott hatte sich sicherlich betrübt von ihm abgewandt. Er würde seine Gebete bestimmt nicht mehr erhören. Dennoch wagte er es, die Hände zu falten und leise Zwiesprache mit Gott zu halten. Wenn es auch nichts nützte, schaden konnte es keinesfalls.

Niedergeschlagen schlich er kurz darauf in die Kombüse. Martin sagte nicht mehr viel, er legte ihm nur kurz den Arm um die Schultern und meinte nur: „Arthur, du bist ein armer Tropf. Hättest du nicht so viel gesoffen… nun ja. Hoffentlich hast du dir nichts geholt bei dem Mädchen. Man weiß nie.“

„Geholt? Was denn geholt, um Himmels willen?“

Martin schaute Arthur groß an: „Du bist wirklich naiv und unbedarft. Eine Krankheit, etwas, das man sich durch das Zusammensein mit einer Dirne zuziehen kann.“

Arthur sank auf einem Stuhl in sich zusammen: „Ach du Schande. Das gibt es? Ist das gefährlich?“

„Teilweise. Aber hoffen wir mal, dass es eine war, die nicht mit jedem Seemann anbandelte und die halbwegs gesund ist.“

„Du hast gut reden. Aber ich hatte nicht den Eindruck, dass sie eine liederliche Dirne war.“

„Bei deinem reichen Erfahrungsschatz in dieser Hinsicht… sei mir nicht böse, aber woher willst du das dann wissen?“

Arthur zuckte ratlos mit den Schultern: „Ich hoffe es einfach mal. Hast du den Reis schon abgemessen?“

Sie vertieften sich beide in die Zubereitung des Essens und sprachen nicht mehr über den Vorfall in der Schänke.

 

 

Kapitel vierzehn by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Martin Brown – Näheres unter Kapitel vier

Weiterhin ein Haufen Piraten

Orte: Bei der Kapumrundung an Bord des Klippers Pride of the Seas von Kapstadt nach Port Natal (heute Durban, Südafrika), in Port Natal, auf hoher See im Indischen Ozean an Bord des Klippers Pride of the Seas zwischen Port Natal und der Ilha de Moçambique und zwischen der Ilha de Moçambique und Madagaskar, auf einer unbekannten Insel in der Nähe von Madagaskar.

Glossar: ./.
 

 

Die eigentliche Kapumrundung ging völlig unspektakulär vonstatten, Arthur jedoch plagten die Gedanken um die Geschehnisse in Kapstadt noch eine ganze Weile.

Er ärgerte sich, weil er nichts von all den Wonnen, sollten es denn welche gewesen sein, mitbekommen hatte, war andererseits aber auch recht froh darum. Denn wenn er nicht in vollem Bewusstsein diese Sünde begangen hatte, konnte Gott ihn auch nicht dafür verurteilen. Oder erlag er da womöglich einem Trugschluss? Er grübelte hin und her und kam zu keinem für ihn befriedigenden Ergebnis.

Erst als die Pride of the Seas in Port Natal anlegte, hatte er den Vorfall einigermaßen verarbeitet und verdrängt. Er wollte einfach nicht länger darüber nachdenken, sich nicht mehr mit Dingen belasten, die ohnehin nicht mehr rückgängig gemacht werden konnten. Geschehen war geschehen und gut.

Er badete zum ersten Mal im Indischen Ozean. Den Atlantik hatte man also hinter sich gelassen und ein weiteres Weltmeer angesteuert. Hier trafen sehr hohe Wellen auf den Strand, so wild hatte sich der Atlantik nie gebärdet, zumindest nicht, wenn Arthur zum Baden gegangen war. Er kämpfte gegen die tosende Brandung an, es war anstrengend, aber er hatte seinen Spaß dabei. Er ließ sich lachend von einigen Brechern überrollen und tauchte prustend und sich schüttelnd wieder auf, wenn die Welle sich am Strand endgültig gebrochen hatte.

Dann segelte das Schiff auf der ostafrikanischen Seite weiter, aus der gemäßigten Zone der Kapregion in die Subtropen und von dort aus ging es schnell wieder in tropische Gefilde. Erst im Norden von Moçambique machte man erneut Halt, der Klipper legte an der Ilha de Moçambique an und Arthur verzog das Gesicht: Wieder hatten die Portugiesen die Oberhand.

Die unter britischer Herrschaft stehenden Staaten Ostafrikas würde man gar nicht mehr anlaufen, denn nun standen lange Tage auf dem Indischen Ozean bevor, nur unterbrochen von ein paar unbekannten tropischen Insel-Paradiesen.

Man würde Afrika endgültig den Rücken kehren und vorbei an Madagaskar Indonesien ansteuern. Deswegen nahm man so viel Proviant wie möglich in Moçambique an Bord, wenn man Pech hatte und in Unwetter unterwegs geriet, würde das bis Batavia alles sehr knapp werden. Zwar konnte man notfalls unterwegs exotische Früchte besorgen, aber damit war der Hunger schwer arbeitender Seeleute nicht sonderlich gut zu stillen.    

Dennoch freute Arthur sich auf die große Überfahrt, sie waren nun fast ein halbes Jahr unterwegs und so abwechslungsreich die Seereise auch war, er sehnte sich danach, in absehbarer Zeit China zu erreichen.

Er hatte ein ganzes Buch mit Vorratslisten im Hafen von Moçambique angelegt, die Vorratsräume waren somit randvoll und das alles hatte Arthur ordentlich zu tun gegeben.

Nun segelte man der Nordspitze von Madagaskar entgegen und Arthur träumte gerade unter dem Sternenhimmel in seiner Hängematte an Deck, als er plötzlich ein dumpfes Geräusch hörte. Den darauf folgenden Schlag auf seinen Kopf spürte er fast nicht mehr, da er zeitgleich damit in eine Ohnmacht sank.

 

Mit höllischen Schmerzen am ganzen Körper erwachte er von einer unbarmherzigen Sonne, die direkt auf sein Haupt schien. Er konnte sich nicht rühren. Vorsichtig öffnete er die Augenlider und blinzelte geblendet in die Sonne. Es hatte den Anschein, dass er Rücken an Rücken an einen anderen gefesselt war und mit diesem zusammen in der prallen Sonne saß. Was war nur geschehen?

Er befeuchtete seine ausgetrockneten Lippen mit einer fast ebenso ausgetrocknete Zunge und wage leise die Frage: „Wer ist das hinter mir?“

„Arthur?“ Es war unverkennbar Martins Stimme, dem Himmel sei Dank!

„Ja. Martin, bin ich froh, dass du das bist. Was ist los?“

„Wenn mich nicht alles täuscht, sind wir von Piraten überfallen worden. Wir befinden uns wohl irgendwo an Land, nicht mehr auf dem Schiff. Ich schätze, wir sind in Madagaskar oder zumindest nicht weit davon entfernt.“

„Oh gütiger Herr! Und nun?“

„Da fragst du mich zuviel. Aber das dürfte es erst einmal gewesen sein mit deiner Reise nach China. Ob du dieses Land jemals zu Gesicht bekommen wirst, erscheint mir mehr als fraglich.“

Arthur konnte nicht antworten, erstens hatte er furchtbare Schmerzen und zweitens trug das, was Martin ihm da gerade eröffnet hatte, nicht unbedingt zu seiner Erheiterung bei. Heiße Tränen brannten daher in seinen Augen.

Deswegen war es Martin, der weiter sprach: „Wir müssen genau beobachten und zuhören. Irgendwann schnappen wir etwas von diesen Schurken auf. Oder bemerken Dinge, die uns irgendwie weiterhelfen können.“

„Dein Wort in Gottes Ohr. Und hoffentlich sprechen diese Kerle überhaupt ein Wort Englisch. Ansonsten nutzt uns das beste Zuhören wohl nichts.“ Arthurs Worte kamen schleppend und mühsam.

„Geht es dir nicht gut?“

„Um ehrlich zu sein, mir geht es ziemlich schlecht. Mein Durst ist gewaltig, einem dringenden Bedürfnis müsste ich auch bald mal nachkommen, von den wahnsinnigen Schmerzen an Kopf, Armen und fast sonst noch überall möchte ich erst gar nicht reden.“

„Sie haben dich wohl niedergeschlagen.“

„Ja. Dich nicht?“

„Nein, ich habe mich sofort freiwillig ergeben. Dich haben sie anscheinend deiner Körpergröße wegen als gefährlich angesehen und dir sofort eins übergebraten.“

„Das Weihnachtsfest hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt. In bejammernswertem Zustand von Piraten gefangen zu sein, kam in meiner Vorstellung davon nicht unbedingt vor.“

„Nicht zu ändern, Kamerad. Wir müssen versuchen, mit unseren Kräften zu haushalten und diese dann geballt für eine Flucht einsetzen.“

„Das klingt sehr optimistisch, leider fühle ich mich sehr weit davon entfernt.“

Sie schwiegen, da plötzlich ein Pirat auf sie zukam und sie finster und drohend anblickte. Dann fletschte er die Zähne und redete in stark gebrochenem Englisch: „Zwei Minuten Pinkelpause für jeden von euch. Einen Becher Wasser und ein Stück gebratenes Huhn für euch beide. Das ist alles.“

„Bitte“, Arthur räusperte sich, „wo sind wir hier und warum halten Sie uns gefangen?“

„Ich gebe keine Auskunft. Niemals.“

Der Freibeuter entfernte sich wieder, dann kam ein ziemlich heruntergekommen aussehender anderer Mann, der offensichtlich gar kein Englisch konnte und löste Martins Fesseln. Arthur blieb weiter gefesselt sitzen.

Erst als Martin wieder zurückkehrte, wurde Arthur losgebunden und von dem übel riechenden Piraten vor sich hergestoßen. Sie kamen zu einer Latrine. Arthur verdrehte die Augen, die hygienischen Verhältnisse waren mehr als desolat und er litt entsetzliche Schmerzen beim Laufen.

Dennoch schaffte er es, wenigstens seine Blase zu entleeren. Ungewöhnliche Umstände erforderten nun halt auch ungewöhnliche Maßnahmen.

Als man ihn wieder mit Martin zusammenkettete, dieses Mal auf ein schmutziges Lager unter einem Strohdach, wohl schon vorausschauend für die Nacht, stellte man ihnen einen Becher Wasser und einen Teller mit einem Hühnerbein hin. Eine Hand blieb frei, und zwar die von Martin, worüber Arthur sich ärgerte, da er doch so schmerzgeplagt war. Martin trank einen Schluck und hielt Arthur dann den Wasserbecher an die Lippen. Ebenso verfuhren sie mit dem spärlich bemessenen Essen. Martin musste Arthur füttern, es war eine schrecklich unangenehme Situation.

Erschöpft vom Sitzen in der prallen Sonne und den körperlichen Qualen schlief Arthur irgendwann ein, aber es war ein sehr unruhiger, immer wieder von merkwürdigen Träumen unterbrochener Schlaf, auch dadurch erschwert, dass er weiterhin an Martin festgebunden war.

Er träumte unter anderem davon, dass er jahrelang in aller Herren Länder herumirrte, dabei fließend Holländisch sprach, aber China niemals erreichte. Als er völlig gerädert im ersten Morgenlicht erwachte, befürchtete er, dass sich die meisten Dinge aus diesem Traum als traurige Wahrheit herausstellen würden. Abgesehen wahrscheinlich von seinem perfekten Niederländisch!

Als einer der Freibeuter auftauchte, fragte Martin ihn: „Weswegen werden wir hier überhaupt festgehalten? Wir sind nur unbedeutende Seeleute, wir sind ohne große Besitztümer und haben keine wohlhabenden Angehörigen, die ein Lösegeld für uns zahlen würden.“

Der Pirat zuckte mit den Schultern, anscheinend konnte auch er kein Englisch. Doch einige Minuten später kam der, der gestern kurz mit ihnen gesprochen hatte: „Was ist los? Ich habe keine Zeit zum Quasseln mit Gefangenen, also fass’ dich kurz!“

„Wir möchten wissen, weswegen ihr uns gefangen haltet. Es wird niemand für unsere Freilassung aufkommen, dafür sind wir zu unbedeutend, zu gering und zu unvermögend.“

„Wie gut, dass du das erwähnst. Dann können wir euch ja auch gleich die Kehle durchschneiden.“

„Wo sind die anderen und was habt ihr mit dem Klipper gemacht?“

„Den Klipper haben wir verschachert und deine lieben anderen sind alle dahin! Sonst noch Fragen?“

„Ja, wo sind wir?“

„Auf einer Insel. Mehr braucht ihr nicht zu wissen. Es gibt Frühstück, dafür kette ich euch beide kurz los, aber ihr frühstückt mit einer Pistole an der Schläfe! Eine falsche Bewegung und mein Kumpan drückt ab! Ist das klar?“

Man stellte ihnen einen Holzteller mit einer klumpigen Masse hin, das wohl kaltes Rührei sein musste, außerdem ein Stück Brot und jedem einen Becher Milch, die aber sicher nicht von einer Kuh stammte. Martin vermutete, dass es Ziegenmilch war. Trotzdem genoss Arthur, dass er sich ein klein wenig frei bewegen konnte. Gierig trank er die Milch aus, auch wenn es ihn für einen winzigen Moment Überwindung kostete, doch dann fand er das Getränk gar nicht so übel. Als er fertig gegessen hatte, ging es ihm etwas besser, er fühlte sich nicht ganz so schlecht wie am Vortag und in der Nacht. Die Schmerzen waren zwar noch da, zum Glück waren sie jedoch nicht mehr so rasend.

 
Kapitel fünfzehn by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Martin Brown – Näheres unter Kapitel vier

Weiterhin ein Haufen Piraten

Orte: Auf der Ile Mayotte (Komoren) unweit von Madagaskar, an Bord des Schoners Cascade auf hoher See im Indischen Ozean zwischen der Ile Mayotte und Sansibar, einem Vorposten des Sultanats Maskat (heute Oman).

Glossar: ./.

 

Arthur meinte, dem Akzent nach müssten die Freibeuter Franzosen sein. Martin stimmte ihm zu, das war auch im Großen und Ganzen sein Eindruck gewesen. Außerdem würde es Sinn machen, da man sich offensichtlich auf einer französischen Insel, vermutlich einer von den Komoren, befand.

„Sie werden uns nicht schlecht behandeln und uns auch recht passabel ernähren, schätze ich.“

„Wie kommst du zu der Annahme, Martin?“

„Manche Dinge sind schlimmer als der Tod“, orakelte Martin düster.

„Rede schon.“

„Sie haben uns extra am Leben gelassen und mitgenommen, wahrscheinlich weil wir einen viel versprechenden, gesunden und kräftigen Eindruck auf sie gemacht haben. Hier treibt man guten Handel mit Arabien.“

„Handel mit Arabien? Was hat das mit unserem Gesundheitszustand zu tun?“

„Man wird warten, bis unsere Blessuren und Wunden gut verheilt sind und uns dann an einen Sultan verkaufen. Als weiße Sklaven. Das ist begehrte Ware in einem orientalischen Hofstaat.“

Arthur wurde bleich im Gesicht: „Nein. Das glaube ich dir nicht. Du willst mich ärgern, mir einen Bären aufbinden.“

„Arthur, ich muss dich enttäuschen. Mit solchen Dingen scherze ich nicht. Wenn wir Glück haben, müssen wir nur in der heißen arabischen Sonne Steine für die Prunkbauten des Sultans klopfen. Wenn wir Pech haben, berauben sie uns dort unserer Männlichkeit und machen uns zu Eunuchen für dessen riesigen Harem.“

„Was? Was redest du da? Eunuchen? Was ist das? Und wieso… wieso… ach, du weißt schon, was ich meine.“

„Ich vergaß, du bist so schrecklich unerfahren. Also: Eunuchen sind Männer, die keine Männer mehr sind. Nur so kann man gewährleisten, dass sie ihre Aufgaben als Haremswächter erfüllen, ohne dass sie zur Gefahr für die Damen dort werden. Auch wenn man sehr oft Kaffer zu Eunuchen für den Harem macht, sind weiße Männer, weiße Sklaven besonders begehrt, weil sie eine absolute Rarität darstellen.“

„Hör auf, mir wird schlecht.“

„Du bist im Bilde, wie ich merke.“

„Voll und ganz. Wir müssen hier irgendwie weg.“

Martin lachte aus vollem Hals, obwohl ihre Situation eigentlich ganz und gar nicht zum Lachen war: „Das halte ich für ein Ding der Unmöglichkeit. Schneller als wir denken, werden wir nach Arabien verschifft werden, da gehe ich jede Wette ein. Und einmal dort, in einem Sultanat, verbleibt man da bis ans Ende aller Tage. Die Welt wird denken, wir wären tot. Keiner wird nach uns suchen.“

Drei Tage später fühlte sich Arthur um einiges besser, die Schmerzen hatten nachgelassen, seine Prellungen und Blutergüsse gingen langsam zurück. Auch hatte Martin Recht behalten, was ihre Behandlung und Verpflegung anlangte. Sie bekamen nicht üppig, aber halbwegs ausreichend zu essen.  Alles deutete darauf hin, dass man tatsächlich darauf aus war, sie als seltene weiße Sklaven zu verkaufen. Für so ein Paar wurden im Orient Höchstpreise geboten.

Mehrmals besprachen sie einige Möglichkeiten zur Flucht, aber keine ihrer Ideen hatte Bestand und war mit hohen Erfolgsaussichten gesegnet. Es würde nur dazu führen, dass sie vermutlich beide ihr Leben dabei lassen mussten. Sie beschlossen, zu warten, bis die Piraten sie über ihr weiteres Schicksal aufklären und dann wahrscheinlich auf ein Schiff nach Arabien bringen würden. Dabei ergaben sich vielleicht bessere Gelegenheiten zu flüchten.

Nach weiteren zwei Tagen kam der Pirat zu ihnen, der der englischen Sprache ein wenig mächtig war: „Heute könnt ihr baden und euch rasieren. Morgen werdet ihr nämlich von hier weggebracht. Außerdem ist ja heute Weihnachten.“

„Wohin bringt man uns?“

„Irgendwohin.“

„Kann ich im Meer baden? Bitte?“, fragte Arthur.

Der Pirat musterte ihn abschätzig: „Du kannst schwimmen?“

„Ein wenig, ja.“

„Nein, da kann man dich nicht beaufsichtigen. Du gehst in den Zuber, wie der andere auch.“

Mit diesem klaren Befehl verschwand der Anführer der Piratenbande wieder.

„Martin, meinst du, wir könnten ein Rasiermesser mitgehen lassen?“

„Ich glaube nicht, dass sie uns das in die Hand geben werden. Sie werden uns rasieren, das werden wir wohl kaum selbst dürfen.“

„Ja, das befürchte ich auch. Schade.“

„Warum wolltest du im Meer baden gehen?“

„Eine scharfkantige Muschelschale täte es auch, irgendetwas um die Fesseln durchtrennen zu können.“

„Verstehe.“

Arthur badete mit Genuss, er fühlte sich furchtbar unwohl, wenn er sich lange Zeit nicht waschen konnte und somit vor Dreck strotzte. Natürlich war es genau, wie Martin gesagt hatte: Sie wurden von einem finsteren Gesellen rasiert. An das Rasiermesser war also leider nicht zu denken. Den Bart loszuwerden, empfand Arthur ebenfalls als sehr angenehm. Zweimal hatte dieser Barbar ihn zwar geschnitten, aber das war zu verschmerzen.

Zum Essen bekamen sie auch kein Messer, nur Holzlöffel. Wenn es – selten genug - Fleisch gab, erhielten sie es bereits geschnitten, meist in einer undefinierbaren Brühe, wohl eine Suppe.

Martin und Arthur lauerten weiterhin darauf, dass einer ihrer Entführer einen scharfen Gegenstand irgendwo in greifbarer Nähe würde liegenlassen. Viel Zeit blieb ihnen nicht mehr.

Am Abend bekamen sie endlich mit hämischem Grinsen quasi als Weihnachtsüberraschung ansatzweise mitgeteilt, was sie erwarten würde und Martin sah sich in seinen Theorien bestätigt: „Wir überlegen gerade, ob wir euch getrennt verkaufen. Du da“, dabei deutete der Pirat auf Martin, „bist wohl nicht dazu geeignet, dass dich ein orientalischer Fürst innerhalb der Palastmauern beschäftigt. Aber du da“, und nun zeigte er grinsend auf Arthur, „bist groß, gut aussehend und wirst einen enorm hohen Preis erzielen, da du den schönsten und besten Eunuchen abgeben wirst, den der Sultan seit langem gesehen hat. Einer der besten Fänge, die wir jemals gemacht haben. Das macht mich richtig stolz. Aber warten wir es ab, erst einmal müssen wir mit euch in das Sultanat gelangen. Dort sehen wir dann weiter.“

Martin und Arthur blickten sich voller Verzweiflung an. Es sah wahrlich trübe aus für eine Flucht. Sie schliefen beide schlecht und machten kaum ein Auge zu. Außerdem herrschte ziemlicher Lärm im Lager, es schien, dass die Piraten außer dem Weihnachtsfest auch ihren genialen Coup bereits ausgiebig feierten.

Am nächsten Morgen traute Arthur seinen Augen nicht, als er nicht weit von den Aborten eine leere Flasche im Sonnenlicht blinken sah. Wohl ein Überbleibsel des nächtlichen Gelages. Er musste nur für einen Augenblick seinen Bewacher ablenken, damit er die Flasche an sich nehmen und in seinem Hosenbund verstecken konnte. Das war die Chance!

Arthur ging in die Knie und ließ sich mit Absicht hinfallen, dann kugelte er zu der Flasche. Sein Bewacher kam sofort angerannt, doch Arthur hatte die Flasche rasch an sich nehmen können und war bereits wieder auf den Beinen, als der Pirat ihn mit finsterer Miene erreichte: „Ich bin gestolpert, Entschuldigung. Aber nun können wir gehen.“

Zur Strafe bekam er den Arm brutal auf den Rücken gedreht und wurde in dieser Haltung bis zum Lager geführt. Angstvoll blickte Martin ihm entgegen: „Ist was passiert?“

Arthur schüttelte nur stumm den Kopf, er hatte Angst, dass er gleich zu Boden gestoßen werden würde und dabei dann die Flasche an seinem Bauch zu Bruch gehen würde. Der Freibeuter versetzte ihm auch einen ordentlichen Stoß, den er aber geschickt abfangen konnte. Dann wurde er wieder angekettet und man ließ ihn und Martin alleine.

Arthur holte Luft: „Ich habe eine Flasche im Hosenbund.“

„Was?“

„Ja. Ich konnte sie unterwegs an mich nehmen, es muss wohl eine der leeren Flaschen von deren ausgiebiger Siegesfeier gestern Abend sein.“

„Oh, Arthur, das ist eine ziemlich gute Nachricht. Danke. War der Knabe deswegen so brutal zu dir?“

„Ja, er war sehr ungehalten, dass ich mich habe fallen lassen. Aber es geht schon, nur mein Arm ist etwas lahm gerade.“

Es gelang ihnen trotz Fesseln in einer geduldigen Aktion, die Flasche in der Jackentasche von Martin zu verstauen, der Hosenbund war auf Dauer kein gutes Versteck dafür.

Kurze Zeit darauf wurden sie abgeholt. Dann folgte ein Fußmarsch von knapp einer Stunde Dauer, bis man zu einem kleinen Hafen kam. Dort lag der Schoner Cascade vor Anker.

Arthur begutachtete das Schiff: „Zweimaster. Schonermast und Großmast, Schonersegel, Großsegel, Vorsegel.“

„Du hast wirklich einiges über die Seefahrt gelernt.“

„Nutzt mir gerade rein gar nichts. Abgesehen davon, dass ich nun weiß, welcher Schiffstyp die Cascade ist.“

Sie wurden auf das Schiff verfrachtet, das nicht lange danach Segel setzte und ablegte. Da Arthur ein klein wenig Französisch konnte, hatte er einigen Sprachfetzen entnehmen können, dass man sich auf der Ile Mayotte befunden hatte. Das Ziel der Reise war nun auch klar: Es ging anscheinend in das Sultanat Maskat (Anm.: das heutige Sultanat Oman, eines der beiden noch wirklich existierenden Sultanate unserer Zeit. Das zweite ist Brunei, im Nordteil der Insel Borneo gelegen). Wo Maskat genau lag, wussten weder Arthur noch Martin. Die Reise würde über Sansibar führen, da dort der Sultan von Maskat eine große Residenz hatte, denn sein Machtbereich erstreckte sich weit bis in den ostafrikanischen Raum.

 

 

Kapitel sechzehn by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Martin Brown – Näheres unter Kapitel vier
Weiterhin ein Haufen Piraten, Kapitän und Besatzung der Cascade, Kapitän, Offiziere und Besatzung der Jeanne d’Arc

Orte: Auf hoher See an Bord des Schoners Cascade im Indischen Ozean zwischen der Ile Mayotte und Sansibar, im Indischen Ozean, an Bord der Brigg Jeanne d’Arc irgendwo im Indischen Ozean

Glossar:
Homme par-dessus bord - französisch: Mann über Bord
Mon ami – französisch: Mein Freund
Où est il – französisch: Wo ist er?
Est il mort – französisch: Ist er tot?
 

 

Sie waren nur nachts angekettet. Tagsüber durften sie sich frei auf dem Schiff bewegen, nur ihre Hände waren mit einem Strick auf dem Rücken gefesselt. Die Flasche hatte Martin unter seinem Strohsack versteckt. Zu den Mahlzeiten machte man ihnen die Fesseln ab. Wo sollten sie auch hin, mitten auf dem Meer? Sie würden nicht weit kommen.

Doch da hatten die Piraten die Rechnung ohne ihre Opfer gemacht. Sie hielten auch nachts abwechselnd Wache, einer schlief, einer hielt Ausschau nach Schiffen. Hier war eine rege Seefahrt im Gange und tagsüber sah man öfter andere Segel in einiger Entfernung. Wenn man nahe genug an so ein Schiff kommen würde… wenn!

Plötzlich war das Glück ihnen hold. Segel wurden sichtbar, und dieses Mal gar nicht so weit entfernt von der Cascade. Arthur und Martin schauten sich an. Beide hofften, dass man noch näher an das andere Schiff kommen würde. Dann würden sie die Stricke aufschneiden, in einer Blitzaktion über Bord springen und um ihr Leben schwimmen. Martin war nicht gar so begeistert von der Idee, er war kein sicherer Schwimmer, aber er ließ sich von Arthurs Optimismus mitreißen.

Martin holte die Flasche aus dem Versteck und zerbrach diese so leise wie möglich unter seiner Decke, was mit auf dem Rücken gefesselten Händen nicht unbedingt ein leichtes Unterfangen war.

Eine größere Scherbe nahm er vorsichtig in die Handfläche und schloss diese locker. Dann zog er sich an Deck an eine ruhige Stelle mit Arthur zurück und sie kämpften beide mit der Glasscherbe und dem Zerschneiden der Stricke. Es war mühevoll und dauerte, aber letztendlich war es von Erfolg gekrönt. Sie banden sich die Stricke so wieder um, dass zunächst niemand Verdacht schöpfen würde. Das fremde Schiff kam näher.

Es schien unter französischer Flagge zu fahren, so viel konnte man bereits feststellen. Und es war eine Brigg, ein Zweimaster mit Brigg-Takelung. Arthur rechnete aus, dass die französische Brigg kaum näher kommen würde, deswegen würden nur wenige Minuten für den besten Flucht-Zeitpunkt bleiben. Er flüsterte mit Martin, eine letzte Lagebesprechung, dann rissen sie sich die Stricke von den Händen und sprangen mit einem beherzten Sprung über Bord.

Es dauerte sogar einige Minuten, bis die Piraten bemerkten, was geschehen war: „Homme par-dessus bord!“

Martin kämpfte sich tapfer hinter Arthur durch den Indischen Ozean. Die Cascade drehte bei und nahm ihre Verfolgung auf. Der Abstand der beiden  Flüchtenden zwischen der Cascade und dem anderen Schiff war in etwa gleich. Die Brigg kam näher, denn auch dort hatte man gemerkt, dass sich zwei Männer im Meer befanden.

Arthur konnte nun bereits den Namen erkennen, es stand am Rumpf in schwungvollen Buchstaben geschrieben Jeanne d’Arc. Wenn das kein Omen war! Ein französisches Schiff, das den Namen der Frau trug, die einen nicht unerheblichen Teil Frankreichs von den Engländern befreit hatte. Arthur fühlte, wie sich Erschöpfung in ihm breit machte und er schaute voller Sorge auf Martin, der kaum noch konnte. Und hinter Martin sah er es: Die graue, dreieckige Flosse eines Haies!

„Beeil dich!“ Er schrie diese beiden Worte Martin zu, aber dieser gurgelte schwach zurück: „Ich kann nicht mehr.“

„Du musst, bitte!“

Arthur hielt inne und drehte um. Er schwamm auf Martin zu und schleppte ihn Richtung Jeanne d’Arc. Ein Wettlauf gegen den Raubfisch und gegen die Cascade begann. Doch das Piratenschiff war nicht mehr die Hauptgefahr.

Die Piraten hatten sogar Fahrt herausgenommen, denn sie sahen, dass der Hai sich den Flüchtenden näherte und beobachteten nicht ohne Schadenfreude das Geschehen im Wasser.

Die Jeanne d’Arc ließ zwischenzeitlich eine Strickleiter an der Bordwand herunter.

Dann kam die erste Salve aus der Bordkanone der Cascade. Gezielt hatten sie nicht sonderlich präzise, denn die Kanonenkugel schlug nur mit einer Spritzfontäne ins Wasser ein.

Arthur war am Rande der totalen Erschöpfung, aber er zerrte den schwachen Martin mit sich. Der Hai war nun bedrohlich nahe und schien durch den Kanonenschuss ins Wasser sehr aggressiv geworden zu sein. Als Arthur mit seiner freien Hand an die Strickleiter der Jeanne d’Arc griff, biss das Ungeheuer zu.

Martin ließ einen markerschütternden Schrei los und das Wasser rund um ihn färbte sich rötlich. Arthurs Panik war unermesslich groß, er zog mit letzter Kraft und konnte Martin dazu bringen, sich an der Strickleiter festzuhalten. Dann ertönten Pistolenschüsse, sie schienen dem Hai zu gelten. Dieser bäumte sich auf und starb unter dem Beschuss vom Schiff. Arthur konnte sich nicht mehr erinnern, wie er an Bord der Brigg gekommen war, er lag halb bewusstlos an Deck. Alles war er hörte, waren die Schmerzensschreie von Martin. Was mit ihm war, vermochte er nicht zu sagen.

Wie unter einer großen Glocke nahm er noch den Beschuss der Cascade wahr, die laute Hektik an Bord der Jeanne d’Arc und dazwischen Martins Schreie. Dann übermannte ihn eine Ohnmacht.

Als er verwundert die Augen wieder aufschlug, war es ganz ruhig um ihn herum.

Er blickte sich um und merkte, dass er in einem einfachen, aber recht sauberen Bett, einer Koje, lag.

Mühsam richtete er sich auf seinen Ellbogen auf und ließ den Blick durch den winzigen Raum schweifen. Er war auf einem Schiff, und es war ganz offensichtlich nicht die Cascade. Schlagartig fiel ihm alles wieder ein, stöhnend ließ er sich zurück in die Kissen fallen.

Das schien nicht ungehört geblieben zu sein, denn die Tür zur Kabine öffnete sich und es trat ein ihm vollkommen unbekannter Mann ein, der zwar ein schwaches Lächeln auf den Lippen trug, aber sich nur auf Französisch verständlich machen konnte.

Arthur verstand nichts von alldem, was man ihm zu erklären versuchte. Er schüttelte daher immer mal wieder vorsichtig den Kopf und presste dann, seine bescheidenen Französisch-Kenntnisse im Kopf zusammensuchend, hervor: „Et mon ami? Martin?“

Wieder ein Schwall französischer Worte, dann verließ der Mann seine Kabine und er war wieder allein.

Als er das nächste Mal aufwachte, fühlte er sich wesentlich besser. Langsam erhob er sich und verließ das Bett. Er hatte eine Hose an, die ihm offensichtlich nicht gehörte, denn sie war ein wenig zu klein, die Schnallen am Knie mussten offen bleiben, denn soweit runter gingen die Hosen gar nicht. Außerdem schlossen sie am Bund nicht richtig. Mit nackter Brust öffnete er die Tür und schaute sich um. Die Brigg war nicht sehr groß, sie hatte wenig Kajüten, wahrscheinlich nahm sie normalerweise keine Passagiere an Bord, demnach gab es nur einige Schlafplätze für die Mannschaft (die im Bug in Hängematten schliefen) und kaum eine Handvoll einzelner Kajüten für die Offiziere.

Er schlich nach oben an Deck und dort begegnete er endlich einigen Leuten von der Besatzung. Darunter befand sich auch der Mann, der zuvor kurz bei ihm gewesen war. Es schien, dass man gerade das Deck schrubbte, und das Wasser hatte noch immer einen rosa Stich, wohl von vergossenem Blut.

Er schaute sich irritiert um und fragte dann in die Runde: „Mon ami? Où est il? Est il mort?“

 

 

Kapitel siebzehn by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Martin Brown – Näheres unter Kapitel vier
François Meilhac – Offizier auf der Jeanne d’Arc

Weiterhin Kapitän, Schiffszimmerman und restliche Besatzung der Jeanne d’Arc

Orte: Auf hoher See an Bord der Brigg Jeanne d’Arc im Indischen Ozean zwischen Sansibar und den Kokos-Inseln, auf einer der westlichen Kokos-Inseln.

Glossar:
Naturellement – französisch: Natürlich
Bien sûr – französisch: Selbstverständlich, gewiss
S’il vous plait - französisch: Bitte
 

 

Es trat einer der Offiziere vor, der ein klein wenig der englischen Sprache mächtig zu sein schien, denn er sprach in hart akzentuiertem, stark gebrochenen und schwer verständlichem Englisch: „Monsieur, Ihr Freund ist nicht tot. Er ist aber sehr schwer verletzt von dem Hai-Angriff und man musste ihm den Rest des Beines amputieren. Er schläft, da er eine ordentliche Dosis Morphium erhalten hat.“

Arthur holte tief Luft und bekämpfte die Tränen. Dann nickte er: „Verstehe. Darf ich ihn sehen?“

„Später vielleicht, Monsieur. Wie ist Ihr Name?“

„Arthur Clennam. Ursprünglich war ich Passagier auf dem englischen Klipper Pride of the Seas, die aber nach der Kapumrundung und dem Anlaufen von Moçambique von Piraten gekapert und allem Anschein nach von den Halunken verkauft wurde. Martin Brown und ich wurden auf die Ile Mayotte verschleppt, für die Dauer von einer Woche dort festgehalten und dann auf die Cascade gebracht, um als Sklaven an den Sultan von Maskat verkauft zu werden. Es gelang uns die Flucht, als wir Euer Schiff auftauchen sahen. Der Preis, den vor allem Martin dafür bezahlt hat, scheint mir jedoch nun mehr als fraglich. Wird er wieder gesund werden?“

„Das ist schwer zu sagen. Man muss abwarten. In den Tropen sind solche Verletzungen nicht einfach. Es kann schnell zu katastrophalen Komplikationen kommen. Ich bin der Navigations-Offizier dieser Brigg, François Meilhac. Willkommen an Bord der Jeanne d’Arc, Monsieur Clennam. Was war das eigentliche Ziel Ihrer Reise, wenn ich fragen darf?“

„Shanghai. Ich wollte zu meinem Vater, der dort die Seidenmanufaktur unseres Familienunternehmens leitet.“

„Nun, wir können Sie zumindest bis Batavia (Anm.: das heutige Jakarta) mitnehmen. Das liegt auf der Insel Java. Dort gibt es eine Niederlassung der Britischen Ostindienkompanie, die Ihnen sicher eine weitere Passage nach China besorgen kann.“

„Das würde mir schon sehr viel weiterhelfen, danke. Auch wenn ich augenblicklich aufgrund der kummervollen Vorkommnisse noch nicht so recht in der Lage bin, mich darüber zu freuen, Sie verzeihen es mir hoffentlich.“

„Naturellement. Ruhen Sie sich aus. Wir sehen uns später. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten über den Zustand von Monsieur Brown.“

Obwohl er in tiefer Sorge wegen Martin war, schlief Arthur mehr als gut. Die Strapazen der letzten Zeit hatten arg an seiner Substanz gezehrt, deswegen war er völlig erschöpft und übermüdet auf sein Bett gefallen und fast unmittelbar darauf auch eingeschlafen.

Erst am kommenden Morgen hatten ihn die Ereignisse rund um die Flucht wieder eingeholt und kamen umso heftiger in sein Bewusstsein zurück. Ihm wurde richtiggehend übel, als all die Bilder und Eindrücke wieder auf ihn einstürmten.

Doch er behielt sein Frühstück tapfer bei sich und machte sich auf den Weg an Martins Krankenlager. Dieser war unweit des Quartiers für die Besatzung untergebracht, man hatte ihm aufgrund des eklatanten Platzmangels auf der Brigg eine provisorische Kabine hergerichtet, die ihn etwas von der Mannschafts-Unterbringung abschirmte.

Trotzdem man offensichtlich gut für Martin gesorgt hatte, war Arthur zutiefst erschüttert, als er den Verletzten zu Gesicht bekam. Dieser lag bleich, aber mit dicken Schweißperlen auf der Stirn im Bett. Der Verband am Stumpf des Beines nässte durch und war blutig. Richtig ansprechbar war er auch nicht. Zwar sagte man Arthur, dass dies noch immer eine Folge des Morphiums wäre, aber Arthur hatte im Gefühl, dass das nicht die alleinige Ursache für den schlechten Gesundheitszustand von Martin Brown war. So wie sich ihm gerade das Bild darstellte, war es mehr als fraglich, ob der Patient dies überleben würde. Er hatte keinerlei Erfahrung, weder von medizinischen oder chirurgischen Dingen, noch das Ableben eines Menschen betreffend, doch er spürte deutlich, dass der Tod nach Martin griff.

Voller Trauer und Selbstvorwürfe wandte er sich ab und biss sich fest auf die Lippen, um den seelischen Schmerz zu bekämpfen. Warum hatte er nur auf dieser irrsinnigen Flucht bestanden? Hatte er nicht gewusst, dass Martin kein so guter und ausdauernder Schwimmer war? Hätte sich nicht vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt eine bessere, sicherere Fluchtmöglichkeit ergeben? Vielleicht sogar erst in Maskat selbst?

Er selbst hatte Angst vor Haien, schon immer, schon seit er vor Monaten auf der anderen Seite Afrikas ordentlich schwimmen gelernt hatte. Warum war es ihm nicht in den Sinn gekommen, dass man mit einer Haifisch-Attacke zu rechnen hatte? Wo hatte er nur seinen Kopf gehabt? Zu unüberlegt, zu gewagt, zu wenig durchdacht war diese Flucht gewesen. Es war kein Menschenleben wert gewesen, von der Cascade ins Ungewisse zu springen! Er hatte kläglich versagt, er war daran schuld, dass Martin nun wahrscheinlich sterben würde. Er allein trug die Schuld!

Verzweifelt stand er einsam an Deck. Er hatte keine Freude am blauen, wolkenlosen Himmel, der strahlenden Sonne und am tiefblauen Meer. Wäre es nicht besser, sich in die Fluten des Indischen Ozeans zu stürzen, damit all das Elend ein Ende hatte?

Nein! Arthur, denk’ nicht einmal daran! Du musst nach China. Du musst zu Vater. Und du musst Martin beistehen, so lange er noch lebt. Und so voller Hoffnung sein, dass er es vielleicht sogar überlebt! Das war das vorrangige Ziel.

Obwohl er von Depressionen gequält war, riss er sich die folgenden Tage so gut es ging am Riemen.

Die vielen Gebete, die Arthur vor allem nachts gen Himmel schickte, schienen jedoch nicht viel zu nutzen.

Ab und zu war Martin kurzzeitig ansprechbar, aber dämmerte ansonsten in einem schweren Wundfieber dahin.

Nach einem Verbandwechsel kam der Offizier Meilhac zu Arthur: „Monsieur Clennam, ich bringe keine sehr guten Nachrichten, leider.“

Arthur nickte betrübt: „Sagen Sie schon, Monsieur Meilhac.“

„Die Amputationswunde hat sich entzündet und der Wundbrand hat sich ausgebreitet. Wir denken nicht, dass Monsieur Brown große Chancen hat.“

„Ja. Ich dachte mir schon so etwas. Danke, dass Sie es mir gesagt haben. Wann werden wir Land anlaufen?“

„Oh, wir hoffen schon in Kürze auf den Kokos-Inseln anlegen zu können. Wir brauchen Frischwasser und einiges an Lebensmitteln. Warum fragen Sie?“

„Falls… falls er stirbt, möchte ich nicht, dass es eine Seebestattung für ihn gibt. Auch wenn er lange zur See gefahren ist, ich könnte es nicht ertragen, dass er dort unten weiter von Haien und anderen Bestien zerfressen wird, wo die doch…“, er brach sichtlich aufgewühlt ab und schaute den Offizier mit zusammengepressten Lippen an.

„Bien sûr, ich verstehe. Ich muss offen mit Ihnen sprechen, auch wenn es Ihnen augenblicklich sehr taktlos und brutal vorkommt: Bei diesen Temperaturen können wir keine Lei… ähm, keinen Verstorbenen lange an Bord haben. Sollten wir zu weit weg von irgendwelchem Land sein, müssen wir ihn dem Meer übergeben. Auch wenn es schwer fällt.“

Arthur drehte sich weg von François Meilhac und nickte erneut. Dabei liefen ihm jeweils rechts und links eine Träne an der Wange herunter.

Er schlief nur noch wenig und wachte oft an Martins Bett. Als der Ausguck meldete, dass Land in Sicht wäre, atmete Arthur erleichtert auf. Er nahm Martins Hand und sagte es ihm. Zwar war er sich nicht sicher, ob er ihn überhaupt noch hören würde, doch er hatte immer wieder leise mit ihm gesprochen, ihm einfach Dinge aus dem Tagesablauf auf der Jeanne d’Arc erzählt.

Ein schwaches Lächeln, das erste seit Tagen, zog bei Erwähnung der Landsichtung über Martins Gesicht. Dann öffnete er für wenige Sekunden die Augen und hauchte: „Gut.“

Als er die Augen wieder schloss, schlug sein Herz zum letzten Mal.

Die Situation überforderte Arthur auf emotionaler Ebene völlig. Er fühlte sich wie in ein Vakuum gepackt und nahm kaum noch etwas wahr, außer unglaublichem Schmerz und Trauer. Eigentlich war Martin der erste richtig gute Freund von ihm gewesen. Sie hatten in etwa sechs Monate gemeinsam verbracht, zusammen gekocht, gelacht, geredet, voneinander gelernt und so manches Geheimnis miteinander geteilt. Etwas Derartiges hatte Arthur niemals zuvor erfahren und stand nun verständlicherweise völlig neben sich.

Erst als er sich am Strand eines wunderschönen Südsee-Insel-Paradieses wieder fand, kam er ein wenig zu sich. Eigenhändig hob er dort an einer schattigen Stelle unter großen, hohen Palmen das Grab für seinen verstorbenen Freund Martin Brown aus, diese Arbeit wollte er niemand anderem überlassen.

Der Kapitän der Jeanne d’Arc sprach ein kurzes Gebet, dann legte man den mangels eines Sarges in einen Leinensack eingenähten Toten in die von Arthur ausgehobene Grube, der fassungslos und mit versteinertem Gesicht der ganzen Zeremonie beiwohnte. Erst als ihm fast alle Besatzungsmitglieder der Brigg ihr Beileid ausgesprochen hatten und man sich anschickte, das Grab mit der ausgehobenen Erde wieder aufzufüllen, reagierte er: „Non, non! S’il vous plait, nicht! Ich mache auch das selbst, danke!“

Als Arthur schwer atmend und schwitzend mit dem Zuschaufeln fertig war, kam der Schiffszimmermann und brachte ihm ein Holzkreuz. Diese unverhoffte und unerwartete Geste rührte Arthur so an, dass er endgültig über dem Grab zusammenbrach und bitterlich weinte.

 

 

 

Kapitel achtzehn by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
François Meilhac – Offizier auf der Jeanne d’Arc
Charles Fairbanks – Direktor der Britischen Ostindien-Kompanie in Batavia

Weiterhin Kapitän und restliche Besatzung der Jeanne d’Arc, Angestellte der BOK, sowie Herr Vandemaan, Gastwirt und der Erste Offizier der Knighthood

Erwähnung finden Flora Casby, deren Vater Mr. Casby und Martin Brown

Orte: Auf hoher See an Bord der Brigg Jeanne d’Arc im Indischen Ozean zwischen Pulau Panjang (West-Insel der Kokos-Inseln) und der Weihnachtsinsel, auf der Weihnachtsinsel, auf hoher See an Bord der Brigg Jeanne d’Arc zwischen der Weihnachtsinsel und Batavia (heute Jakarta auf Java), in Batavia

Glossar:
BOK – gängige Abkürzung für Britische Ostindien-Kompanie
Goedemiddag – niederländisch: Guten Tag!
Heft u en kamer voor me – niederländisch: Haben Sie ein Zimmer für mich?
Evenzo – niederländisch: ebenfalls
Geen probleem – niederländisch: Kein Problem
Mijn naam is… - niederländisch: Mein Name ist…
 

 

In der Nacht, als man sich von Pulau Panjang entfernte, dachte Arthur das erste Mal seit langer Zeit wieder an Flora Casby. Was sie wohl machte? Er seufzte bei dem Gedanken, dass sie aller Wahrscheinlichkeit nach mit ihrem Vater in trauter Runde im Salon bei Kaminfeuer gemeinsam das Weihnachtsfest begangen hatte, mit einem köstlichen Mahl vermutlich, während er auf den Komoren von Piraten gefangen gehalten worden war.

Er hatte alle Abenteuer der Fahrt bis Moçambique weitgehend genossen, abgesehen von den Tagen der Seekrankheit und der anderen gesundheitlichen Störungen; da aber nun Martin tot war, empfand er die Weiterfahrt über den Indischen Ozean kaum noch als angenehm. Ihm fehlte der Freund, der Kumpan. Meist saß er nun zurückgezogen in einem stillen Eckchen der Brigg und fertigte ein neues Reisetagebuch an, da ihm das erste Exemplar natürlich beim Überfall der Piraten abhanden gekommen war. Das ärgerte ihn mächtig, weil es alle Berichte, Aufzeichnungen und Zeichnungen der Fahrt enthalten hatte und viele nautische Informationen, die er kaum noch zu rekonstruieren vermochte. Die Franzosen konnte er schlecht fragen, auch wenn sein Französisch sich leicht verbesserte, war er noch immer weit von einer einfachen Konversationsfähigkeit entfernt. Und genau für die Fachbegriffe der Seefahrt hätte er mehr Sprachkenntnisse benötigt. Also ließ er es bleiben und rief sich die auf der Pride of the Seas gelernten Dinge soweit möglich ins Gedächtnis zurück.

Arthur blieb an Bord der Jeanne d’Arc ein Einzelgänger, der kaum am Bordleben teilnahm. Er sagte höflich Guten Morgen und wünschte ebenso höflich eine Gute Nacht, doch dabei beließ er es auch weitgehend. Ab und zu redete er ein paar Sätze mehr mit Monsieur Meilhac, der sein einziger richtiger Kontakt zur Mannschaft war. Man schob seine zurückhaltende, fast schüchterne Art auf den Tod seines Freundes. Würde dieser noch leben, wäre auch sicher Monsieur Clennam ein fröhlicherer und mitteilsamerer Zeitgenosse.

Zwar ging er auf der Weihnachtsinsel mit an Land, tat dies aber ohne sichtbar große Freude. Er schwamm auch ein wenig im Meer, da er dies als erfrischend empfand und zur Körperhygiene nutzte, doch Spaß hatte er keinen mehr dabei. Immerzu musste er an den Hai denken, der Martin das Leben gekostet hatte. Deswegen wagte er sich auch nicht mehr weit weg vom Strand ins Meer hinaus und schwamm nur ein klein wenig halbherzig hin und her.

Das Einzige, worüber er ein klein wenig schmunzeln musste, war die Tatsache, dass man die Weihnachtsinsel kurz vor Ostern anlief.

Nach einer ziemlich unspektakulären Reise, vom Tod Martin Browns vor den Kokos-Inseln abgesehen, kam die Jeanne d’Arc am Abend des Ostersonntags in Batavia auf Java an.

Arthur verabschiedete sich am folgenden Morgen herzlich, aber dennoch recht distanziert von allen an Bord der französischen Brigg. Da er auch über kein Bargeld oder sonstige Wertgegenstände mehr verfügte, musste er sofort bei der Britischen Ostindien-Kompanie vorsprechen, da er sich sonst nicht einmal ein Hotelzimmer würde leisten können.

Es war nicht ganz einfach, die Angestellten der BOK zu überzeugen, dass der Mann vor ihnen kein abgerissener einfacher Seemann war, sondern der Erbe des Handelshauses Clennam & Sons, dem auf der Überfahrt von London nach China einiges Übel widerfahren war. 

Nachdem er aber keinen Deut von seiner Geschichte abrückte und man merkte, dass er sich sehr gewählt und gepflegt auszudrücken vermochte, kam man zu dem Schluss, dass an der Sache etwas Wahres sein musste und verwies Mr. Arthur Clennam an den Direktor der Niederlassung, Mr. Charles Fairbanks.

Dieser wühlte in seinen Papieren und zog dann mit triumphierendem Lächeln eine Notiz aus einem Stapel hervor: „Ah, da ist es ja. Es ist uns bekannt, dass ein Schiff der BOK unter Anwendung von Gewalt unweit von Sansibar den Klipper Pride of the Seas aus Piratenhand befreit hat. Dabei wurde das britische Schiff jedoch so stark beschädigt, dass man es zu keiner Weiterfahrt mehr verwenden konnte. Man hat einige wichtige Dinge von Bord genommen, wie beispielsweise Segel, Segeltuch, Holz und andere für die Seefahrt wichtige Dinge, sowie ein paar persönliche Habseligkeiten der vormaligen Besatzung. Dann ging die Pride of the Seas leider unter. Traurige Geschichte, aber bedauerlicherweise Alltag in unserem Geschäft. Wie schön, dass Sie mit dem Leben davongekommen sind, Mr. Clennam.“

„Wo wurden die persönlichen Besitztümer denn hingebracht, wenn ich fragen darf?“

„Soweit ich das dem Bericht entnehmen kann, hat das andere Schiff die Sachen in eine bescheidene Niederlassung in der Nähe von Macao, nach Kanton (Anm.: Hongkong als solches war zu dieser Zeit noch nicht bekannt) mitgenommen. Reisen Sie nicht auch nach China, Mr. Clennam?“

„So ist es. Ich kann also die Gegenstände in der Niederlassung der BOK in Kanton einsehen?“

„Davon gehe ich aus, ja. Allerdings unterhalten wir nur ein bescheidenes Büro in diesem chinesischen Vorposten. Eine Passage nach Kanton und Shanghai ist kein Problem, nur wissen wir nicht genau, wann das nächste Schiff unserer Kompanie mit Ziel Kanton, und in Ihrem Fall Shanghai, Batavia anlaufen wird. Es kann morgen sein, es kann aber auch zehn Tage oder länger dauern.“

„Ich verstehe. Wird die BOK Batavia mir eine bescheidene Summe Bargeld zur Verfügung stellen, dass ich in Shanghai wieder zurückzahle, damit ich mir hier ein Hotelzimmer nehmen kann?“

„Das werden wir. Gegen eine rechtmäßige Schuldverschreibung natürlich.“

„Natürlich.“

Batavia. Erneut eine niederländische Niederlassung. Offensichtlich hatten Niederländer und Portugiesen die Länder dieser Erde unter sich aufgeteilt. Arthur hatte auf dieser Reise ein ganz anderes Bild dieser Welt bekommen, als es ihm als Schüler und während seiner Weiterbildung vermittelt worden war. Er wunderte sich nicht schlecht, dass vieles in England gar nicht bekannt war, ob es der Bevölkerung willentlich oder unabsichtlich vorenthalten wurde, vermochte er jedoch nicht zu sagen. Er vermutete, dass ein nicht unerheblicher Teil jedoch Aufschneiderei sein musste und England längst nicht die riesige Vormachtstellung in fernen Ländern hatte, wie man allgemein die Briten glauben machte.

Er fand eine nicht zu teure, aber ansprechende Unterkunft unweit des Hafens und konnte seine wenigen Brocken Niederländisch zögerlich, aber nicht ganz ohne Stolz anwenden: „Goedemiddag. Heeft u en kamer voor me?“

Der Besitzer des Gasthauses schmunzelte, da Arthur sehr langsam und mit unüberhörbarem englischen Akzent gesprochen hatte und antwortete dann auf Englisch, mit höflicher Erwiderung des Grußes in Niederländisch: „Evenzo goedemiddag. Selbstverständlich können Sie ein Zimmer haben. Für wie lange gedenken der Herr zu bleiben?“

Arthur bemühte sich, nicht allzu erleichtert über die Tatsache zu sein, dass der Gastwirt Englisch sprechen konnte: „Das ist leider ungewiss, da ich auf eine Schiffspassage nach China warte.“

„Geen probleem. Auf Situationen wie diese sind wir stets eingerichtet. Sie bekommen Zimmer Nummer vier. Mit Meeresblick.“

Arthur nickte leicht: „Danke. Sehr freundlich von Ihnen, Mr. …?“

„Mijn naam is Vandemaan.“

„Arthur Clennam. Danke nochmals.“

„Wünsche einen schönen Aufenthalt in Batavia, Mr. Clennam.“

Er spazierte zu Fuß in der Stadt herum und entdeckte eine völlig neue Kultur. Zwar war die Sprache die gleiche wie in der Kapkolonie, in Kapstadt, doch ansonsten war man hier in einer völlig anderen Welt. Es war merkwürdigerweise gar nicht so schmutzig, alles wirkte wesentlich sauberer und europäischer als im südlichen Afrika, obwohl dieser Teil der Erde viel weiter weg von Europa lag. Arthur bestaunte die Einheimischen, die gar nichts Afrikanisches mehr an sich hatten, aber auch seiner Vorstellung von Chinesen nicht nahe kamen. Sie schienen eine ganz eigene Rasse zu sein, und Mr. Vandemaan sagte, dass hier Einflüsse von Indien, Siam, China, Australien und der Südsee zu spüren seien.

Er sah Mädchen, junge Frauen, die so unglaublich schön waren, dass er dachte, er würde träumen. Er musste sich in der Tat selbst kneifen, um zu registrieren, dass es wirkliche exotische Schönheiten waren. Doch Vandemaan ernüchterte ihn auch da schnell, indem er ihm mitteilte, dass die Prostitution ein sehr einträgliches und weit verbreitetes Geschäft in Batavia war. Wo es solche Niederlassungen mit viel Seefahrt gab, gefördert von den Ostindien-Kompanien von Holland und England oder auch Portugal, blieb das nicht aus.

Nach nur drei Tagen auf Java bekam er von der BOK die Nachricht ins Hotel übermittelt, dass am kommenden Tag die Knighthood nach Kanton auslaufen würde. Er sprach noch einmal bei Mr. Fairbanks vor und erhielt bei ihm vorläufige Papiere und Reisedokumente von der BOK.

„Ich wünsche Ihnen eine gute und glückliche Weiterreise. Wie schön, dass Sie Batavia ein wenig haben genießen können und ich hoffe, dass Sie das Ungemach, was Ihnen bislang auf der Reise hierher widerfahren ist, ein wenig vergessen konnten. Good-bye, Mr. Clennam.“

„Good-bye, Mr. Fairbanks und herzlichen Dank für Ihre prompte Hilfe.“

Am Hafen betrat er den Klipper Knighthood mit gemischten Gefühlen. Wieder eine längere Seereise. Was würde ihn denn noch alles erwarten? Wenn er ehrlich war, war er mit Abenteuern so ziemlich bedient und wünschte sich nur eine ruhige, möglichst ereignislose Überfahrt. Er meldete sich beim Ersten Offizier und zeigte diesem seine Reisepapiere.

„Ah, Mr. Clennam. Willkommen an Bord der Knighthood. Wir laufen morgen gegen zwei Uhr mittags aus, mit der Flut. Der nächste Landgang ist in Kuala Balai (Anm.: heute Kuala Belait im Sultanat Brunei) auf Borneo geplant, danach steuern wir gleich Kanton an. Sie haben nicht viel Gepäck? Waren Sie schiffbrüchig?“

„Nein, Sir, das nicht. Aber ansonsten habe ich neun sehr erlebnisreiche Monate hinter mir und möchte so schnell wie möglich nach Shanghai. Wie lange wird die Überfahrt nach Kanton dauern?“

„In etwa vier bis sechs Wochen, länger auf keinen Fall.“

„Das klingt gut. Und von dort nach Shanghai?“

„Höchstens vier Wochen, wenn alles gut geht. Das ist in etwa die Hälfte der Strecke.“

„Ich bin sehr erfreut, das zu hören. Ich werde morgen pünktlich da sein. Vielen Dank einstweilen.“

 

Kapitel neunzehn by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins

Weiterhin Kapitän, Erster Offizier und restliche Besatzung der Knighthood, sowie ein Angestellter des Büros der Britischen Ostindien-Kompanie in Kanton

Orte: Auf hoher See an Bord des Klippers Knighthood im Indischen Ozean zwischen Batavia und Kuala Balai (heute Kuala Belait im Sultanat Brunei), in Kuala Balai auf Borneo, auf hoher See an Bord des Klippers Knighthood im Südchinesischen Meer zwischen Borneo und Macao bzw. Kanton (heute die Provinz Guangdong, mit dem Vorposten Hongkong, das damals noch völlig unbekannt war), auf einer kantonesischen Insel (heute Hongkong), auf hoher See an Bord des Klippers Knighthood im Südchinesischen Meer (Straße von Formosa) zwischen Kanton und Formosa (heute Taiwan), auf Formosa bei Tai N’an

Glossar: ./.
 

 

Noch auf dem Weg zum Schiff, mit ein klein wenig Gepäck, da er sich in Batavia ein paar neue Kleidungsstücke mit dem Geld der BOK geleistet hatte, bewunderte er wiederum die unglaublich schönen Frauen, die ihm unterwegs begegneten. Flora hatte auch sehr dunkles Haar, mit wundervollen langen Locken, die sie teilweise immer hochgesteckt getragen hatte. Wie bereits mehrmals festgestellt, mochte er anscheinend den brünetten Typ.

Doch Batavia und Java waren bereits in seinem Kopf durch, lagen hinter ihm. Er richtete nun sein Augenmerk auf die bevorstehende Reise, die ihn – so Gott wollte - endlich nach China bringen würde.

Auf der Knighthood angekommen wünschte er dem Ersten Offizier höflich einen guten Tag und ergänzte sofort mit dem Anflug eines kleinen Lächelns: „… und natürlich auch Mast- und Schotbruch.“

„Mr. Clennam, Sie kennen sich aber gut in den Bräuchen der Seefahrt aus.“

„Nun, ich habe über mehrere Wochen hinweg einen verletzten Matrosen und dann auch den Schiffskoch auf der Pride of the Seas ersetzt. Die Knighthood ist ein Klipper fast gleicher Bauart, ein Drei-Mast-Vollschiff, mit der typischen Takelung der ungeteilten Großsegel, darüber die Royalsegel.“

„Oh, Mr. Clennam, da wissen wir ja, wen wir notfalls einsetzen können, sollte uns auf der Fahrt nach China ein Mann ausfallen. Sie können auch in die Rahen klettern?“

„Ich konnte, habe das aber nun schon sehr lange nicht mehr getan und bin aus der Übung.“

„Das verlernt man nicht.“

Arthur schmunzelte leicht: „Wenn Sie das sagen, Sir.“

Er bezog seine Kabine, ein sehr kleines Räumchen, das er aber für sich alleine hatte. Drehen und Wenden war darin kaum möglich, aber Arthur war zufrieden. Er hatte ganz andere Dinge auf seiner bisherigen Reise erlebt, da war eine enge Kabine leicht zu ertragen. Außerdem würde es dieses Mal auch nicht für lange sein. Ein paar wenige Wochen noch und er würde endlich Shanghai erreicht haben.

In Kuala Balai regnete es unglaublich stark. Arthur, der aus England einiges an Niederschlag gewohnt war, hatte noch niemals zuvor derartige Wolkenbrüche gesehen. Monsun nannte man das hier. An Land zu gehen war fast ein Ding der Unmöglichkeit, da man sofort bis auf die Haut durchnässt war.

Da der Ort sowieso nur eine Ansammlung von Hütten war, ohne großen Hafen, ohne Hafenmeisterei, ohne jeglichen Komfort, und das Anlegen dort nur zur Aufnahme von frischen Wasservorräten diente, war es nicht sonderlich tragisch.

Wenigstens konnte er später einmal sagen, dass er seinen Fuß auf borneonischen Boden gesetzt hatte. Wenn auch nur für einige wenige Schritte. In gewisser Weise war er froh, als die Knighthood  nach sehr kurzem Aufenthalt wieder ablegte.

Arthur staunte, als man sich zwischen Macao und dem kleinen Hafen in der Provinz Kanton vorsichtig durch eine Ansammlung, ein wahres Wirrwarr von vielen kleinen Inseln schob. Und natürlich gehörte Macao mal wieder den Portugiesen! Wäre es nicht für das Britische Empire ein Leichtes, diese chinesischen Inseln östlich von Macao unter seine Kontrolle zu bringen?

Eine der Inseln dort nannte sich Heung Gong Tsai (Anm.: heute Aberdeen auf Hongkong Island und der Name der Hauptinsel ist wohl mehr als deutlich von diesem kantonesischen Wort abgeleitet), wo die Knighthood nun auch ankerte und dort gab es ein kleines Büro der BOK.  

Was Arthur dort fand, ließ ihn fast in Tränen ausbrechen, vor allem, weil es der Tag seines Geburtstags war: Von der Pride of the Seas hatte ein anderes Schiff nämlich sein erstes Reisetagebuch, einige seiner Vorratsbücher und die Wellhornschnecke, die er am Strand von Sao Tomé von einer Einheimischen geschenkt bekommen hatte, mitgebracht. Er fasste es nicht!

Bei einem anschließenden Rundgang bestaunte er Häuser, die zwar nicht von großem Reichtum, aber von Stil und einer gewissen Eleganz zeugten. Die Boote auf dem Wasser sahen merkwürdig aus, sehr exotisch. Es schien, dass sich das Leben an diesem Ort mehr auf dem Wasser denn an Land abspielte. Auf diesen Booten, die teilweise zu mehreren miteinander vertäut waren, gab es so gut wie alles: Essen, Trinken, Kleidung, einfach alles, was man zum Leben brauchte.

Die Insel war sehr hügelig, fast bergig und von prachtvoller Vegetation, alles war sehr grün. Der erste Eindruck von China war durchaus positiv, Arthur fühlte sich recht wohl auf diesem Fleckchen Erde. China! Endlich! Auch wenn er noch in etwa drei Wochen entfernt von Shanghai war, überkam ihn ein regelrechtes Glücksgefühl, dass er nun chinesischen Boden unter den Füßen hatte. Nach einer halben Ewigkeit und Abenteuern, die einem kaum einer zu Hause in England glauben würde, hatte er es endlich geschafft!

Glücklich blätterte er in den Seiten seines Reisebuches und entdeckte in dem Buch über die an Bord genommenen Vorräte auf einigen Seiten Martins leicht unbeholfene, ungeübte Handschrift, was ihn erneut in tiefe Trauer versinken ließ. Der gute Martin! Noch immer gab er sich die Schuld an seinem Tod, an dem unseligen Zwischenfall mit dem Mörderhai.

Arthur wusste, diese Sache hatte eine tiefe seelische Wunde in ihm hinterlassen, er würde immer eine leichte Melancholie in sich tragen, vermutlich sein ganzes restliches Leben lang.

Die Schätze, die er in der chinesischen Niederlassung der BOK gefunden hatte, an sein Herz drückend, betrat er zufrieden die Knighthood zur letzten Etappe,  der Fahrt nach Shanghai.

Sie umschifften die Inselwelt dieser Bucht geschickt und nahmen Fahrt Richtung südchinesisches Meer auf.

Ein paar Tage darauf kam starker Wind auf und man musste einige der Segel einholen, damit sie nicht zerrissen. Arthur sprang sofort hinzu und legte mit Hand an, da er sah, dass die Matrosen hoffnungslos überfordert von dem plötzlichen Wetterumschwung waren. Er fand rasch wieder in die Aufgaben hinein und fügte sich nahtlos in das Gefüge der Mannschaft ein. Auf dem Weg nach unten, in die geschützten Kajüten, dankte ihm der Erste Offizier, der ebenso komplett durchnässt war wie Arthur auch: „Das war sehr großzügig von Ihnen, Mr. Clennam. Sie haben Ihr Handwerk recht gut gelernt, Respekt.“

„Danke, Sir, wenn es recht ist, versuche ich nun, mir etwas Trockenes anzuziehen und mich niederzulegen. Ich mag zwar an Deck gerade recht hilfreich gewesen sein, aber wenn es ganz arg stürmt, ich gestehe es offen, bin ich zu nichts zu gebrauchen, da ich dann sehr zu meinem Leidwesen immer fürchterlich seekrank werde.“

Der Offizier nahm eine Hand, mit der er sich schon jetzt an einem Querbalken abstützen musste, weg und klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter: „Nun, das passiert erheblich mehr Seeleuten als Sie denken, machen Sie sich also nichts draus. Ruhen Sie sich aus, wenn möglich. Ich schätze, der Taifun wird uns ordentlich zusetzen, also richten Sie sich schon einmal vorsorglich auf eine unbequeme Nacht ein. Viel Glück.“

„Vielen Dank, mir schwant nichts Gutes. Aber ich habe mich bereits mit einem Holzkübel eingedeckt, denn ich befürchte, gewisse Dinge werden sich wohl nicht vermeiden lassen bei diesem Unwetter. Gute Nacht, Sir.“

Der Taifun wütete sehr in der Nacht und Arthur ging es gar nicht gut. Er hatte höllische Angst, zu guter Letzt, kurz vor Erreichen des Zielhafens, nun doch noch schiffbrüchig zu werden und schickte zwischen seinen Brechanfällen ein Stoßgebet nach dem anderen zum Himmel.

Ihm blieb aber auch wirklich gar nichts erspart. Wo er es doch so sehr hasste, dass ihm die Seekrankheit diese unerträgliche Übelkeit auferlegte, die ihn ständig dazu zwang, sich übergeben zu müssen.

Gegen Morgen musste er wohl in einen Erschöpfungsschlaf gefallen sein, denn als er wie gerädert seine Augen aufschlug, nahm er außer dem säuerlichen Geruch, der ihm aus dem Brechkübel entgegenschlug, nichts weiter sonst wahr. Keine Schiffsbewegungen, kein Windtosen, keine Regengeräusche. Mühsam erhob er sich aus seiner Koje und zog sich seine Hose über. Dann kletterte er unsicher an Deck und riss erstaunt die Augen auf: Das Schiff lag in leichter Schräglage an einem Sandstrand. Sie waren irgendwo gestrandet! Wunderbar, das hatte ihm gerade noch gefehlt!

Um das gestrandete Schiff herum war bereits die Mannschaft dabei, den Schaden zu begutachten. Arthur lief langsam die Planken herunter, die jemand bereits von der Reling zum Strand ausgelegt hatte.

Der Erste Offizier kam auf ihn zu: „Guten Morgen. Auch wenn es auf den ersten Blick schlimm aussieht, ist die Lage so übel nicht. Wir bekommen den Kahn wieder flott, es sind keine Schäden aufgetreten, die uns an einer Weiterfahrt hindern würden. Wir befinden uns ganz in der Nähe der Siedlung T’ai Nan auf der Insel Formosa, oder wie die Chinesen sagen, T’ai Wan.“

Arthur nickte abwesend und fragte sich, woher man diese Zuversicht nahm. Für sein Dafürhalten war es ein Ding der Unmöglichkeit, die Knighthood wieder in tiefes Fahrwasser zu bekommen. Aber die Seeleute hatten einen entsprechenden Erfahrungsschatz und darauf musste er wohl oder übel vertrauen. Wenn er durch Handreichungen dazu beitragen konnte, würde er es natürlich tun. Man würde ihm nur sagen müssen, mit welchen Aufgaben man ihn zu betrauen gedachte und er würde diese Arbeiten selbstverständlich verrichten.

 

 

Kapitel zwanzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Cha-Li – Boy im Hause Clennam in Shanghai
Gabriel Clennam – Vater von Arthur, Näheres auch unter Kapitel eins

Weiterhin Kapitän, Erster Offizier und restliche Besatzung der Knighthood, sowie Einheimische auf Formosa, ein Angestellter der Britischen Ostindien-Kompanie in Shanghai, ein Rikscha-Fahrer

Orte: Auf Formosa bei Tai N’an, auf hoher See an Bord des Klippers Knighthood zwischen Formosa und Shanghai, in Shanghai im Büro der Britischen Ostindien-Kompanie, im Haus der Clennams in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar:
Rikscha – zweirädriger Karren zum Transport von Menschen und Waren, anstatt von Huftieren jedoch von Menschen gezogen, damals zu Fuß laufend, heute mit dem Fahrrad oder Moped unterwegs
Jia – chinesisch: Haus/Familie
Laoyé – chinesisch: gnädiger Herr
Shaoyé – chinesisch: Sohn des gnädigen Herrn/junger Herr

 

Sie gruben kleine Kanäle um das Schiff herum, in die die Flut dann einiges an Wasser spülen würde. Zusätzlich wurden lange Taue gespannt, damit der Großteil der Mannschaft den Klipper ins Meer ziehen konnte, wenn er erst einmal ein klein wenig Wasser unter dem Kiel haben würde. Arthur hatte kräftig mit gegraben, auch wenn er sich nach der Sturmnacht völlig ausgelaugt fühlte. Doch ein paar Tassen heißer, süßer Tee und ein bisschen Zwieback hatten ihn schnell wiederhergestellt. Mit der ersten Flut, die kam, konnten sie leider noch nichts anfangen, da die Kanäle noch nicht tief genug ausgehoben waren. Doch während der folgenden Ebbe konnten die Arbeiten vollendet werden und alle warteten gespannt auf das Einsetzen der nächsten Flut. Zwischenzeitlich stärkten sich alle an ein paar einfachen Speisen, die man teils in der Kombüse gekocht und teils eiligst aus T’ai Nan hergeschafft hatte.

Dann schleppte man unter Zuhilfenahme etlicher chinesischer Männer das Schiff mühevoll zu Wasser, mit so viel Kraft, wie notwendig, aber auch ebenso mit der gebotenen Vorsicht, damit nichts an dem Klipper zerstört wurde. Es gelang unter großen Mühen und in allerletzter Sekunde, bevor die Flut wieder der Ebbe weichen würde. Endlich schaukelte die Knighthood wieder sanft und kerzengerade auf dem Meer.

Total entkräftet fiel Arthur in sein Bett und schlief mehr als zwölf Stunden am Stück durch.

Die restliche Passage durch die Straße von T’ai Wan verlief ebenso reibungslos wie die weitere Fahrt bis Shanghai, ein Umstand, den Arthur kaum glauben konnte.

Er war sehr aufgeregt, als die Knighthood endlich die breite Mündung des Yangtse-Flusses erreicht hatte und diesen ein gutes Stück flussaufwärts fahren musste. Noch unterschied sich der Fluss kaum vom Meer, doch es war China – nach elf Monaten Reise! Er konnte nun erst ermessen, was die ganzen Handelsschiffe und Klipper auf sich nehmen mussten, um Waren von China oder Indien nach Europa zu transportieren. Da war jedes Gramm Tee und jeder seidene Stoff mehr als seinen Preis wert, so viel war ihm nun klar.

Die Reise war mit Erreichen des Yangtse jedoch noch nicht zu Ende, denn erst musste man von dort aus nach links in den Fluss Huangpu einbiegen, dann erst kam man nach Shanghai. Das alles dauerte seine Zeit, und war nicht in einem Tag getan. Erstmals bekam Arthur einen Eindruck von den riesigen Ausmaßen und Dimensionen des Landes, wenn schon die Einfahrt in die Flüsse Yangtse und Huangpu mehrere Tage dauerte.

Erst nachdem der Huangpu eine scharfe Rechtsbiegung machte, ging die Mannschaft daran, das Landemanöver einzuleiten. Eine halbe Stunde später betrat Arthur Clennam nach einer wahren Odyssee Shanghai. Glücklicherweise hatte er in seinen alten Reisedokumenten die Adresse des Privathauses seines Vaters wieder gefunden, ansonsten hätte er jemanden von der BOK um Erteilung einer entsprechenden Auskunft bitten müssen. Anzunehmen, dass dort nur die Stoffmanufaktur von Clennam & Sons bekannt war, dann hätte er eben zuerst dorthin gemusst. Es würde ohnehin schwierig sein, zum Haus zu kommen, denn wie Arthur bereits in Kanton festgestellt hatte, gab es in China keine Droschken. 

Er hatte dort nur kleine, zweirädrige Karren gesehen, die von einem Chinesen gezogen wurden, der sich im Laufschritt fortbewegte.

Auch die Verständigung erwies sich als kompliziertes Unterfangen. Arthur wusste, er würde sich dem Fahrer des Karrens irgendwie verständlich machen müssen, aber die große Frage war, wie?

Lesen konnten diese Leute nicht, selbst wenn die Adresse in chinesischen Zeichen geschrieben sein würde. Also musste er lernen, wie man es aussprach. Daher führte ihn sein Weg doch zuerst in die Niederlassung der BOK.

„Guten Tag. Mein Name ist Arthur Clennam, ich bin vor etwa einer Stunde an Bord des britischen Klippers Knighthood hier angekommen und möchte nun zum Haus meines Vaters weiter. Die Adresse ist mir bekannt, jedoch scheint es mir nicht ganz einfach, eine Transportmöglichkeit dorthin zu finden. Könnten Sie mir freundlicherweise behilflich sein?“

Sie sind Mr. Arthur Clennam? Wirklich und wahrhaftig?”

“Ja. Weswegen fragen Sie?“

„Ihr Vater spricht seit Wochen bei uns vor, da er in ständiger Erwartung Ihrer Anreise war. Dann erhielten wir die Nachricht, dass das Schiff auf welchem Sie reisten, die Pride of the Seas, untergegangen wäre. Und nun sind Sie mit der Knighthood eingelaufen? Ein wahres Wunder, Sir.“

„Ich stimme Ihnen vorbehaltlos zu. Es grenzt so ziemlich an ein Wunder, ja.“

„Ihr Vater war sehr in Sorge und dachte in den letzten Tagen und Wochen, dass Sie sicher den Tod gefunden haben müssten.“

Arthur runzelte nachdenklich die Stirn: „Es wäre schön, wenn er sich schnellstmöglich vom Gegenteil überzeugen könnte. Wie komme ich zu seinem Haus, bitte?“

„Ich lasse Ihnen eine Rikscha vorfahren und gebe dem Fahrer die Adresse durch. Das Haus liegt südlich von hier, in Xujiahu Qu (Anm.: sprich Schuiahu Tschu, heute ein Innenstadtteil von Shanghai, inzwischen nur noch Xuhui genannt). Es ist ein gutes Stück außerhalb, aber sehr idyllisch gelegen.“

„Rikscha… heißt so dieses zweirädrige Gefährt, das von einem Einheimischen gezogen wird?“

„Genau so ist es, Mr. Clennam. Sie werden sicher schnell ein paar chinesische Begriffe und Worte lernen. Nur die Schrift ist nicht einfach.“

„Es gibt hier keine Pferde und Kutschen?“

„Oh nein, so etwas gibt es hier nicht.“

„Und die Arbeit auf dem Feld? Wer verrichtet die, wenn es keine Rösser gibt?“

„Die Reis- und Gemüsebauern arbeiten hier mit Wasserbüffeln wohl annähernd genauso, wie in Europa mit Ackergäulen gewirtschaftet wird.“

„Interessant. Danke für die Auskunft. Und danke für Ihre freundliche Hilfe.“

„Gern geschehen. Und nun bitte, Ihre Rikscha ist da!“

Arthur fühlte sich nicht gut in der Rikscha. Sich bequem zurückzulehnen und den Chinesen sich bis zur totalen Erschöpfung abschuften zu lassen, kam ihm irgendwie nicht richtig vor. Warum in aller Welt machten die Chinesen es sich so schwer und ließen diese Karren nicht von Tieren, Pferden, zur Not halt Maulesel, ziehen? Er verstand das ganze Prinzip nicht.

Und er schwitzte schon ganz unfein nur vom Sitzen in diesem Ding. Wie musste sich dann sein Fahrer erst fühlen in dieser schwülen Hitze Shanghais?

Nach fast einer Stunde Fahrt, eine Leistung, die Arthur großen Respekt abnötigte, hielt die Rikscha an und der Fahrer drehte sich breit grinsend zu ihm um: „Jia Clennam.“

Umständlich schälte er sich aus dem Sitz und nahm seine Reisetasche an sich. In der BOK hatte man ihm versichert, dass sein anderes Gepäck, ohnehin nicht viel, in Kürze nachgebracht werden würde. Arthur vermutete, dass man dafür erneut den Rikscha-Fahrer hier hinaus schicken würde.

Der Rikscha-Fahrer sprach sogar noch mit einem anderen Chinesen, der an einem malerischen, fast tempelähnlich umbauten Tor stand. Dieser verneigte sich nun und geleitete den europäischen Gast durch einen kleinen, sehr exotisch und verspielt wirkenden Garten.

Der Chinese bedeutete Arthur mit einer Geste in einer Halle hinter der Eingangstür zu warten. Dann verschwand er.

Es klopfte bei Gabriel Clennam: „Bitte!“

„Laoyé, ein Mann gekommen.“

„Ein Mann, Cha-Li? Woher?“

„Rikscha.“

„Das dachte ich mir schon. Wie ist sein Name?“

„Cha-Li nix weiß.“

„Also gut, ich komme.“

Mit einem Seufzer erhob sich Mr. Clennam und folgte dem Diener hinaus. Sie gingen einen kleinen Flur um einen hübschen Innenhof herum und bogen dann in die Halle.

Gabriel Clennam musterte im Halbdunkel des hereinbrechenden Abends den groß gewachsenen Mann vor ihm: „Ja bitte? Was verschafft mir die Ehre Ihres Besuches, Mr. …?“

„Vater?“

„Wer… wer sind Sie?“

Es klang sehr gepresst und voller Vorahnung.

Sein Gegenüber holte Luft, das konnte er deutlich hören und antwortete dann: „Arthur. Ich… ich bin dein Sohn Arthur.“

Man hätte in diesem Moment ganz bestimmt eine Stecknadel fallen hören können.

Dann sprudelte es aus Gabriel Clennam heraus: „Herr im Himmel, ich danke dir! Meine Gebete sind erhört worden. Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt, dass du heil in Shanghai ankommen würdest. Seit Tagen plage ich mich mit dem Gedanken, ob ich einen Brief nach Hause schicken soll, worin ich die traurige Nachricht hätte verkünden müssen, dass du auf See verschollen bist. Und nun das! Das ist wahrlich eine Überraschung! Ich habe dich nicht einmal erkannt!“

Gabriel Clennam lachte befreit auf: „Und weißt du auch, warum? Weil ich dich ständig als halbwüchsigen Jüngling vor meinem geistigen Auge sah, und nicht als den großen, stattlichen Mann, der mir nun gerade gegenüber steht. Es ist unglaublich! Der alte Gabriel Clennam erkennt seinen eigenen Sohn nicht, hält ihn für einen fremden Besucher.“

Arthur wirkte etwas sprachlos und verloren angesichts des Gefühlausbruchs und Redeschwalls seines Vaters.

Dieser redete beseelt weiter: „Aber nun sehe ich es, denn du hast genau die gleichen kornblumenblauen Augen wie d… - so viele in unserer Familie. Sag schon, Junge, wie bist du letztendlich hergekommen? Und wie unverantwortlich und unhöflich von mir, dich hier in der Halle stehen zu lassen. Los, komm mit. Wir gehen in mein Arbeitszimmer. Cha-Li, eine Tasse Tee für meinen Sohn!“

Der Chinese riss erstaunt die Augen auf: „Das Shaoyé?“

„So ist es, Cha-Li. Bitte beeil dich!“

Der Chinese verneigte sich, grinste und sauste davon.

 

Kapitel einundzwanzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Cha-Dong – Bruder von Cha-Li, zweiter Boy im Hause Clennam in Shanghai

Erwähnung finden Mrs. Clennam, Gilbert Clennam und Jeremiah Flintwinch

Orte: Im Haus der Clennams in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar:
Zao an – chinesisch: Guten Morgen
Bù – chinesisch: Nein
Juébù – chinesisch: keinesfalls, niemals, nochmals nein!

 

Gabriel Clennam traute seinen Ohren nicht: „Wie bitte? Du bist auf vier verschiedenen Schiffen gekommen? Du liebe Zeit!“

„Ja, und auf einem davon war ich nicht unbedingt freiwillig Passagier.“

„Mein armer Junge. Was du alles hast mitmachen müssen. Ich fasse es nicht.“

„Es ist vergessen und vorbei. Ich bin ja nun hier.“

„Wie ruhig du das sagst. Bewundernswert für einen jungen Mann Anfang zwanzig. Wie lange bist du nun unterwegs gewesen?“

„Elf Monate und ein paar Tage.“

„Ja, es gibt Schiffe, die haben durch gute Winde und günstige Witterung die Passage in nicht einmal ganz neun Monaten geschafft. Du bist fast drei Monate länger auf der Reise gewesen.“

„Mit mindestens neun Monaten hatte ich von vorneherein gerechnet. Der Rest geht auf das Konto von Stürmen, Flauten, unvorhergesehenen Reparaturen, Schiffbruch und den vermaledeiten Piraten, natürlich.“

„Dass du das alles ohne einen Kratzer überstanden hast, grenzt an ein Wunder.“

Arthur lächelte leicht: „Nun, ganz ohne Kratzer ist nicht ganz korrekt. Ich litt erheblich unter Seekrankheit, hatte ein schweres Fieber aufgrund eines Hitzschlages und bin brutal von den Freibeutern niedergeschlagen worden, so dass ich drei Tage lang kaum gehen konnte.“

„Umso größer das Wunder. Wie ging es deiner Frau Mama, als du sie verlassen hast?“

„Wie immer, würde ich sagen. Sie schien sehr froh, mich endlich loszuwerden.“

„Es hat mir sehr leid getan, dass ich beim Tode deines Großvaters nicht habe da sein können. Ich habe erst Monate danach davon erfahren. Ich hoffe, mein Vater hat nicht lange zu leiden gehabt.“

„Großvater ist recht überraschend gestorben. Es war ein Schock für uns alle. Er hat mir so unglaublich viel beigebracht. Im Gegensatz zu Mutter war er immer für mich da, stets ansprechbar in allen Belangen. Er hat mich immer sehr unter seine Fittiche genommen. Nach seinem Tod war es auch im Geschäft nicht mehr wie früher.“

Gabriel Clennam beugte sich vor und fragte: „Geht das Geschäft denn nicht gut?“

„Doch, es geht soweit. Flintwinch hat sich sehr um einige Dinge gekümmert, wirklich hilfreich zuweilen.“

„Das freut mich. Wenn er nicht diese leichte Missgestaltung hätte, würde er vielleicht sogar mal eine Frau finden.“

„Flintwinch? Dad, mach’ keine Witze. Welche Frau würde ihn nehmen?“

„Du hast Recht. Es wäre sehr unwahrscheinlich. Aber man weiß nie.“

„Der Tee ist exzellent. Dad, sei mir nicht böse, zwar bin ich sehr froh, hier zu sein und dich zu sehen, aber weiterreden würde ich lieber morgen, denn ich bin, ehrlich gesagt, ziemlich erschöpft und müde.“

Mr. Clennam sprang sofort auf und nickte zustimmend: „Natürlich, natürlich. Wie dumm von mir, dich gleich so zu beanspruchen. Ich lasse Cha-Li kommen, damit er dir dein Zimmer zeigt. Sei nicht überrascht, es ist kein Zimmer, wie du es seither gewohnt bist. Hier in China ist alles ein wenig anders. Cha-Li!“

„Vater, ich habe teilweise auf dem blanken Boden schlafen müssen, mir ist alles recht, wenn ich nur schlafen kann. Ohne Wasser unter dem Kiel zu haben, auf festem Grund und Boden.“

Der Chinese trat ein, sein unvermeidliches Grinsen auf den Lippen: „Laoyé rufen Cha-Li?“

„Ja, bitte zeige Shaoyé seinen Schlafplatz. Er ist sehr müde.“

„Müde, ja, Shaoyé?“

„Er fragt dich, Arthur. Shaoyé ist das chinesische Wort für ‚junger Herr’.“

Arthur nickte und wiederholte: „Ja, ich bin sehr müde, Cha-Li. Gute Nacht, Vater. Morgen fühle ich mich sicher besser und werde in der Lage sein, die Seidenwebereien anzusehen.“

„Das eilt nicht. Ruh’ dich aus, schlaf so lange es dir beliebt, du hast hier einen Status, für den es keinen Vergleich in England gibt. Früher hätte man es vielleicht mit dem Begriff ‚Feudalherr’ beschrieben, auch wenn es das nicht ganz trifft. Man führt hier ein sehr bequemes, um nicht zu sagen, luxuriöses Leben, Arthur. Gute Nacht.“

Ein bequemes, luxuriöses Leben. Na, das waren ja wundervolle Aussichten nach den Strapazen einer fast einjährigen Reise. Arthur war ein wenig befremdet, als er ein Bett sah, das sehr groß, aber auch sehr niedrig war und aus dicken, lackierten Bambusrohren gebaut war. Großer Gott, das sollte für ihn sein? Das war ja dreimal so groß wie seine Koje auf dem Schiff. Es konnte eine ganze Familie darin schlafen.

Anstatt Fenster hatte der Raum jedoch große, mit einem filigranen, exotischen Lochmuster versehenen Holztüren, die hinaus auf den Innenhof führten und teils mit Lackmalereien vertäfelte Wände.

„Wenn Shaoyé brauchen etwas, Cha-Li rufen!“

„Danke. Es ist alles wunderbar. Gute Nacht, Cha-Li.“

Komischerweise war an Schlaf trotz großer Erschöpfung erst einmal nicht zu denken. Das riesige Bett, die ungewohnte Umgebung, die fast unerträgliche Schwüle - kein Lüftchen regte sich - all das hinderte ihn am Einschlafen. Auf See war es selten so heiß gewesen und wenn, hatte er sich die Hängematte an Deck irgendwo hingehängt und den Sternenhimmel nachts betrachtet.

Er wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere und fand doch keine Ruhe. So kroch er aus dem Bett und öffnete die Terrassentür aus Sandelholz.  Dahinter kam der Innenhof des Hauses zum Vorschein, nicht übermäßig groß, jedoch wunderschön, selbst nun, im Dunkel der Nacht. In der Mitte war ein kleiner Teich, darin schwammen munter einige Goldfische. Aber auch hier draußen stand die Luft und keine einzige leichte Brise brachte ein wenig Erleichterung. Das tiefe Durchatmen an der Nachtluft half Arthur also kaum etwas. Es blieb heiß und stickig.

So kehrte er zurück ins Bett, entzündete eine Kerze und öffnete seine Reisetagebücher. Darin las er, bis ihm endlich die Augen zufielen, als Konsequenz seiner Übermüdung.

Die Hitze ließ ihn jedoch nicht lange in den Morgen hinein schlafen. Er wachte träge und leicht desorientiert auf, dann wurde ihm schlagartig klar, dass er in Shanghai im Hause seines Vaters war.

Es dauerte keine Minute, da stand Cha-Li mit einer Tasse Tee in der Hand im Raum: „Zao an, Shaoyé! Schlafen gut?“

„Guten Morgen, Cha-Li. Nein, ich habe nicht so gut geschlafen, es war einfach zu heiß. Danke für den Tee.“

„Laoyé sagen, Shaoyé brauchen eigenen Diener. Cha-Li Bruder da, Cha-Dong.“

„Ich denke, das wird nicht nötig sein. Ich bin sehr anspruchslos.“

„Bù! Juébù! Ehre für Cha-Dong!

„‚Bù’, das heißt doch Nein, nicht wahr, Cha-Li?“

Der Chinese wand sich verlegen, es war nicht Recht, der Herrschaft Widerworte zu geben, doch dann neigte er den Kopf und murmelte leise: „Verzeihung, Shaoyé, heißen ganz viel ‚Nein’. Cha-Li nix gut!“

„Nun gut. Lass deinen Bruder herein. Ich werde mit meinem Vater reden, er soll wegen mir nicht so einen Aufwand betreiben. Ich bin so etwas gar nicht gewohnt.“

Cha-Li verneigte sich, verschwand für ein paar Sekunden und schob dann einen Mann vor sich her, der für Arthurs Begriffe ganz genauso ausschaute wie sein Bruder.

„Seid ihr Zwillinge?“

„Nein, Cha-Dong ein Jahr jünger.“

„Oh. Ihr seht euch sehr ähnlich.“

„Langnasen auch aussehen alle gleich für Chinesen.“

„Wirklich? Das hätte ich nicht gedacht. Also, kann dein Bruder Englisch, Cha-Li?“

„Nix. Aber lernen. Gleich. Und Shaoyé dann lernen Chinesisch. Gut.“

Arthur schmunzelte und murmelte für sich: „Das kann ja heiter werden“, dann wandte er sich wieder den Cha-Brüdern zu: „Cha-Li, du wirst ihm sagen, was seine Pflichten sind, oder?“

„Ja. Cha-Li ganz streng zu Bruder. Und wenn Fehler, Cha-Li ihn schlagen.“

„Nicht doch. Bitte nicht! Das möchte ich nicht, verstanden?“

„Shaoyé nix schlagen Diener?“

„Ist das in diesem Haus so üblich? Werden die Bediensteten hier geschlagen? Falls dem so ist, werde ich mit – wie heißt das… Laoyé? – dringend darüber sprechen müssen.“

„Nix üblich. Laoyé gut. Nur fragen, ob Shaoyé auch gut.“

„Ja, Cha-Li, ich bin auch gut zu euch, keine Sorge.“

Die beiden entfernten sich und Arthur setzte sich seufzend im Bett auf. Das war alles bedeutend komplizierter als gedacht. Abwesend nippte er an seinem Tee. Er würde wohl nicht umhin kommen, als Erstes richtig Chinesisch zu lernen. Ohne ein wenig besser Chinesisch zu können, war es für Arthur kaum vorstellbar, hier in diesem Land für längere Zeit leben zu können.

Die wenigen Brocken, die man ihm in England auf die Schnelle beigebracht hatte, kamen ihm völlig unnütz vor; überdies hatte er den Eindruck, dass er eine völlig falsche Sprache gelernt hatte.

Er stand auf und kratzte sich nachdenklich am Kopf.

Da tauchten auch schon die Cha-Brüder wieder auf, Cha-Dong stets ein Schatten seines Bruders, offensichtlich um zu lernen, während Cha-Li meldete: „Gepäck von Shaoyé da. Bringen herein.“

„Danke.“

„Und Laoyé warten auf Shaoyé. Wollen Frühstück.“

„Gut. Öffnet mal diese Tasche, da müssten frische Hemden drin sein.“

„Oh, Bruder packen gleich aus. Jetzt Shaoyé ziehen an chinesisch.“

Arthur hob fragend seine Augenbraue, da hielt ihm Cha-Dong bereits einen kostbaren, reich bestickten Morgenmantel aus dunkelgrüner Seide hin. Er schlüpfte erwartungsvoll hinein und war begeistert. Das Material war luftig und leicht, sehr angenehm auf der Haut und er kam sich unerhört dekadent darin vor.

„Ist das aus unserer Fertigung?“

„Ja, aus Clennam-Weberei.“

„Wundervoll, Cha-Li.

“Ja. Shaoyé aussehen wie Prinz.“

 

 

Kapitel zweiundzwanzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig

Weiterhin Rikscha-Fahrer und Briten im Club

Erwähnung finden Mrs. Clennam, Gilbert und George Clennam, Martin Brown und die Piraten

Orte: Im Haus der Clennams in Shanghai/Xujiahu Qu, im britischen Club in Shanghai

Glossar: ./.

 

Sein Vater blickte ihm erwartungsvoll von einem schwarz lackierten Esstisch entgegen: „Arthur, du siehst prächtig in dem seidenen Mantel aus.“

„Guten Morgen, Vater. Danke. Die Cha-Brüder haben ihn mir förmlich aufgenötigt. Ah, mehr Tee, das ist gut.“

Arthur schenkte sich eine Tasse ein und nippte daran.

„Der Stoff wurde in unserem Betrieb gefertigt und dann habe ich den Mantel nähen und mit typischen chinesischen Motiven besticken lassen. Jedes Motiv steht in China für eine symbolhafte Bedeutung: Der Kranich symbolisiert die Vater-Sohn-Beziehung und steht auch für Weisheit und hohes Alter. Der Tiger spricht für sich selbst, er bedeutet Mut und Tapferkeit, was du auf deinem Weg hierher ja oft bewiesen hast. Die Narzisse ist ein Glücksbringer. Die Zypresse verheißt langes Leben und Kinderreichtum. Nun ja, letzteres hat bei dir sicher noch ein wenig Zeit. Ein Drache würde Macht und Stärke bedeuten, aber dieses Motiv ist dem Kaiser vorbehalten, und ich wollte nicht anmaßend sein.“

„Sehr weise von dir, Vater. Bezüglich des Kinderreichtums bin ich ebenfalls deiner Meinung. Jedoch – ich hoffe, du verzeihst meine Offenheit schon beim Frühstück – habe ich mich schon öfter gefragt, warum ich ein Einzelkind bin. So gut wie alle in meinem Alter haben Geschwister, von etwas ärmeren Familien ganz abgesehen, die ja meist sehr viele Nachkommen haben.“

Gabriel Clennam überlegte lange, bevor er leicht bedrückt antwortete: „Nun, es ging deiner Mutter nach deiner Geburt nicht sonderlich gut. Und so haben wir eben auf weiteren Nachwuchs verzichtet. Wobei es ganz gelegen kam, dass ich, zunächst gemeinsam mit deinem Großvater, wegen des Geschäftes sehr oft im Ausland tätig war. Für dich tut es mir leid, Junge, denn ich konnte dir auf Grund meiner vielen Abwesenheit meist kein guter Vater sein. Aber… das Familienunternehmen war und ist nun mal wichtig.“

„Das verstehe ich. Großvater war ja dann für mich da. Er hat sich sehr bemüht, dich zu ersetzen.“

„Ich weiß. Dafür bin ich meinem Vater im Nachhinein noch sehr dankbar.“

Arthur stellte noch eine weitere Fragen, die ihm ebenfalls schon länger auf der Seele brannte: „Dad, noch etwas: Eigentlich haben die Clennam Männer immer Vornamen erhalten, die mit dem Buchstaben ‚G’ anfingen. Urgroßvater hieß George, Großvater Gilbert und du trägst den Namen Gabriel. Wieso hat man bei mir mit dieser Tradition gebrochen?“

Wieder dachte Mr. Clennam eine Weile nach, dann versuchte er zu lächeln und erwiderte leichthin: „Du misst dem zu große Bedeutung zu. Es hat nichts zu sagen, ist reiner Zufall. Großvater gefiel der Name Arthur und mir auch.“

„Mutter nicht?“

„Ähm, doch… auch, natürlich.“

Obwohl Arthur das alles ein wenig merkwürdig fand, gab er sich mit den Antworten zufrieden und hüllte sich behaglich in den schönen seidenen Morgenrock.

„Ich werde dir heute ein bisschen was von Shanghai zeigen, vor allem den Club. Sie alle dort waren schon sehr neugierig, dich kennen zu lernen, und als es dann hieß, du wärest umgekommen, herrschte große Betroffenheit unter den britischen Familien hier.“

„Ist es eine große Kolonie Briten?“

„Nicht sonderlich. Sehr überschaubar und familiär. Nicht so wie in vielen Städten Indiens, wo kaum noch jeder jeden kennt.“

„Vater, wie ist mein Gepäck hierher gekommen?“

„Wie sollte es schon hierher kommen, eine Rikscha hat es gebracht.“

„Darauf baut meine nächste Frage auf: Ich hoffe, der Club ist zu Fuß erreichbar, denn ich finde nicht, dass Rikschas ein erstrebenswertes Transportmittel sind.“

„Nun werde bitte nicht albern! Es ist die gängige Art, sich hier von einem Ort zum anderen zu bewegen. Zu Fuß gehen hier nur die Chinesen selbst und die Pferdehaltung ist dem hohen Militär und dem Kaiserhaus vorbehalten. Niemand sonst hat hier Pferde. Und selbst wenn ich eines hätte, wüsste niemand wie man es versorgt, wo man es unterstellt und entsprechende Kutschen dafür gibt es auch nicht. Also bitte.“

„Vater, Rikscha fahren ist unmenschlich. Man könnte das Rikscha-Prinzip ja für eine neue Art von Kutschen anwenden, sie umkonstruieren zur Nutzung mit Pferden.“

„Du bist ganz schön halsstarrig. Vom wem hast du das nur?“

„Mutter ist zuweilen so.“

„Nein, sie ist auf andere Art stur. Sie ist… ach, vergiss es. Zurück zu den Rikschas: Ich sehe schon, wie du aus der Clennam’schen Seidenfabrikation eine Wagenbau-Kompanie machst!“

Doch Arthur war nun in Fahrt. Wenn er sich einmal in Rage geredet hatte, dann war er so schnell nicht mehr zu aufzuhalten: „Weil ich nicht möchte, dass sich ein Mensch halb zu Tode rennt, nur um mich in einen elitären Club zum Lunch zu bringen. Ich habe auf meiner Reise hierher gesehen, wie Menschen aus Afrika wie Vieh auf ein Schiff in die Kolonien getrieben wurden, in die Sklaverei. Und das, obwohl die Sklaverei per Gesetz verboten ist.“

„In England, mein Sohn, aber in vielen anderen Ländern nicht. Du bist zu gut für diese Welt.“

„Vielleicht bin ich das. Aber wenigstens habe ich Prinzipien. Schließen wir einen Kompromiss: Heute fahren wir noch einmal Rikscha und du versprichst mir, dass wir uns nach Alternativen dazu umsehen, ja?“

„Das klingt mehr nach einem Ultimatum als nach einem Kompromiss. Nun gut, ich höre und sehe mich entsprechend um, vielleicht lässt sich ja das Unmögliche aus dem Boden stampfen, du Sturkopf!“

„Danke, Vater.“

Zurück in seinem Zimmer hatten die beiden Chinesen seine Sachen bereits ausgepackt. Cha-Li wurde nun aber von Mr. Clennam für eigene Dienste abgezogen und so musste Arthur sich mittels Zeichensprache mit Cha-Dong verständigen. Er deutete der Einfachheit halber immer auf ein Kleidungsstück und ließ sich dieses von einem recht ehrfürchtig dreinschauenden Cha-Dong reichen. Als er angekleidet war, kam Cha-Li wieder und gab dazu quasi seinen Segen. Dann reichte er Arthur einen wundervollen leichten Strohhut: „Von Laoyé für Shaoyé. Gut für Wetter in Shanghai.“

Arthur war froh, als sie zum Lunch im Britischen Club eintrafen. Während der Fahrt mit der Rikscha hatte er versucht, an andere Dinge zu denken.

Die Herren dort waren überaus angetan von der Tatsache, dass der junge Mr. Clennam glücklicherweise noch am Leben war und endlich Shanghai erreicht hatte. Er wurde herumgereicht wie ein Stückchen Torte und musste unzählige Hände schütteln, sowie ständig Leute begrüßen und auf deren Grüße antworten.

„Wie alt ist Ihr Sohn nun, Clennam?“

„Ah, gute Frage. Arthur, wann bist du geboren? 1802, nicht wahr?“

„So ist es, Vater.“

„Nun, dann würde ich sagen, glatt vierundzwanzig Jahre alt seit kurzem.“

„Dann darf man noch nachträglich gratulieren, Mr. Arthur.“

„Vielen Dank, es ist schon wieder mehr als drei Wochen her. Es war am Tag, als das Schiff in Kanton lag und ich zum ersten Mal chinesischen Boden betrat.“

„Ein Zeichen, ganz bestimmt. Wenn man eine Weile in China lebt, Mr. Arthur, dann wird man jeden Tag ein wenig mehr von Astrologie und fernöstlichen Philosophien beeinflusst. Aber nicht uninteressant, das Ganze. Man muss ja nicht richtig daran glauben, wahrscheinlich ist es Humbug.“

Die Frage- und Antwortstunde ging munter weiter, fast der ganze Club hatte sich um die beiden Clennam-Männer geschart: „Und Sie haben Weihnachten tatsächlich auf einer Pirateninsel verbracht? Wie aufregend.“

„Man hat von Weihnachten leider nichts gemerkt dort. Mal abgesehen davon, dass die Piraten sich am Weihnachtsabend, dem Tag vor unserer Abreise, ziemlich ausschweifend betrunken haben. Dadurch war es mir aber möglich, eine leere Schnapsflasche mit auf das Schiff zu schmuggeln, mit der wir uns unsere Fesseln durchschneiden konnten, wodurch wir vom Piratenschiff fliehen konnten, als das andere französische Schiff diesem nahe kam.“

„Das klingt sehr abenteuerlich. Und wer war ‚wir’, wenn man fragen darf, Mr. Arthur?“

Diesem wurde die Fragerei nun langsam zuviel, er hatte keine große Lust, sich über Martin und dessen unheilvollen Tod gegenüber der neugierigen Meute auszulassen. Das ging wirklich niemanden etwas an.

„Smut Brown von der Pride of the Seas war noch bei mir“, lautete daher seine knappe Antwort.

Zum Glück gab man sich damit zufrieden, kein Mensch interessierte sich offensichtlich für das Schicksal eines einfachen Schiffskochs. Arthur war einerseits erleichtert, andererseits ärgerte ihn diese Haltung ein wenig.

Daher war er ziemlich froh, als endlich der Lunch serviert wurde. Zwar wurde hier im Kreis der britischen Kolonie auch britisch gekocht, aber ganz hatte sich der Koch aus England den chinesischen Einflüssen nicht entziehen können. So schmeckte die Hühnersuppe ganz anders als zu Hause, viel schärfer und würziger.

Das gleiche galt für die Hauptspeise, die hier selbstverständlich mit klebrigem Reis serviert wurde. Das dazu gereichte Gemüse kannte Arthur überhaupt nicht, es war ihm völlig fremd, aber es schmeckte auf alle Fälle besser als die sonst üblichen halb verkochten Erbsen oder Karotten in England.

Er langte daher mit ordentlichem Appetit zu und hatte anschließend ein wenig Magendrücken, da er so üppiges Essen gar nicht mehr gewohnt war.

 

 

Kapitel dreiundzwanzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig

Erwähnung finden Clubmitglied Mr. Stewart, Mönche in einem Kloster, die Dame Méi-Hua und die Dame Wenróu-Yù

Orte: Am Fluss Huangpu in Shanghai, im Hause der Clennams in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar:
Ni hao – chinesisch: Guten Tag
Xiayù – chinesisch: Regen
Qiè – chinesisch: Konkubine
Méi-Hua – chinesischer Name, bedeutet Pflaumenblüte
Wenróu-Yù – chinesischer Name, bedeutet sanfte, weiche Jade
 

 

Daher ließ Gabriel Clennam sich trotz der schwülen Hitze von seinem Sohn überreden einen kleinen Spaziergang zu machen. Sie gingen ein Stück am Fluss entlang, während Mr. Clennam Arthur einige Orte und Plätze erklärte: „Bis zum Liegeplatz der Knighthood werden wir wohl nicht kommen. Der Fluss ist nur auf dieser Seite richtig besiedelt, die andere Seite ist überwiegend Ackerland.“

„Und die Seide? Wo wird sie hergestellt?“

„Großvater hat dir gesagt, dass man dafür Maulbeerbäume braucht? Eine ganze Plantage davon, um korrekt zu sein.“

„Das weiß ich. Es wird also kaum hier im Stadtbereich sein. Vielleicht aber doch in Nähe des Flusses und der Docks, damit man es mit dem Verschiffen der Stoffe einfacher hat.“

„Sehr gut. Genau so ist es. Es ist ein Stück hinaus aufs Land, auch Richtung Süden, immer am Fluss entlang. Zwar liegt unser Haus ebenfalls im Süden der Stadt, jedoch weiter landeinwärts.“

„Wann kann ich die Spinnerei sehen?“

Mr. Clennam wischte sich den Schweiß auf der Stirn mit einem Taschentuch ab und antwortete dann: „Heute nicht mehr, Arthur. Es ist zu anstrengend bei dieser Hitze. Außerdem wolltest du doch keine Rikscha mehr fahren, wenn ich dich richtig verstanden habe. Ich habe eine kleine Überraschung für dich: Mr. Stewart hat mir gesagt, dass es ein kleines Kloster in der Nähe gibt, wo die Mönche sich ein paar Ponys halten. Vielleicht verkaufen sie uns ein Tier gegen ein paar Münzen. Falls es klappt, kümmerst du dich darum, dass ein Wagen entsprechend umgebaut wird. Und du musst auch kutschieren lernen. Die Chinesen werden sich nämlich weigern, das zu tun. Es wird schon schwer genug werden einen zu finden, der das Tier in einem Unterstand versorgt.“

Auf Arthurs Gesicht zeigte sich ein breites Lächeln. „Oh Dad, das ist ja wunderbar! Ich danke dir. Es wird kein Problem sein, einen Wagen entsprechend umzubauen. Dafür sorge ich schon. Nur mit dem Geschirr für das Pony könnte es schwierig werden.“

„Wenn es soweit ist, finden wir auch dafür eine Lösung. Die Chinesen brauchen nur eine Anleitung, dann fertigen sie uns aus Büffelleder auch Leinen und Zügel.“

„Ich bin sprachlos. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne nach Hause laufen, während du die Rikscha zurück nimmst.“

„Bei dieser Hitze? Junge, du bist halbtot, wenn du ankommst. Weißt du den Weg? Und beeil dich, es werden bald heftige Regenfälle, Teil des Sommermonsuns, kommen.“

„Ich kenne den Weg, keine Angst. Und woher weißt du das mit dem Regen?“

„Es hat schon einige Zeit nicht mehr geregnet, sehr unüblich für diesen Monat, und es liegt schon förmlich in der Luft.“

Gabriel Clennam hatte Recht, er wohnte ja auch schon seit Jahren in Shanghai. Arthur war zum Glück nur noch wenige Schritte vom Haus entfernt, da öffnete der inzwischen bleigraue Himmel seine Schleusen und es fing heftig zu schütten an. Mit Riesenschritten sprintete Arthur vom Tor durch den Vorgarten zum Hauseingang und schüttelte dort die schweren Tropfen von der Kleidung.

Cha-Dong stand schon bereit und nahm ihm grinsend wie immer seinen Hut und seine Jacke ab: „Ni hao, Shaoyé. Xiayù.“

„Danke, Cha-Dong. Xiayù?“

Cha-Dong zeigte auf die Tropfen auf Arthurs Jacke.

„Ah, Regen, ja. Viel Regen, Cha-Dong.“

Arthur krempelte sich die Ärmel hoch; trotz des Regens, oder vielleicht gerade deswegen, weil die Luftfeuchtigkeit so hoch war, fand er es unerträglich stickig. Dann setzte er sich nur mit dem offenen Hemd und seiner Hose bekleidet an einen Tisch und sortierte seine Papiere. Die Türen zum Innenhof waren geöffnet und der Regen klatschte laut auf das Dach des Hauses und auf die Erde im Hof.

Sein Vater öffnete sein Arbeitszimmer ebenfalls zum Hof hin und winkte seinem Sohn zu. Arthur stand auf und sprang schnell durch den schweren Regen hinüber: „Sag mal Dad, wie ist es hier im Winter?“

„Es kann schon ziemlich kalt werden. Unangenehm manchmal.“

„Aber – wie wärmt man das Haus? Ich sehe keine Kamine oder Feuerstellen.“

„Wir stellen dann Kohlebecken und Kohleöfen hier herein. Das geht recht gut und wärmt zumindest so, dass man nicht frieren muss.“

„Verstehe. Im Sommer also feucht-heiß und im Winter feucht-kalt. Kein sehr verträgliches Klima.“

„Man gewöhnt sich daran. Was machst du gerade?“

„Ich wollte meine gesamten Unterlagen, die ich auf der Reise angefertigt habe, und die ich zum Glück in diesem chinesischen Nest in Kanton wiederbekommen habe, sortieren und durchsehen. Aber ich stelle gerade fest, dass ich total müde bin, wahrscheinlich, weil ich heute Nacht furchtbar schlecht geschlafen habe.“

„Dann leg dich hin und schlafe. Bei diesem Wetter ist das kein Vergehen, sondern eine Notwendigkeit.“

Arthur zierte sich ein wenig: „Aber ich bin doch kein kleines Kind mehr, dass einen Mittagsschlaf nötig hat. Außerdem geht es schon stramm auf den Abend zu.“

„Junge, wenn du sterbensmüde bist, dann schlaf! Ohne Wenn und Aber. Du kannst es dir ruhig selbst gestatten, nach all den hinter dir liegenden Strapazen sowieso. Also, ab ins Bett!“

„Wie du meinst, Vater. Wir sehen uns später.“

Er ging, diesmal nicht quer über den Hof, sondern außen herum über die Flure. Völlig erledigt warf er sich auf sein Bett und war keine Minute später eingeschlafen.

Cha-Dong wollte ihn zum Dinner wecken, doch Cha-Li bestand darauf, ihn schlafen zu lassen. Darüber gerieten die Brüder sogleich in einen Streit, da Cha-Dong der Meinung war, der junge Herr müsse unbedingt etwas essen und Cha-Li argumentierte dagegen, dass er den Schlaf nötiger hatte. Die hitzige Diskussion rief Mr. Clennam auf den Plan, der nachsehen kam, um was es bei den Streithähnen ging: „Cha-Li, was ist denn los, um Himmels willen? Seid doch nicht so laut, mein Sohn schläft!“

Diese Äußerung veranlasste Cha-Li, seinem Bruder einen mehr als schadenfrohen Blick zuzuwerfen und ihm rasch zu übersetzen, was der Herr gesagt hatte. Dann verneigten sich beide vor Mr. Clennam und Cha-Li verkündete: „Streiten wegen Shaoyé. Cha-Li sagen lassen schlafen, Cha-Dong sagen müssen essen.“

„Lasst ihn schlafen, er wird nicht verhungern. Wir hatten einen ziemlich üppigen Lunch im Club. Und nun an eure Arbeit, oder habt ihr nichts zu tun?“

Die beiden trollten sich, sprachen aber kein Wort mehr miteinander für den Rest des Tages.

Am nächsten Morgen verhielt es sich kaum anders, nur war der Anlass des Streits zwischen den Brüdern dann bereits ein neuer. Gabriel Clennam fuhr sich entnervt mit den Fingern durch die etwas spärlich gewordenen Haare und rief sie beide zu sich: „Wenn ihr nur streitet, um was auch immer, kann ich euch nicht beide hier behalten. Dann muss Cha-Dong wieder gehen, da er zuletzt in meinen Dienst getreten ist.“

„Ja, Laoyé. War dumm, war wegen Qiè.“

„Bitte? Wegen welcher Konkubine, wenn ich fragen darf?“

„Qiè für Shaoyé.“

Gabriel Clennam musste sich das Lachen verbeißen, er schaute daher angestrengt auf die Tischplatte vor sich und erwiderte: „Ich verstehe. Seid ihr der Meinung, dass er eine haben sollte?“

„Ja. Cha-Dong wollen Méi-Hua, Cha-Li wollen Wenróu-Yù.“

„Sollte nicht mein Sohn selbst entscheiden?“

„Laoyé weise. Shaoyé sagen, wen wollen.“

„Gut. Das hätten wir geklärt. Und – es eilt nicht! Er ist vorgestern erst angekommen und braucht Zeit. Verschwindet. Er wird bald aufwachen und ein Bad nehmen wollen. Also sputet euch!“

Arthur hatte wahrlich geschlafen wie ein Toter. Als er aufwachte, nach fast fünfzehn Stunden Dauerschlaf, rauschte der Monsun jedoch noch immer auf das Hausdach nieder.

Cha-Dong nötigte ihn gestenreich in einen anderen Raum, der sich als eine Art Waschraum entpuppte.

Dabei trällerte er ständig das einzige englische Wort, das er bisher kannte, nämlich ‚Regen’.

Da er hier nirgends schwimmen konnte, war er froh um das Bad, das man ihm vorbereitet hatte. Er genoss es sogar, umsorgt, gepflegt und verhätschelt zu werden, obwohl ihn so etwas normalerweise eher peinlich berührte. Er war kein Mann, der auf Rundum-Bedienung Wert legte. Es mochte es nicht, dass Leute nur dafür bezahlt wurden, dass er sich wohl fühlte. Das erzeugte in ihm meist ein gegenteiliges Gefühl, ein gewisses Unbehagen. Doch Cha-Dong tat das auf so rührende und manchmal auch lustige Art und Weise, dass es Arthur sogar amüsierte. Dass er dabei nur Chinesisch brabbelte, machte Arthur nichts aus. Er lehnte sich träge zurück und hörte dem fremdartigen Wortschwall gerne zu, während er seine Haare gewaschen bekam.

Aber er war nun sehr gespannt auf die Seidenherstellung, er wollte das endlich alles sehen, dort mitarbeiten, dabei etwas lernen und nicht nur faul im Haus herumsitzen.

 
Kapitel vierundzwanzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig
Mr. Stewart – Mitglied des Britischen Clubs in Shanghai

Erwähnung finden Martin Brown, Manoel Campos-Fuentes und Rafaela Campos-Fuentes

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: Qiè - chinesisch: siehe Kapitel dreiundzwanzig

 

Wegen des Dauerregens war es den Clennams aber leider nicht möglich, ohne Rikscha irgendwohin zu kommen. Das wurmte Arthur sehr. Er ließ seinen Vater alleine das Haus verlassen und eine Rikscha zur Spinnerei besteigen. Laufen war bei diesem Wetter völlig ausgeschlossen, man wäre bereits nach wenigen Metern bis auf die Haut durchnässt worden.

Leicht verstimmt widmete Arthur sich wieder seinen Unterlagen und begann, über den Umbau einer Rikscha zu einer Art Phaeton nachzudenken.

Als Cha-Dong ihm den Tee brachte, murmelte dieser nicht mehr das englische Wort ‚Regen’, sondern ein chinesisches Wort, das Arthur noch gar nicht gehört hatte. Während der Boy also dauernd ‚Qiè’ vor sich hin plapperte, tat er dies mit dem feistesten Grinsen, das Arthur je bei ihm gesehen hatte.

Er entschloss sich, sich einen Moment lang die Beine zu vertreten und Cha-Li zu fragen, was das nun wieder zu bedeuten hatte.

Er fand den Chinesen im Schlafraum seines Vaters, wo er gerade dessen Hemden in einen Schrank setzte.

„Cha-Li, ich habe keine Ahnung, was dein Bruder mir da ständig erzählen möchte. Bitte klär mich auf.“

„Kann nicht. Laoyé sagen, muss warten.“

„Du liebe Zeit, macht doch wegen eines einzigen Wortes nicht so einen Aufstand. Was immer es ist, sagt es einfach.“

„Cha-Dong dumm. Laoyé nicht wollen Qiè nun.“

„Vater hat damit zu tun? Ist es was mit der Seide?“

„Nix Seide.“

Er fing an albern zu kichern und korrigierte sich sogleich: „Oder doch, ein wenig.“

Arthur war mittlerweile total konfus: „Ehrlich gesagt, verstehe ich gar nichts mehr. Bitte, Cha-Li!“

Dieser ließ sich sichtlich nervös auf dem Bettrand von Mr. Clennams Bett nieder und seufzte theatralisch: „Cha-Li und Bruder denken Shaoyé brauchen Qiè.“

Nun war es heraus, aber Cha-Li erfasste nicht, dass der junge Herr ja gar nicht wusste, was das Wort bedeutete.

„Gut. Ich brauche das, meint ihr beide. Und Vater sagt, ich brauche es nicht? Was also ist es?“

„Ah, missverstehen! Laoyé sagen, brauchen nix sofort Qiè, erst warten. Und Cha-Li nix mehr weiß englisches Wort.“

Cha-Dong kam dazu und sprudelte rasch etwas in Chinesisch hervor. Cha-Li sprang auf und sagte zu Arthur gewandt: „Haben Besuch. Engländer gekommen.“

Arthur zog äußerst erstaunt seine Augenbraue nach oben: „Ich habe Besuch? Vermutlich jemand aus dem Club von gestern. Führt ihn in den Salon, bitte.“

Dort erwartete ihn Mr. Stewart, der Mann, der für ein Pony von den Mönchen im Kloster sorgen wollte.

„Mr. Stewart, schön Sie zu sehen. Mein Vater ist in der Weberei, falls Sie ihn sehen und sprechen wollten.“

„Eigentlich ist es egal, mit wem ich spreche. Nun, da Sie da sind, kann ich auch mit Ihnen plaudern.“

„Wie sind Sie bei diesem furchtbaren Wetter hierher gekommen?“

„Die Rikschas haben ein Dach.“

„Natürlich, wie dumm von mir.“

„Nun, ich weiß ja, dass Sie dem kritisch gegenüber stehen, Mr. Arthur. Haben Sie sich schon gedanklich mit einem Wagen für ein Pferdchen beschäftigen können?“

„Ich war gerade dabei, ja. Aber dann haben die Cha-Brüder mich in meinen Gedankengängen bedauerlicherweise ein wenig gestört.“

„Ihre chinesischen Hausboys? Dafür müssen Sie sie bestrafen, Mr. Arthur.“

„Es war nicht schlimm. Sie haben etwas ausgeheckt, leider konnte ich nicht genau herausfinden, um was es ging.“

„Trotzdem, lassen Sie diese Undiszipliniertheit nicht durchgehen. Vielleicht kann ich helfen?“

„Wenn Sie das englische Wort für ‚Qiè’ – ich weiß nicht einmal, ob es das richtig ausspreche – kennen, dann gerne.“

Es herrschte einen Augenblick eine fast unheimliche Stille im Raum, wäre nicht das Plätschern des Regens gewesen. Mr. Stewart schaute Arthur an, als wäre er ein chinesischer Drache.

Arthur war sehr verunsichert und fragte daher nach: „Es ist doch etwas Schlimmes, nicht wahr?“

Nun schmunzelte sein Gesprächspartner und beugte sich ein wenig vor als er antwortete: „Das kommt darauf an. Ist sie für Sie gedacht oder für Ihren Vater?“

„Sie? Sie kennen also das Wort? Für mich, soweit ich die beiden verstanden habe.“

„Sehr vernünftig, Ihre Boys. Sehr praktisch veranlagt. Auch wenn sie dabei ein klein wenig über die Stränge geschlagen haben. Tja, Mr. Arthur, es sieht wohl so aus, als würden Sie bald eine Bettgenossin bekommen.“

Arthur stand das Entsetzten direkt ins Gesicht geschrieben, er lief knallrot an und fragte fassungslos nach: „Eine was, Mr. Stewart?“

„Eine Konkubine, um genau zu sein.“

„Oh Gott! Das kann nicht Ihr Ernst sein! Vor allem kann es nicht der Ernst der beiden Boys sein und – das muss ich mit Nachdruck hinzufügen – es kann wohl kaum der Ernst meines Vaters sein!“

„Regen Sie sich nicht auf. Es ist recht üblich hier, vor allem, wenn man längere Zeit in China weilt und keine Familie hier hat, was auf die meisten von uns zutrifft.“

Dem konnte Arthur Clennam nichts mehr entgegensetzen. Er rollte mit den Augen und nickte in sein Schicksal ergeben. Doch das letzte Wort war in dieser Angelegenheit noch nicht gesprochen, er würde sich ausführlich mit seinem Vater darüber auseinandersetzen müssen.

Wenn das Martin mitbekommen könnte! Der würde sich ganz furchtbar lustig über ihn machen. Als Arthur, nachdem er Mr. Stewart verabschiedet hatte, über seinen überfälligen Briefen nach Hause und an den ersten Entwürfen für einen Rikscha-Phaeton saß, musste er lange an Martin Brown denken.

Bei der Rückkehr von Gabriel Clennam in das Haus war es verdächtig ruhig. Das war ungewöhnlich, da meist einer der Boys unentwegt plapperte. Auch war niemand da, um ihm seinen leicht nassen Hut und seine leichte Tropenjacke abzunehmen.

Er rief ungeduldig nach Cha-Li. Dieser kam angeschlichen, bereits in Vorahnung, dass ihn in ein paar Minuten eine Strafpredigt erwarten würde.

„Was ist denn los? Seid ihr krank? Hat euch der Monsun das Hirn verregnet?“

„Cha-Li arbeiten an Wäsche, Laoyé. Nix gehört ankommen.“

„Du hörst doch sonst immer alles. Wo ist mein Sohn?“

„Arbeiten, machen Plan.“

„War sonst etwas?“

„Mr. Stewart machen Besuch bei Shaoyé.“

„Danke. Du kannst den Tee servieren, oder dein Bruder, wer gerade Zeit hat sich darum zu kümmern.“

„Ja, sofort, Laoyé.“

Cha-Li war überraschend unterwürfig, gar nicht so frech und etwas aufmüpfig, wie es meist seine Art war. Mr. Clennam wunderte sich sehr.

Also suchte er Arthur auf: „Ich bin da. Du hattest Besuch vom alten Stewart, sagte mir Cha-Li?“

„Allerdings.“

„Und? Sagte er etwas wegen des Ponys?“

„Darüber haben wir fast gar nicht gesprochen.“

„Nicht? Über was dann?“

Arthur ließ seinen Bleistift fallen und drehte sich nun frontal zu seinem Vater um: „Eher über – Konkubinen.“

Gabriel Clennam sank auf einen Stuhl: „Ich verstehe. Daher weht also der Wind hier. Es herrschte schon so eine merkwürdige Stimmung, als ich das Haus betrat, vor allem war keiner der Boys zu meinem Empfang da. Wer hat es ausgeplaudert?“

„Vater! Wie kann so etwas überhaupt Thema zwischen den beiden Chas und dir sein? Das ist empörend, hinter meinem Rücken über derlei… private Dinge zu befinden!“

„Wir haben darüber nicht befunden, um es klarzustellen. Die Jungs kommen einfach auf verrückte Ideen und ich habe ihnen gesagt, sie sollen sich zurückhalten. Das war alles.“

Arthur seufzte tief: „Ja. Natürlich. Wie nett, dass mich noch keiner zu diesem Thema konsultiert hat. Und es hat eigentlich keiner der beiden ausgeplaudert, da muss ich sie in Schutz nehmen. Cha-Dong trällerte nur den ganzen Morgen das chinesische Wort für… für… na ja, für diese Frauen eben und das war sehr auffällig. Cha-Li wusste nicht einmal das englische Wort dafür, also kam mir Mr. Stewart gerade Recht. Der hat sich köstlich auf meine Kosten amüsiert, das kann ich dir sagen. Vater, ich sage es klipp und klar: Ich brauche und möchte keine Dirne!“

Diesmal war es an Mr. Clennam, ein hintergründiges Lächeln aufzusetzen: „Oh, das verstehe ich. Das würde ich auch nicht wollen. Da gebe ich dir vollkommen Recht.“

Arthur runzelte die Stirn. Was hatte es zu bedeuten, dass sein Vater da plötzlich milde einlenkte?

Er bekam es sofort zu hören, als nämlich sein Vater weiter sprach: „Arthur, hier kann von Dirne keine Rede sein. Im Gegenteil!“

Er unterbrach sich, da Cha-Dong mit schuldbewusster Miene mit dem Teetablett hereingestiefelt kam.

„Danke, Cha-Dong“, sagte Arthur rasch. Er nahm sich seine Tasse, goss Milch hinein und gab einen Löffel Zucker dazu.

Der Chinese verschwand auf leisen Sohlen und Mr. Clennam konnte mit seinen Darlegungen fortfahren: „Es ist eine große Ehre für viele Frauen hier, einem europäischen Mann gefällig zu sein. Man sieht das durchaus als eine große Kunst an und es wird ganz und gar nicht als etwas Anrüchiges betrachtet. Diese Damen sind überaus gebildet, sehr kultiviert und mit gewöhnlichen Dirnen auf gar keinen Fall zu vergleichen. Mal abgesehen davon, dass sie meist auch noch bildschön sind. Sie sprechen deine Sprache, zumindest ein wenig, und können dich sogar in Chinesisch unterrichten.“

Arthur runzelte missmutig die Stirn: „Du preist sie an, als wären sie ein Ballen unserer wertvollen Seide. Ich mag so etwas nicht. Was wäre, wenn ich in England eine Verlobte hätte? Es hätte nicht mehr viel gefehlt und ich hätte Flora Casby um ihre Hand gebeten. Allerdings hat mir Mutter da kräftig hineingepfuscht, was auch immer sie gesagt hat, es müssen jedoch Dinge gewesen sein, die zum Resultat hatten, dass ich im Hause Casby als Schwiegersohn nicht mehr erwünscht war.“

Mr. Clennam holte tief Luft, erwiderte aber nichts direkt darauf.

Daher fühlte sich Arthur ermuntert, weiter zu sprechen: „Ich könnte Flora sogar vor meiner Abreise noch geheiratet haben. Die Reise hierher hätte ich ihr aber nur schwerlich zumuten können, das sehe ich ein.

In Luanda traf ich auf den portugiesischen Gesandten dort, Mr. Campos-Fuentes, und dessen reizende Tochter Rafaela. Eine unglaublich schöne Frau. Allerdings mit dem Makel behaftet, dass sie einen schwarzen Hausboy mit dem Messer erstochen hat, weil dieser ihr zu nahe getreten war. Sie wollte unbedingt weg von Luanda und hat mich förmlich angefleht, sie zu heiraten. Ich habe es abgelehnt, weil ich sie nicht ins Ungewisse, ins Abenteuer stürzen wollte. Sie hätte das, was ich unterwegs durchgemacht habe, sicher nicht überlebt.“

„Du hast ihr Heiratsangebot abgelehnt? Sehr mutig von dir, da sie in ihrer Rage dir vielleicht wichtige Körperteile hätte abtrennen können, wenn sie so eine temperamentvolle Frau war.“

„Oh Dad, du… du bist unmöglich! Nun, wenn Rafaela das versäumt hat, dann wäre ich spätestens von irgendwelchen finsteren Schergen des Sultans von Maskat entmannt worden, wäre es den Piraten letztendlich gelungen, mich dorthin zu verfrachten.“

Nun musste Gabriel Clennam wirklich lachen: „Arthur, du hast aber auch einen köstlichen Humor! Also, Vorschlag zur Güte: Du bist ja weder verlobt noch verheiratet – und selbst dies wäre eigentlich kein Hindernis, doch reden wir lieber nicht davon – und schaust dir zwei in Frage kommende chinesische Damen einfach mal an. Wenn du gar kein Interesse hast, lassen wir es dabei bewenden,, ich schätze aber, es wird anders ausgehen.“

„Vater, du und die Boys ihr seid einfach… ach, ich finde keine Worte! Ich bin absolut dagegen. Aber ihr werdet vermutlich alle drei nicht eher Ruhe geben, bis ich einlenke und mich bereit erkläre, einen Blick zu riskieren. Aber völlig unverbindlich und ohne jegliche Verpflichtung, ist das klar?“

„Sonnenklar, mein Sohn. Und nun ist mein Tee kalt geworden.“

Er rief: „Cha-Li, frischen Tee, bitte!“

 

 

 

Kapitel fünfundzwanzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig

Weiterhin Rikscha-Fahrer, chinesische Arbeiter

Erwähnung finden die Dame Méi-Hua und die Dame Wenróu-Yù

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu, in der Clennam’schen Seidenherstellung

Glossar: Wan an – chinesisch: Gute Nacht!
Haspelseide – Seide der höchsten Qualitätsstufe
Schappeseide – Seide der mittleren Qualitätsstufe
Bouretteseide – Seide der niederen Qualitätsstufe
 

 

Arthur fühlte sich überaus unbehaglich. Er versuchte, sich bis zum Dinner durch die Planungen des Wägelchens abzulenken, doch so richtig gelang ihm die Konzentration darauf nicht. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, es standen schon wieder Schweißperlen darauf. Verdammte Hitze aber auch! Aber das war es nicht allein, seine Gedanken waren sehr auf die vorangegangene Unterhaltung mit seinem Vater gerichtet.

Entnervt warf er den Bleistift weg. Das war doch alles unfassbar! Wie waren Cha-Li und sein Bruder nur auf diese absurde Idee gekommen? Und sein Vater erst! Diesem Blödsinn mehr oder weniger zuzustimmen, wie konnte er das nur tun!

So war es nicht verwunderlich, dass Arthur erneut beim Dinner darauf zu sprechen kam: „Dad, ich glaube, ich habe der Sache zu früh zugestimmt. Ich habe noch einmal darüber nachgedacht. Was gibt euch - ja, auch dir, Vater! – das Recht, über derlei Dinge in meinem Leben zu bestimmen? Ich… ich bin kein Mann, der das nötig hätte. Also, ich meine… diese Frauen habe ich nicht nötig.“

„Bist du dir da so sicher? Warum redest du so vehement dagegen?“

„Ich… ich kann das nicht. Es liegt mir nicht.“

„Du bist sehr schüchtern, nicht wahr?“

„Was das anlangt, auf alle Fälle. Es ist mir noch nie leicht gefallen, mit jungen Damen ins Gespräch zu kommen.“

„Aber wir sind hier nicht in England. Dort herrschen sehr steife Regeln und Gebräuche, das fällt hier alles nicht mehr ins Gewicht. Es schert sich hier niemand darum, ob du eine Dame nur einmal pro Abend zum Tanz auffordern darfst, oder nur morgens um elf Uhr einen Besuch machen kannst und zu keiner anderen Zeit. Du bist hier wesentlich freier in der Gestaltung deines Lebens.“

„Danke. Dann möchte ich es auch gerne so gestalten, wie es mir vorschwebt.“

Mr. Clennam legte den Löffel zur Seite und schaute seinen Sohn an: „Es erschließt sich mir momentan nicht so ganz, warum du dich mit Händen und Füßen gegen meinen Vorschlag wehrst. Du kannst dabei nur gewinnen. Es ist wirklich nichts dabei, sich erst einmal ein paar nette Kandidatinnen anzusehen.“

„Du solltest dich reden hören. Es klingt schon so… so abgekartet. Mir gefällt das ganz und gar nicht.“

„Arthur, du bist ein sehr gesunder Mann Mitte Zwanzig. Es wäre unnatürlich, da gewissen Bedürfnissen nicht von Zeit zu Zeit nachzukommen, oder?“

„Vater, ich rede nicht weiter mit dir darüber. Das ist mir alles… zu privat. Entschuldige mich bitte.“

Arthur entfernte sich mit einem unguten Gefühl im Magen vom Tisch und ließ seinen Vater alleine dort sitzen.

Cha-Dong wollte hinter ihm her, doch Arthur machte auch ihm gegenüber eine abwehrende Geste: „Nein, bitte. Bù!“

Cha-Dongs Gesicht verzog sich zu einer Trauermiene, aber er gehorchte. Cha-Li sagte lieber gar nichts und verhielt sich ganz ruhig, er hatte ja annähernd verstanden, was gesprochen worden war.

Mr. Clennam knöpfte sich die beiden Burschen vor: „So! Das habt ihr nun von eurem vorlauten Geplappere! Ihr könnt Pflaumenblüte und Sanfte Jade ausrichten, dass nichts daraus wird. Ich hätte große Lust, euch eine saftige Strafe aufzubrummen, wirklich.“

Cha-Li wagte einen Einwurf: „Cha-Li versuchen Glück bei Shaoyé.“

„Er wird dich sofort hinauswerfen, wenn du ankommst, da bin ich mir sicher. Aber tu, was du nicht lassen kannst. Doch erst räumt ihr das verdammte Essen ab, ich habe auch keinen Appetit mehr!“

Eine halbe Stunde später klopfte es bei Arthur.

„Wer ist denn da? Vater, falls du es bist, es ist zwecklos.“

„Sein Cha-Li, bringen Obst für Shaoyé.“

„Also gut, komm rein, stell das Obst ab und dann verschwinde wieder!“

„Gutes Obst, viele Trauben und Maulbeeren, von Plantage.“

„Danke.“

„Bitte sehen an Wenróu-Yù, Shaoyé“, flehte der Chinese.

„Was ist das denn nun schon wieder?“

„Qiè Cha-Li vorschlagen.“

„Raus! Sofort!“

„Heißen Sanfte Jade auf Englisch und sein schöne Frau!“

Arthur schnaubte: „Herrgott! Es gibt kein Entrinnen, ich ahne es! Ich bedaure es gerade zutiefst, dass ich den Piraten entkommen bin! Für mich wäre ein Dasein als Eunuch sicher besser gewesen als das hier! Gut, gut, gut. Bring deine Jade hierher und wer sonst noch dazu gehört und dann ist ein für allemal Schluss mit dem Thema! Verstanden, Cha-Li?“

„Andere sein Méi-Hua, Pflaumenblüte.“

„Von mir aus. Und ich möchte heute keinen von euch mehr sehen. Morgen handeln wir das ab und danach kein Wort mehr. Gute Nacht.“

„Wan an, Shaoyé.“

Auf Cha-Lis Lippen lag ein zufriedenes Lächeln, als er die Tür zumachte.

Arthur erinnerte sich an die Matrosen auf der Pride of the Seas und deren Anzüglichkeiten. In der ersten Zeit war Arthur stets mit hochroten Ohren auf dem Schiff herumgelaufen. Gut, er hatte dort einiges aufgeschnappt, das war nicht zu leugnen. Und einige der sündhaften Dinge hatte er an sich selbst ausprobiert. Schändliches Subjekt, das er war!

Ganz zu schweigen von seinem Erlebnis in Kapstadt im holländischen Gasthof. An das er sich nicht einmal erinnern konnte! Im Grunde war er ein Sünder. Wäre es demnach schlimm, dem Sündenregister einen weiteren Punkt hinzuzufügen?

Natürlich war es das! Arthur war ein gottesfürchtiger Mann, zumindest war er in strengem Glauben erzogen worden. Doch wenn alle in China sagten, es wäre das Normalste der Welt… nein! Normal war ein verheiratetes Paar und fleischliche Vereinigung desselben, um Kinder zu zeugen! Basta! Er würde sich nicht von netten Floskeln, sinnlosem Geplappere und einem hübschen Gesicht einlullen lassen. Keinesfalls!

So sehr er sonst immer die morgendliche Badeprozedur genoss, so abartig kam es ihm am nächsten Morgen vor. Als würde er zu einer Auktion herausgeputzt. Er fühlte sich sehr unbehaglich und gab nur einsilbige Antworten. Cha-Dong schien es nichts auszumachen, er redete immer fröhlich weiter. Diese Dauer-Glückseligkeit der Cha-Brüder ging Arthur ein wenig auf die Nerven.

Beim Frühstück stellte er fest, dass der Regen aufgehört hatte. Das passte ihm hervorragend ins Konzept, dann konnte er endlich in die Seidenspinnerei laufen. Es wurde Zeit, dass er sich auf gute, solide Arbeit besann, denn das Nichtstun hatte ihm bereits gehörig zugesetzt.

Cha-Li fragte vorsichtig: „Wann Shaoyé kommen wieder?“

„Das weiß ich nicht genau. Zum Tee, vermutlich. Warum willst du das wissen?“

Cha-Li wand sich ein wenig: „Fragen wegen Qiè. Wann soll kommen?“

Arthur verzog etwas das Gesicht, blieb jedoch gefasst: „Dachte ich mir. Gegen Abend, wenn möglich. Ich bin nun weg. Mein Vater hat ja schon eine Rikscha genommen.“

Dass er endlich die Clennam’sche Seidenproduktion zu sehen bekam, lenkte ihn völlig vom leidigen Thema ab. Er staunte, als er die unzähligen Maulbeerbäume zu Gesicht bekam. Es war auch genau die Zeit, wo die Seidenraupenspinner gerade begannen sich in den Kokon zu wickeln. Ein äußerst beeindruckendes Bild.

Die Verarbeitung, wie Färberei, Weberei und Spinnerei, war in mehren Gebäuden untergebracht, die überwiegend aus Bambus gebaut waren. Dicke Bambusrohre bildeten die Eckpfeiler und dienten zur Stützung der Dachkonstruktion. Fest geflochtene Bambusmatten waren als Wände eingesetzt.

Zuerst wurden die Kokons von Arbeitern von den Bäumen gesammelt, dann mussten diese sortiert werden. Beschädigte Kokons kamen in gesonderte Zuber, die äußerlich völlig makellosen wurden sofort in einen Kessel mit kochendem Wasser gegeben. Dadurch löste sich der Leim in den äußeren Schichten und gleichzeitig tötete dieses Verfahren die Raupen ab. Würden die Raupen nämlich schlüpfen, würden sie sich dabei durch den Kokon fressen und eine Herstellung von hochwertiger Seide wäre dadurch nicht mehr möglich.

Aus den leicht beschädigten Kokons ließ sich immer noch Bouretteseide, die niedrigste Qualitätsstufe, oder Schappeseide, die mittlere Qualitätsstufe herzustellen, die Fäden dafür waren halt erheblich kürzer, was sich in der Stoffstruktur auswirkte. Auch dafür wurden die Kokons abgekocht.

Die einwandfreien Kokons kamen vom Kochen dann zum Haspeln. Haspel- oder reine Maulbeerseide war das qualitativ hochwertigste Seidenendprodukt. Ein Faden eines unbeschädigten Kokons konnte bis zu einer Meile lang sein. Für einen edlen Morgenmantel, wie ihn Arthur besaß, brauchte man ungefähr fünf- bis sechstausend Kokons.

Dadurch, dass der Leim nun gelöst war, konnte der Faden aufgewickelt werden, in unterschiedlicher Dicke, je nachdem ob man mehrere Rohseidefäden zusammenfasste oder nicht. Dies war also das Verspinnen der Seide, was unzählige Arbeiter in mühsamer Handarbeit machten.

Die Fäden wurden dann in die Färberei gebracht. Dort kamen sie in die unterschiedlichen Farbbottiche. Alle, die dort arbeiteten, hatten völlig verfärbte Finger und Hände, auch wenn man stets die Seidenfäden auf langen Holzstangen aus dem Färbebad holte.

Diese wurden anschließend zum Trocknen aufgehängt, bevor sich die Weber die entsprechenden Fäden in der jeweils benötigten Farbe auf ihre Webstühle holten.

Arthur wollte unbedingt selbst weben. Er schaute lange zu, aber die genaue Prozedur erschloss sich ihm nicht durch das Zusehen. Er bat darum, selbst weben zu dürfen. Einer der Weber machte es ihm daher langsam vor. Arthur trat an den Webstuhl und nahm dessen Platz ein, dann versuchte er, das ihm Gezeigte nachzumachen. Es ging auch anfangs recht gut, doch irgendwo musste er nicht richtig hingesehen haben und der Faden lief falsch in die Struktur und das Stück Seide war dahin. Arthur zeigte sich sehr zerknirscht. Er wagte einen zweiten Versuch. Dieses Mal riss ihm einer der Fäden. Er unterdrückte einen leisen Fluch. Beim dritten Versuch gelang es ihm endlich. Er wob weiter und es kam ein schönes Stück Stoff zum Vorschein, was ihm ein Lächeln entlockte.

Bis er alles gesehen und am Webstuhl gearbeitet hatte, war der ganze Tag vergangen. Die Arbeiter hatten sehr unter der Hitze, vor allem beim Kochen und Färben der Seide, zu leiden. Sie hatten eine Pause, da konnten sie trinken, an einem eigens dafür gebohrten Brunnen gab es frisches Wasser. Sein Vater erklärte ihm, dass die chinesischen Arbeiter frühmorgens üppig frühstückten, dann tagsüber in der Seidenmanufaktur arbeiteten und spät am Abend wieder aßen. So regelte sich deren Tagesablauf. Die meisten bekamen nicht mehr als vier bis fünf Stunden Schlaf, da sie teils lange Fußmärsche von zu Hause bis zur Clennam’schen Einrichtung und zurück zu bewältigen hatten. Auch bei Regen!

Arthur konnte das teilweise nachvollziehen, als er gegen Abend nach Hause marschierte. Und während des Laufens durch den Bezirk Xujiahu Qu kamen sie ihm wieder in den Sinn: Die Damen Sanfte Jade und Pflaumenblüte!

 

 

End Notes:

 

Im Forum gibt es einige Bilder über die traditionelle Herstellung von Seide!

Kapitel sechsundzwanzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig
Wenróu-Yù – Sanfte Jade, Edelprostituierte/Konkubine
Méi-Hua – Pflaumenblüte, Edelprostituierte/Konkubine

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: Xiansheng – chinesisch: Herr XYZ, Mr. XYZ, Anrede im Zusammenhang mit einem Familiennamen
 

 

Er wusste genau, was ihn erwarteten würde, er konnte sich das breite Grinsen der Chas genau vorstellen, wie sie ihn an der Tür empfangen, ihn regelrecht hofieren, ihm einen frischen Tee servieren und ihm dann diese Frauen vorstellen würden. Ihm war schon ganz übel bei dem Gedanken daran und das elende Gefühl verstärkte sich, je näher er dem Haus kam.

Doch es war sein Vater, der ihm die Tür öffnete.

„Wo sind die Boys?“

Arthur war sichtlich irritiert.

„Nicht da. Sie werden aber sicher bald zurück sein. Bist ordentlich gelaufen heute, Junge. Der Tee ist fertig, komm mit.“

Arthur sagte nichts mehr und folgte seinem Vater schweigend. Doch kaum hatte er die erste Tasse Tee leer getrunken, als er die Stimmen der beiden Chinesen vernahm. Aha, das Unheil nahm seinen Lauf.

Doch noch immer tat sich nichts. Arthur wurde unruhig. Welche Strategie verfolgte man denn hier? Was ging da nur vor?

Es hielt ihn nicht mehr auf seinem Platz, er nahm die zweite Tasse Tee mit und meinte zu seinem Vater: „Dad, ich sehe mal nach, was los ist. Nicht, dass die beiden wieder Unfug treiben.“

„Wie du meinst. Du scheinst ja vor Neugier gleich umzukommen. Geh nur.“

Es war ihm klar, dass sein Vater ihn durchschaut hatte, aber er entgegnete nichts, sondern rauschte mit der Teetasse in der Hand aus dem Raum.  

Im Flur traf er auf Cha-Dong, der regelrecht zusammenzuckte, als der junge Herr so plötzlich auftauchte.

Dann lief er aber laut plappernd neben ihm her bis zum Innenhof, wo Cha-Li sich überrascht umdrehte: „Oh, Shaoyé schon da. Wie war bei Seide heute?“

„Ich denke nicht, dass du wirklich darüber reden möchtest. Also, kommen wir gleich zur Sache: Wo sind sie?“

„Wer?“

Arthur begriff, dass man ein Spielchen mit ihm spielte. Er war sich nicht ganz schlüssig, ob er mitspielen, oder den beiden den Spaß gründlich verderben sollte.

Gerade tendierte er zu Letzterem, doch dann meldete sich sein Humor und er lenkte ein: „Die Hemden, die ich zum Waschen gegeben hatte, natürlich.“

Jetzt war es an Cha-Li irritiert zu sein: „Die… die Hemden…“, er kicherte unkontrolliert, denn er merkte nun, dass er verladen worden war, „Shaoyé kommen mit, Cha-Li und Cha-Dong zeigen Hemden!“

Inzwischen pochte Arthur das Herz doch bis zum Hals, obwohl er äußerlich völlig ungerührt tat, musste er zugeben, dass er ziemlich aufgeregt war. Dennoch war er erstaunt, als man ihn zur Haustür rausführte. Er wollte gerade protestieren und nachfragen, da stockte ihm der Atem: Im Vorgarten stand eine zierliche Chinesin, noch sah sie ihn nicht, da sie ihm den Rücken zugekehrt hatte. Doch er erfasste ihre zarte, feingliedrige Gestalt sofort. Sie hatte einen Sonnenschirm aufgespannt, so dass er ihren Kopf nicht sehen konnte, doch genau in dem Moment drehte sie sich zu ihm um. Sein Herzschlag setzte aus.

Er schloss für ein paar Sekunden die Augen, als würde er dadurch diese traumhafte Erscheinung aus seinem Kopf vertreiben können, oder sie würde sich ihm vielleicht nach dem Wiederöffnen der Lider als eine völlig andere Frau präsentieren. Doch das war natürlich nicht der Fall. Sie war eine Chinesin von fast überirdischer Schönheit. Klein, schmal gebaut, erlesen und sehr traditionell gekleidet, sorgsam frisiert und mit einem liebevollen Lächeln auf den Lippen.

Arthur hatte plötzlich Lust zu raten, daher fragte er die Chas: „Ihr werdet mir nicht verraten, wer sie ist, denn ich glaube es zu wissen.“

„Gefallen Shaoyé?“

„Soweit ja. Also – ich denke, es ist Sanfte Jade, richtig?“

Cha-Li jubelte: „Ja, ja, ja. Shaoyé ganz richtig! Ich vorstellen: Wenróu-Yù, das sein Clennam Xiansheng. Shaoyé, das sein Wenróu-Yù.“

Die Chinesin neigte anmutig das Köpfchen und gurrte: „Wenróu-Yù hocherfreut, Shaoyé.“

Arthur wurde ziemlich warm, er spürte, wie die Röte bis zu seinen Haarwurzeln kletterte, doch er holte tief Luft und erwiderte ebenso höflich: „Die Freude ist ganz auf meiner Seite. Wollen Sie nicht ins Haus kommen, Miss?“

 

Doch die Cha-Brüder machten ganz aufgeregt abwehrende Gesten. Arthur verstand, da war noch eine zweite Frau, die sich offensichtlich im Haus befand.

Er zuckte bedauernd mit den Schultern und entschuldigte sich bei Sanfte Jade: „Es tut mir sehr leid, aber Sie sehen ja, dass die Boys mir offensichtlich eine weitere Überraschung präsentieren möchten. Sie entschuldigen mich also. Ich hoffe, wir sehen uns noch.“

Die Chinesin neigte abermals leicht ihren Kopf und lächelte ihn weiter an. Das allerdings war ein wenig zu gemalt, zu stark aufgesetzt, schoss es blitzartig durch Arthurs Kopf.

Die drei Männer gingen ins Haus zurück, diesmal wieder in den Innenhof. Am Teich saß eine weitere Frau. Auch sie war auf traditionelle Weise sehr elegant angezogen, war ebenfalls mit einem wundervollen Kopfschmuck aufgeputzt und als sie aufstand, weil sie die Männer nahen sah, bemerkte Arthur, dass sie nicht ganz so perfekt schön war wie Sanfte Jade. An ihrer Erscheinung, ihrer Figur gab es nicht das Geringste auszusetzen, ganz im Gegenteil. Auch war sie sehr hübsch, ohne Zweifel, aber es war nicht diese kaum beschreibbare, überirdische Schönheit. Und komischerweise gab genau das den Ausschlag bei Arthur, denn auch das Lächeln von ihr war nicht wie in Stein gemeißelt.

Dieses Mal trat er wie selbstverständlich näher und sprach sie von ganz von selbst an, ein Umstand, der ihn noch sehr viel später äußerst verwunderte: „Pflaumenblüte, nicht wahr?“

Sie nickte und blickte ihn offen an: „Das sein richtig. Und Euer Name?“

Sie tat auch nicht so übertrieben unterwürfig, machte einen wesentlich natürlicheren Eindruck auf Arthur, weswegen er sie anstrahlte und antwortete: „Arthur.“

Das lief ganz und gar nicht nach Cha-Lis Protokoll, der sich nun verwirrt einmischte: „Das sein Méi-Hua. Und das sein Clennam Xiansheng, also Shaoyé!“

„Aber Cha-Li, wir haben uns doch schon einander vorgestellt.“

„Cha-Li das weiß. Aber… aber…“, er war zum ersten Mal richtig sprachlos.

Arthur setzte sich so an den Teich, wie zuvor Méi dort gesessen hatte und forderte sie mit einer Geste seiner Hand auf, sich ebenfalls wieder zu setzen. Sie tat dies mit Anmut, aber ohne puppig zu wirken.

Es fiel Arthur nicht leicht, zum Kern der Sache vorzudringen, er räusperte sich mehrfach, bevor er zum Sprechen ansetzen konnte: „Ja… ich war noch nie in dieser Situation, um ehrlich zu sein.“

Méi antwortete leise: „Méi das gut verstehen.“

„Sie sind sehr schön, Miss.“

„Heißen Méi.“

„Ja, natürlich. Méi.“

Als er das erste Mal ihren Namen aussprach, wusste er es. Er wollte sie haben! Er kam sich zwar sehr schlecht und verdorben vor, aber das war ihm egal. Er spürte, dass es keine andere als Méi sein konnte, wenn man schon von ihm verlangte, dass er mit jemandem das Bett teilen müsse. Da es nun mal die Tradition – welche das auch immer war – angeblich so verlangte.

Er nickte stumm.

„Shaoyé fühlen nicht gut?“

Méi klang aufrichtig besorgt.

Arthur schaute ihr in die Augen: „Arthur. Mein Name ist Arthur. Und ich fühle mich gerade sehr gut.“

Méi formte seinen Namen zunächst einmal stumm mit den Lippen vor, dann wagte sie den Versuch: „Aaßeeh“.

Sie brachen beide zeitgleich in Lachen aus, was das Eis völlig zum Brechen brachte.      

„Das war nicht schlecht, Méi. Sie werden es schnell lernen.“

„Das heißen, Méi dürfen bei Sh… bei Aaßeeh bleiben?“

Er lachte erneut, es war fast wie eine Befreiung für ihn: „Ja, ich denke, das heißt es.“

Cha-Li und Cha-Dong führten währenddessen im Hintergrund wahre Freudentänze auf.

Arthur erhob sich und reichte Méi seine Hand, um ihr aufzuhelfen. Als sie ihre überaus zierliche Hand in seine großen Handteller legte, durchzuckte es ihn regelrecht. Diese erste Berührung hinterließ ein Kribbeln in seinem ganzen Körper.

„Kommen Sie, Méi, ich glaube, mein Vater möchte Sie gerne kennenlernen.“

Im Vorbeigehen raunte er Cha-Li zu: „Sag bitte Jade, dass es mir sehr leid tut und schicke sie nach Hause. Sie ist zu schön, zu perfekt für mich einfachen Mann.“

Er klopfte am Arbeitszimmer seines Vaters und wartete dessen ‚Herein’ ab. Dann bedeutete er Pflaumenblüte kurz zu warten und öffnete die Tür: „Dad? Hast du einen Moment für mich Zeit?“

„Sicher doch. Was liegt an?“

Arthur schmunzelte: „Was wohl, du Heuchler.“

„Also, du hast dir die Damen angesehen und sie wieder weggeschickt, wie angekündigt.“

„So in etwa.“

„Gut, dann wüsste ich nicht, was es noch zu besprechen gäbe.“

„Eine Frage habe ich noch.“

„Bitte?“

„Wer kommt für den Unterhalt von Pflaumenblüte auf?“

Mr. Clennam blickte ruckartig von seinen Unterlagen auf: „Das ist in der Tat eine große Überraschung. Du… du… ach, nun ist es an mir, sprachlos zu sein.“

„Möchtest du sie sehen?“

„Was denkst du denn? Natürlich möchte ich die Frau sehen, die das geschafft hat!“

Arthur schob Méi-Hua an den Schultern zur Tür herein. Sie reichte ihm gerade mal nur bis zur Brust, ein Umstand, der sofort den Beschützer-Instinkt in ihm weckte.

„Vater, dies ist Méi-Hua. Oder wie wir sagen, Pflaumenblüte.“

Mr. Clennam nickte: „Sehr schön. Ich heiße Sie willkommen in meinem Haus, Méi-Hua. Für heute Abend ist es bereits zu spät, um noch geschäftliche Dinge abzuwickeln. Welcher Cha ist Ihr Vertreter?“

„Cha-Dong, Layohé.“

„Gut. Ich spreche morgen mit ihm. Wan an, Méi-Hua.“

„Wan an, Laoyé.“

„Arthur – gute Nacht. Ich würde sagen, du hast eine gute Wahl getroffen, auch wenn ich die zweite Kandidatin nicht gesehen habe. Du wirst deine Gründe gehabt haben. Und ich möchte noch erwähnen, dass es mich sehr freut, dass du deine Meinung geändert hast. Du wirst es nicht bereuen. Schlaf gut.“

 

 

 

End Notes:

 

Im Forum gibt es drei Bilder, die chinesische Konkubinen zeigen, die im Übrigen nichts mit japanischen Geishas gemein haben.

Kapitel siebenundzwanzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig

Erwähnung finden der Koch der Clennams und Sanfte Jade

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: Wan an - siehe Kapitel fünfundzwanzig

 

Als sich die Tür zum Arbeitszimmer seines Vaters schloss, setzte ein riesiger Schub Verlegenheit bei Arthur ein. Er stand hier mit einer Chinesin an seiner Seite, deren Sprache er nicht konnte, die kaum seiner Sprache mächtig war, einer Frau, die ihm völlig fremd war, die ihn nicht kannte und in wenigen Minuten sollte er mit ihr… - ihm wurde regelrecht schwindelig!

Doch die Chas retteten ihn aus der Situation. Sie kamen auf das Paar zugeschossen und redeten alle beide auf einmal. Cha-Dong sprach mit Méi und Cha-Li mit Arthur.

„Gut, Sanfte Jade weg. War nicht mehr ganz hocherfreut, egal. Pflaumenblüte gute Qiè, bestimmt.“

„Aber sie wird nicht von dir protegiert, sondern von deinem Bruder. Ärgert dich das?“

„Nix ärgern Cha-Li. Alles gut. Shaoyé haben Qiè, Cha-Li freuen.“

„Ja, das merkt man. Ihr seid ja beide völlig aus dem Häuschen.“

„Shaoyé erst ein paar Tage in Shanghai und schon gefunden Qiè. Das sehr gut.“

„Mir blieb ja gar keine andere Wahl. Ihr habt das sehr geschickt eingefädelt, das muss man euch lassen.“

Sie hatten die Tür zu Arthurs Zimmer erreicht und öffneten diese. Arthur rollte mit den Augen. Na, das hatte gerade noch gefehlt! Er hätte es sich ja denken können, dass die beiden noch eine Überraschung parat hatten. Sie hatten einen niedrigen Lacktisch reingeschleppt, diesen hübsch dekoriert und darauf ein chinesisches Abendessen serviert.

„Shaoyé und Qiè nun essen, dann schlafen.“

„Aha. Danke. Ach, Cha-Li, bevor ich es vergesse: Raus jetzt mit euch beiden, aber schnell!“

„Wan an, Shao…“, weiter kam er nicht, denn Arthur packte ihn am Oberarm und führte ihn zur Tür: „Wan an, Cha-Li, auf morgen!“

Leicht verängstigt folgte Cha-Dong seinem Bruder auf dem Fuß.

Méi musste sich sogar das Lachen verbeißen. Es war den hochgestellten chinesischen Freudenmädchen eigentlich nicht – oder nur in Ausnahmefällen - erlaubt, persönliche Gefühle zu zeigen, einen Grundsatz, den man als Erstes in der Ausbildung zu lernen hatte, doch Méi fand diese Regel schon immer viel zu streng.

Sie fand sich auch sofort in ihre Pflichten ein, setzte sich zu Tisch und fragte: „Aaßeeh mögen chinesisch Essen?“

„Ich habe bisher noch nicht sehr viel davon gegessen. Aber ich bin sehr neugierig darauf. Es sieht sehr gut aus.“

„Setzen hin, dann Méi zeigen, wie essen mit Stäbchen, ja?“

„Wunderbare Idee, Méi.“

Er stellte sich nicht sonderlich geschickt mit den Essstäbchen an, wieder und wieder fielen ihm die Brocken herunter und landeten ständig in seiner Schale anstatt in seinem Mund.

Méi schüttelte lächelnd den Kopf: „Müssen verhungern, Aaßeeh.“

„Scheint so.“

„Méi helfen.“

Sie nahm seine Stäbchen und klemmte damit behände einige Fleischstücke ein. Dann führte sie das Essen zu seinem Mund. Arthur öffnete diesen brav und ließ sich von ihr füttern.

„Gut?“

„Hmh, sehr gut. Was ist das?“

„Gebraten Ente.“

„Exzellent. Mehr, bitte.“

Méi, die ihren überdimensionalen, eher zeremoniellen Kopfputz mittlerweile abgelegt hatte, fand Spaß daran Arthur zu füttern. Er erzählte ihr dabei sogar, dass er als Schiffskoch gearbeitet hatte. Martin erwähnte er jedoch zunächst nur beiläufig. Sie merkten über das gemeinsame Essen und Erzählen gar nicht, wie die Zeit verrann und dass es dunkel wurde.

Erst als draußen im Innenhof die Boys einige Kerzen in den Lampen und Lampions anzündeten, wurde es ihnen bewusst, daher machte Arthur auch ein wenig Licht in seinem Zimmer. Die Kerzen tauchten alles in ein sehr weiches, angenehmes Licht, in welchem Méi einfach zauberhaft aussah.

„Danke Méi, es war ein ausgezeichnetes Essen. Und beim nächsten Mal werde ich sicher mit den Stäbchen schon besser umgehen können.“

„Nun gehen Bett?“

Arthur wusste, dass Méi diese Frage so direkt nicht meinte, wie sie sie gerade ausgedrückt hatte, dennoch lief er feuerrot an und war froh, dass man dies bei dem spärlichen Licht wahrscheinlich kaum erkennen würde.

„Ja. Sind Sie müde, Méi?“

„Nur, wenn Arthur auch müde.“

Inzwischen hatte sich die Aussprache seines Namens bei ihr um einiges verbessert. Sie lernte ungeheuer schnell.

Aber – er wusste, dass der Augenblick gekommen war, in welchem er lernen musste; und zwar ganz bewusst mit einer Frau in seinem Bett umzugehen.

„Méi…“, er brach nervös ab.

„Ja? Was wollen sagen Arthur?“

„Nichts, schon gut. Möchten Sie noch etwas Wasser?“

Doch sie war nicht dumm, auch nicht unerfahren, auch wenn sie noch recht jung war. Sie hatte ihn lange genug an diesem Abend beobachtet, seine Reaktionen genau studiert und schließlich Eins und Eins zusammengezählt. So nahm sie ihm die Wasserkanne einfach aus der Hand und stellte sie auf die Kommode: „Arthur?“

„Ja, bitte?“

Sie ging ziemlich rasch zur Attacke über, ließ ihm gar keine Zeit mehr zum Nachdenken, das war manchmal am besten so. So hatte sie sich im Handumdrehen an ihn geschmiegt und so rasch seine Weste und teils auch sein Hemd aufgeknöpft, dass er es kaum wahrgenommen hatte.

„Arthur sehr großer Mann. Méi das mögen.“

Mit diesen geschickt platzierten Komplimenten, die aber nicht übertrieben waren, sondern lediglich Tatsachen in nette Worte kleideten, erreichte sie, dass er sich teilweise entkrampfte.

Zwar gab sie den Ton an, doch das tat sie so raffiniert, dass man hätte denken können, er wäre die treibende Kraft bei der ganzen Sache.

Als sie ihm mit ihrer kleinen Hand unter dem Hemd über seine nackte Brust strich, setzte er erneut zu einem Geständnis an: „Oh Méi, ich habe…“, doch sie hielt ihm ihre andere Hand sanft vor den Mund und raunte: „Sch! Nix sagen. Arthur sich wunderbar anfühlen.“

Nicht lange darauf hatte sie ihn fast komplett entkleidet, was Arthur so gut wie gar nicht mehr mitbekam, da er sich irgendwo gefühlsmäßig zwischen höchster Ekstase und größtmöglicher Scham befand.

Erst als sie einen Teil ihres Kleides raffte, sich rittlings auf ihn setzte und ihn in sich aufnahm, hörte er jemanden ganz ungebührlich stöhnen.

Arthur brauchte ewig, um zu realisieren, was geschehen war, und dass er selbst diese animalischen Laute von sich gegeben hatte.

Das Nächste, was ihm wieder klar ins Bewusstsein kam, waren Méis Worte: „Nächstes Mal Méi zeigen, wie Arthur muss entkleiden Frau.“

Er wurde noch einmal ein wenig rot und murmelte dann träge: „Du hast gewusst, dass ich noch niemals bewusst eine Frau hatte, nicht wahr?“

Doch Méi lächelte ihn nur hintergründig an und gab keine Antwort. Daraufhin blies er noch die Kerzen aus und fiel dann in einen unruhigen Schlaf.

Gabriel Clennam erwähnte am nächsten Morgen die Anwesenheit von Méi im Haus mit keinem Wort, was Arthur sehr angenehm fand. Er wäre vor Scham vergangen, wenn sein Vater auf die Ereignisse der Nacht zu sprechen gekommen wäre. Auch die Boys verhielten sich erstaunlich ruhig und diskret. Alles lief so ab wie sonst auch.

Doch Arthur musste einige Fragen stellen, da ihn die Ungewissheit plagte und fing deshalb von sich aus an: „Dad, was wird sie machen, wenn wir in der Manufaktur sind?“

„Was wird wer machen?“

„Du weißt schon… Méi.“

„Das, was alle ihrer Zunft dann machen. Sie wird sich weiterbilden. Sie lernt deine Sprache, sie wird musizieren, vermutlich spielt sie dieses lautenähnliche Instrument, sie wird in kunstvoller Ausfertigung Schriftzeichen mit Tusche malen, vielleicht auch Bilder, und dir am Abend ihre Fortschritte präsentieren. Dann wird sie dich in Chinesisch unterrichten und… ja, das war schon so gut wie alles.“

„Verstehe. Um die Hausarbeit muss sie sich nicht kümmern?“

„Wo denkst du hin! Dafür sind die Hausangestellten, die Boys und der Koch da. Ich möchte von dir nur wissen, ob du denkst, dass es sich lohnt für sie Geld auszugeben?“

„So direkt gefragt, muss ich die Frage bejahen. Allerdings fühle ich mich gar nicht gut bei dem Gedanken, dass ich eine Prostituierte aushalte.“

„Vergiss deine bisherigen Vorstellungen von Prostitution, mein Junge. Das hier ist etwas völlig anderes. Und wenn es dir leichter fällt, dann sieh’ sie als deine Chinesisch-Lehrerin an. Was sie ja unter anderem auch ist.“

„Ich versuche es.“

Gabriel Clennam räusperte sich: „Hmh, noch etwas, Arthur. Ich wollte das Thema nicht von mir aus beginnen, bin nun aber froh, dass du es angesprochen hast. Ich möchte dir darlegen, wie der Status einer Qiè ist, was du erwarten kannst und was nicht. Es gibt da ziemlich klare Regeln.“

„Gut, ich höre.“

„Du kannst alles mit ihr machen, es gibt keine Einschränkungen. Nur eine einzige Bedingung ist daran geknüpft und diese ist unumstößlich: Komme niemals, wirklich nie, niemals auf die Idee, deine Konkubine heiraten zu wollen!“

Arthur holte tief Luft und nickte dann: „Ist in Ordnung.“

„Gut. Wenn wir schon die Dinge beim Namen nennen, dann noch etwas: Qiès sind normalerweise sehr findig und wissen meist Mittel und Wege, um zu verhindern, dass sie schwanger werden. Frag’ mich bitte nicht, wie sie das machen, es gibt hier tausend Arzneien und Quacksalber, die damit sehr geheimnisvoll tun, aber offensichtlich ist es sehr wirkungsvoll. Sollte es dennoch dazu gekommen sein, dass ein Kind entstanden wäre, wird sie dir das nie sagen. Sie wird es gleich wegmachen lassen. Auch dafür haben die hier ihre Mittelchen.“

„Das… das kommt mir alles sehr unwirklich vor, Vater. Es fällt mir sehr schwer, mich in diese Kultur, in diese Denkweise der Chinesen, speziell der von Méi und anderer Damen, hineinzuversetzen.“

„Es ist wie es ist und wir haben das zu akzeptieren. Wenn wir das Spiel mitspielen wollen, dann halten wir uns gentlemanlike selbstverständlich an die Regeln, wie auch wir erwarten, dass sich die Chinesen ihrerseits an gewisse Regeln halten.“

„Das sehe ich ein.“

„Wunderbar. Dann sehen wir uns gleich im Betrieb, ja?“

„Natürlich, Vater.“

 

 

 

End Notes:

 

Im Forum können Bilder von einem chinesischen Haus mit gartenähnlichem Innenhof angesehen werden!

Kapitel achtundzwanzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig

Weiterhin chinesische Arbeiter

Erwähnung findet der Chinese Tan-Fu und der Koch der Clennams

Orte: In der Clennam’schen Seidenherstellung, im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar:
Ni hao – siehe Kapitel dreiundzwanzig
Lotosfüße – der arg verschönende Ausdruck für die auf sehr brutale Art und Weise verkrüppelt gemachten Füße einer besser gestellten Chinesin; bitte für Details bei Wikipedia nachschlagen, da mir wirklich die Worte fehlen, das zu beschreiben.

 

Arthur war sich nicht zu schade gewesen, den ganzen Tag mit den Arbeitern auf der Maulbeer-Plantage zu verbringen und kübelweise Kokons abzusammeln. Er wollte diese Arbeit unbedingt eine Weile selbst ausführen und Gabriel Clennam ließ ihn gewähren. Es würde ihm nicht schaden. Er trug eine Arbeitsjacke, die ihm allerdings ein gutes Stück zu klein war, und einen Strohhut auf dem Kopf, was ihn von ferne nur durch seine immense Körpergröße von den Chinesen auf dem Feld unterschied.

Trotzdem hatten ihm Staub und Hitze sehr zugesetzt, so dass er völlig erledigt und auch verdreckt zur Teezeit zu Hause ankam. Cha-Dong raste sofort ins Bad, um Wasser heiß zu machen. Arthur traute sich gar nicht, in diesem Zustand auf Méi zu treffen, doch es ließ sich leider nicht vermeiden, denn sie saß im Innenhof und hatte ihren Tuschkasten bei sich, um sich in Kalligrafie zu üben. Als sie hörte, dass die Boys aktiv wurden und Lärm machten, blickte sie sich um und sah Arthur in der Halle stehen, wo er gerade von Cha-Li umwuselt wurde.

Arthur hob die Hand und winkte ihr zu.

Da stand Méi auf und kam durch die offene Tür zu ihm: „Ni hao. War gut bei Seide?“

„Ni hao, Méi. Oh ja, aber sehr anstrengend. Vielleicht habe ich ein bisschen zuviel zugepackt auf dem Feld.“

„Waren auf Feld? Wie Arbeiter? Deswegen schmutzig?“

„Ja.“

„Méi nicht denken, dass Shaoyé arbeiten auf Feld.“

„Ich heiße Arthur, Méi.“

„Entschuldigen. War dumm von Méi. Nehmen Bad?“

„Ich glaube, Cha-Dong ist gerade dabei mir das Bad zu richten, ja.“

„Danach Méi zeigen Arthur ihre Arbeit.“

„Darauf freue ich mich. Bis gleich.“

Es konnte ihm im Bad nicht schnell genug gehen, er wollte sehen, was Méi heute getan hatte. Außerdem wollte er gerne Tee trinken, gemeinsam mit seinem Vater und ihr.

Erfrischt und umgekleidet kam er schließlich in den Innenhof, um sich Méis Werk anzuschauen.

Sie zeigte ihm zunächst die Tusche, das wirklich fein geschöpfte Papier und die verschiedenen Pinsel, in allen möglichen Stärken und Haarvarianten. Dann klappte sie eine reich verzierte große Mappe auf und holte die Tuschezeichnungen der Schriftzeichen heraus.

Méi war sehr klug, sie hatte das Zeichen für ‚Vater’ gewählt und wollte es zum Tee dann Mr. Clennam mitbringen: „Das Méi dann schenken Laoyé.“

„Wundervoll. Es sieht nicht zu kompliziert aus.“

„Ist einfach.“

Arthur lachte: „Ja, für dich, Méi. Für mich nicht.“

„Arthur schnell lernen.“

„Das hoffe ich.“

Das zweite Zeichen war der Jahreszeit gewidmet, stand also für ‚Sommer’.

„Puh, ich werde nie lernen, diese Zeichen auseinander zu halten“, meinte Arthur nach einem längeren Blick darauf.

Ein drittes kunstvoll gemaltes Schriftzeichen war wiederum mit Bedacht von Méi gewählt. Arthur merkte sofort, dass sie sich einiges bei der Auswahl der Zeichen gedacht hatte, er fand es überaus bemerkenswert von ihr. Dieses Zeichen nun stand für ‚Glück’.

„Das Méi schenken Arthur. Wünschen immer Glück.“

Er war sichtlich gerührt: „Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll. Das… das ist ganz reizend von dir, Méi. Ich freue mich sehr über dieses Geschenk, vielen Dank.“

Arthur wollte sich zu ihr neigen und sie küssen, doch sie wich einen winzigen Schritt zurück, so dass er sie nicht direkt erreichen konnte und sagte leise: „Méi gern machen.“

Gerade wollte Arthur nachfragen, warum er sie nicht berühren durfte, da rief Cha-Li aus vollem Halse zum Tee: „Shaoyé, Qiè, Tee sein fertig!“

Méi packte das Schriftzeichen ‚Vater’ in die Mappe und nahm diese mit in den Salon.

Allein die Tatsache, dass Méi-Hua gemeinsam mit den Hausherren zu Tisch sitzen durfte, zeigte deutlich ihren Status.

Sie benahm sich völlig gemäß den europäischen Tischsitten und wusste genau, was sie zu tun und was sie zu lassen hatte. Gabriel Clennam war sehr von ihr angetan. Er hatte von Anfang an nicht den geringsten Zweifel gehabt, dass Arthur eine gute Wahl treffen würde.

Bevor die Teestunde beendet wurde, überreichte Méi das Papier an Mr. Clennam: „Méi gemacht für Laoyé.“

Und Arthur fügte hinzu: „Es ist das Zeichen für ‚Vater’.“

„Eine nette Überraschung, danke Méi, freut mich sehr.“

Dann wandte sich Mr. Clennam an seinen Sohn: „Morgen ist Sonntag. Ich würde gerne im Club den Lunch nehmen, aber ich kann dich sicher nicht dazu überreden mitzukommen, habe ich Recht?“

“Hast du, Vater. Solange sich die Sache mit Pferd und Wagen nicht geklärt hat, möchte ich so wenig wie irgend möglich Rikscha fahren.“

„Gib bitte über Cha-Li dem Koch Bescheid, dass du und Méi dann hier zu Mittag essen werdet.“

„Mache ich. Vielleicht richtet er wieder etwas Chinesisches her, wie mir das Dinner gestern Abend gezeigt hat, muss ich dringend den Umgang mit Essstäbchen lernen.“

„Wobei dir Méi sicherlich behilflich sein wird.“

„Du sagst es, Dad.“

„Dann sehen wir uns später zum Dinner noch einmal.“

Arthur erklärte Méi, dass er sich schleunigst den Plänen für den Wagenumbau widmen musste und entschuldigte sich bei ihr, dann zog er sich ins Arbeitszimmer zurück. Er hörte sie singen und die Laute ein wenig zupfen, während er über der Konstruktion brütete.

Als es dunkelte, war er endlich zufrieden mit dem, was er zustande gebracht hatte.

Er stand auf, streckte sich und schob die Tür auf. Méi saß noch immer im Innenhof, obwohl es langsam finster wurde.

Er rief leise ihren Namen: „Méi!“

Sie drehte sich nach ihm um und erhob sich: „Arthur rufen?“

„Ja. Du kennst nicht zufällig einen Wagenbauer, der hier große Rikschas fertigt?“

„Mann, der machen Rikschas?“

„Ja.“

„Doch kennen. Tan-Fu.“

Arthur sah sie erstaunt an: „Tatsächlich?“

„Ja, Méi ihn kennen.“

„Bringst du mich morgen zu ihm? Bitte?“

„Ja. Aber sehr weit.“

„Oh, können wir da nicht zu Fuß hingehen?“

„Laufen auf Füße? Nix geht, nehmen Rikscha.“

„Ich fahre nicht gern Rikscha, Méi.“

„Tan-Fu sehr weit.“

„Aber wir haben morgen ganz viel Zeit, wir können laufen.“

Doch Méi schüttelte vehement ihren Kopf: „Arthur laufen ohne Méi.“

„Nein, du musst mitkommen, zum Übersetzen, bitte.“

Sie hob den Kopf und sah ihn an, erst jetzt bemerkte er, dass Tränen in ihren Augen standen: „Méi nix gut laufen. Füße nix können laufen.“

Er war bestürzt, wusste aber nicht genau, was sie meinte: „Was… was ist mit deinen Füßen?“

Sie unterdrückte das Weinen, weil es ihr so beigebracht worden war, daher konnte sie nur stockend sprechen: „Füße kaputt. Gewickelt, als Méi sein Mädchen. Damit nix weiter wachsen. Füße von Qiè klein sein müssen.“

Er erfasste die Bedeutung nicht ganz, aber er spürte, dass es wiederum um Dinge ging, die ihm total fremd waren und gegen seinen gesunden Menschenverstand sprachen.

„Aber… aber du läufst doch auch hier im Haus umher. Ich verstehe das nicht ganz.“

„Im Haus gehen gut. Nur nix draußen.“

„Ich hoffe, ich habe das nun alles richtig verstanden, falls nicht, sag es bitte: Du kannst nur sehr kurze Strecken gehen, weil deine Füße als Kind gewickelt wurden, damit diese nicht wachsen konnten, da kleine Füße Voraussetzung dafür waren, dass du eine Qiè werden konntest?“

„Ja.“

Arthur war zutiefst erschüttert. Er nahm Méi an die Hand und zog sie kommentarlos mit sich.

In seinem Zimmer machte er die Tür zu und bedeutet ihr, sich auf die Bettkante zu setzen: „Und nun zeig mir bitte deine Füße. Sofort!“

Sein Tonfall ließ kaum einen Widerspruch zu, doch Méi schüttelte den Kopf, wollte seiner Aufforderung nicht Folge leisten.

„Méi, bitte! Sonst ziehe ich dir Schuhe und Strümpfe aus!“

Endlich kam Bewegung in sie und sie tat, wie ihr geheißen. Aber nun rannen ihr die Tränen, die sie so mühsam versucht hatte zu unterdrücken, doch in Sturzbächen zu den Wangen herunter.

Was zum Vorschein kam, war unfassbar für Arthur.

Aufs Äußerste bestürzt kniete er vor ihr nieder und nahm eines der völlig verkrüppelten Füßchen in seine kräftige Hand: „Méi, wie kannst du damit überhaupt laufen? Das ist ja furchtbar. Hast du denn keine Schmerzen? Ich kann mir vorstellen, dass es arg wehtun muss.“

Sie schluchzte, schniefte und stammelte dann: „Méi kann laufen, aber nix weit. Als Kind viel schreien, jetzt nicht mehr. Tun weh, ja, aber gehen. Méi tapfer.“

Arthur zog sie fest in seine Arme und wiegte sie lange, lange Zeit sanft hin und her. Mehr konnte er erst einmal nicht tun, die Verstümmelung war geschehen und ließ sich leider nicht mehr rückgängig machen. Aber seine Einstellung zu China wurde immer kritischer. Mit den Rikschas hatte es begonnen und es kamen immer mehr Punkte dazu, die in seinen Augen das Land in wenig vorteilhaftem Licht erscheinen ließen.

Erst nach einer ganzen Weile fragte er sie: „Sag Méi, warum wolltest du vor dem Tee im Hof nicht, dass ich dich küsse?“

„Sein falsch von mir, bitte verzeihen, Arthur.“

„Gibt es einen Grund?“

„In China man nix küssen. Ganz wenig nur. Qiè erst müssen lernen, weil Mann aus Europa das immer machen. Aber Qiè lernen, man nur küssen in Bett, nix in Öffentlichkeit.“

„Das ist schon richtig. Aber hier im Haus, das ist ja keine Öffentlichkeit. Draußen auf der Straße wäre es in der Tat sehr ungebührlich, das stimmt. Das macht man natürlich auch in Europa nicht.“

Méi nickte.: „Gut. Méi nun wissen das.“

Arthur lächelte: „Aber hier sind wir ja im Bett – da kann man das doch ohne weiteres tun, nicht wahr?“

Und damit drückte er Méi in eindeutiger Absicht noch fester an sich.

 

 

 

 

End Notes:

 

Im Forum gibt es Bilder zu diesem Kapitel, u.a. auch die Schriftzeichen

Kapitel neunundzwanzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig

Weiterhin der Vikar der anglikanischen Kirchengemeinde, der Wagenbauer Tan-Fu und Rikscha-Fahrer.

Erwähnung finden Königin Kleopatra, Julius Cäsar und Marcus Antonius

Orte: In Shanghai in der anglikanischen Kirche, bei Tan-Fu, im Hause der Clennams in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar:
Qipao – ein aus Seide gefertigtes, meist reich besticktes traditionelles chinesisches Gewand für Damen mit einer Knopfreihe schräg vom Hals bis zur Achselhöhle. Getragen wurde aber wohl eher der Hanfu (erläutere ich später)
 

 

Sie hasteten einige Zeit später regelrecht hinüber zum Dinner, beinahe hätten sie es verschlafen, weil sie sich im Bett ausgiebig miteinander beschäftigt hatten. Als der Gong ertönte, waren sie beide nicht einmal komplett angezogen.

Arthur hüllte sich daher nur rasch in seinen grünen Morgenmantel, Méi warf sich ihr traditionelles Kleid schnell über, aber es blieb keine Zeit, um ihre Frisur kunstfertig wiederherzustellen.

Beinahe atemlos setzten sie sich an den Tisch, wo Mr. Clennam sie bereits erwartete.

Er musterte seinen Sohn und dessen Konkubine und meinte dann: „Es geht mich natürlich nichts an, was du in deinen eigenen vier Wänden tust, Arthur, aber ich erwarte in Zukunft zum Dinner etwas angemessenere Kleidung. In diesem seidenen Etwas kannst du von mir aus gerne zum Frühstück erscheinen, ansonsten möchte ich das Kleidungsstück an diesem Tisch nicht sehen, verstanden?“

Arthur blickte sowohl peinlich berührt als auch schuldbewusst zu Boden und nickte: „Selbstverständlich, Vater. Es tut mir leid.“

„Es sei dir für heute verziehen, da ich weder mit Blindheit noch mit Taubheit geschlagen bin. Und nun guten Appetit.“

Mit hochrotem Kopf griff Arthur zum Suppenlöffel.

Er wagte es nicht, mit Méi während des Rückwegs in sein Schlafzimmer darüber zu reden, aber er fragte sich, was genau sein Vater - und somit sicher auch die Dienerschaft - durch die nicht komplett verkleideten, halboffen gestalteten Türen alles mitbekommen hatte. Er nahm sich vor, da in Zukunft etwas mehr darauf zu achten.

Deswegen sprach er um etliche Nuancen leiser, als er Méi von seiner abenteuerlichen Überfahrt nach Shanghai berichtete. Lächelnd zeigte er ihr die schöne Wellhornschnecke aus Sao Tomé.

„Wieso Arthur reden so leise?“

„Sch, weil ich denke, dass alle hier mithören können, was bei uns gesprochen wird. Die Türen lassen jeden Laut durch hier.“

„Aber das sein chinesisch Haus. Das sein normal. Alle immer alles hören.“

„Mag schon sein, aber es muss ja nicht jeder mitbekommen, was wir reden… oder sonst noch tun.“

Méi rollte sich ein ganzes Stück näher an ihn heran und flüsterte: „Aber das man kann nicht machen leise. Wenn Körper werden eines, man nicht können unterdrücken Laute. Das nicht gut, das müssen raus.“

„Mir ist es aber ungeheuer peinlich, wenn das jeder hören kann. Ich beiße lieber in ein Kissen.“

„Gut, Arthur probieren das heute! Und jetzt lernen, Frau in Vorfreude auf Freude zu entkleiden!“

Sie gab ihm präzise Anweisungen, doch sehr weit kam er nicht, da er furchtbar zittrige Finger bekam und kaum noch einen der feinen Knöpfe öffnen konnte. Bevor er seinen Verstand einschalten konnte, hatte er bereits in Vorfreude auf die Freude, wie es Méi so schön ausgedrückt hatte, aufgestöhnt. Erschrocken hielt er sich die Hand vor den Mund: „Oh nein! War ich sehr laut?“

Méi musste lachen: „Sehr laut, ja. Alle hören. Brauchen nix mehr Kissen dann.“

Ihre Haut unter dem Kleid war ebenso weich und zart wie die edelste Maulbeerseide.

„Wie machst du das, dass deine Haut so unglaublich seidig ist? Badest du in Eselsmilch wie Königin Kleopatra?“
“Das sein Königin von England?“

Er lachte: „Nein, das war eine berühmte Pharaonin von Ägypten, und die Geliebte von Julius Cäsar und Marcus Antonius.“

Méi zog eine Truhe heran, öffnete diese und holte ein Fläschchen mit einer gelblich-grünen Flüssigkeit heraus: „Das nehmen Méi für Haut. Wundervolles Öl. Arthur nehmen und es auf Méi verreiben. Gut riechen und wohl tun. Und dann gleich Méi sein Geliebte von Arthur!“

Diese Aussicht entlockte ihm sofort ein weiteres Aufstöhnen, dessen Lautstärke er gerade noch rechtzeitig durch einen Biss auf seine Handknöchel regulieren konnte.

Nach einem etwas ausgedehnteren Frühstück, weil Sonntag war, verließ Gabriel Clennam in einer Einzel-Rikscha das Haus Richtung Club. Arthur und Méi ließen eine Doppel-Rikscha kommen, um zum Wagenbauer Tan-Fu zu fahren. Wegen des schlimmen Zustands von Méis Füßen stellte Arthur all seine Bedenken bezüglich des Rikscha-Fahrens fürs Erste hinten an.

Méi trug einen wundervollen, reich bestickten Qipao und hatte ihren Schirm aufgespannt, obwohl die Rikscha ein Sonnendach hatte.

Arthur hatte seinen Strohhut auf und einen leichte, sommerliche Frack-Westen-Kombination gewählt.

Unterwegs ließen sie die Fahrer einmal anhalten, vor allem, um diesen eine kleine Verschnaufpause zu gönnen, aber auch – und das erwies sich als äußerst praktischer Zufall – weil man an der Missionsstation der Church of England vorbeikam. Da Sonntag war, nutzte Arthur die Gelegenheit, dort für einen Augenblick hineinzuschauen. Er wurde vom Vikar überaus freundlich begrüßt, als Neuankömmling der kleinen, überschaubaren britischen Gemeinde Shanghais. Méi, die ein paar Schritte hinter Arthur stand, wurde hingegen komplett vom Vikar ignoriert.

Arthur entzündete eine Kerze und betete kurz, dann setzten sie ihren Weg zu Tan-Fu fort.

„Méi, bitte denke nicht, ich hätte nicht bemerkt, dass du nicht vom Vikar begrüßt worden bist. Warum hat er das getan?“

Méi seufzte und antwortete: „Sein christliche Kirche. Qiè dort nix gut. Nur richtige Ehefrau gut.“

„Verstehe. Das war eine sehr dumme Frage von mir, entschuldige.“

„Arthur nix müssen entschuldigen. Zu sein eine Qiè sehr große Ehre in China, aber schlecht sein in Europa. Méi das nix verstehen.“

„Ich weiß. Ich… ich hatte auch Probleme, das alles zu verstehen, die unterschiedlichen Anschauungen unserer Kulturen nicht zu vermischen, wo Vermischungen einfach unangebracht sind und alles mit Verstand und Gefühl einzeln und situationsabhängig zu betrachten. Das ist wahrlich nicht einfach.“

Méi nickte und Arthur griff ganz kurz nach ihrer Hand, um diese liebevoll zu drücken. Da er aber wusste, dass derlei Zärtlichkeiten auf offener Straße unerwünscht und unangebracht waren, zog er seine Hand sehr schnell wieder zurück.

Bei Tan-Fu ging alles wesentlich unkomplizierter vonstatten, als gedacht. Arthur war überrascht, wie gut Méi seine Vorstellungen offensichtlich übersetzte und dem Rikscha-Spezialisten nahe brachte.

Der Chinese zeigte Arthur verschiedene Rikscha-Modelle und schaute sich die Zeichnungen genau an. Zwar sah er die Notwendigkeit eines von einem Pony gezogenen Phaetons nicht ein, da Rikschas sein einziger Lebensinhalt bisher gewesen waren, aber er räumte ein, dass es in gehobenen Kreisen, natürlich vor allem im kaiserlichen Haus, bereits Pferdefuhrwerke gab.

Doch er ließ sich von der Begeisterung Arthurs anstecken und zeigte Interesse an einem derartigen Gefährt.

Dieser Ausflug hatte mit kleinen Pausen während Hin- und Rückfahrt fast den ganzen Tag in Anspruch genommen und so kehrten Arthur und Méi tatsächlich erst zum Tee zurück.

Da das Wetter an diesem Sonntag ausgesprochen angenehm war, es war sonnig, aber nicht zu drückend heiß, wurde der Tee im Innenhof des Hauses eingenommen, was für eine lockere, fast picknick-artige Atmosphäre sorgte.

Arthur berichtete von seinem Gespräch mit Tan-Fu und Gabriel Clennam meinte gut gelaunt, dass man den Familienbetrieb dann doch früher oder später von der Stoffherstellung auf Wagenbau umstellen müsse.

Auch er konnte nach seinem Besuch im Club eine gute Nachricht beisteuern, nämlich, dass man in Kürze ein Pony im Kloster von Huzhou in den Tianma Shan Bergen von Songjiang würde abholen können.

Überaus zufrieden mit dem Verlauf dieses Sonntags begannen Arthur und Méi mit ein bisschen Chinesisch-Unterricht. Méi war immer darauf bedacht, Worte, Begriffe und Zeichen zu verwenden, die einen Bezug zu Arthur hatten, damit diesem es leichter fiel, sich das alles zu merken. Dieses Mal ging es zuerst um ‚blaue Augen’.

„Arthur haben so klare blaue Augen, so schön. Chinesinnen das sehr mögen.“

Sie kicherte ein wenig bei ihren Worten, und natürlich war Arthurs Gesicht sofort von einem rosa Hauch überzogen.

Sie nahm den Zeichenblock und tauchte den Pinsel in die Tusche, dann malte sie schwungvoll ein Schriftzeichen auf das Papier.

„So, das sein Zeichen für ‚Himmelsstern’, wie Chinesen auch nennen blaue Augen.“

„Und es gibt kein direktes Schriftzeichen für die Worte ‚blau’ und ‚Augen’?“

„Doch, geben. Aber machen keinen Sinn, da Einzelworte, ohne Zusammenhang.“

Arthur war verwirrt, aber er gab es nicht zu. Stattdessen malte er brav das Zeichen nach, zunächst nur mit Bleistift, was längst nicht so vollendet und schön aussah, wie das getuschte Zeichen. Erst als Méi nach mehreren Versuchen von ihm zufrieden nickte, durfte er das Zeichen tuschen.

„So, und nun Méi sagen etwas über andere Sterne, über Astrologie, wie es nennen Engländer. In China Astrologie geben zwölf Tiere, jedes Jahr stehen für ein Tier. Chinesisches Jahr. Arthur sein geboren welches Jahr?“

„Ähm… ich wurde im Mai 1802 geboren.“

„Gut. Dann Arthur sein ein Hahn.“

„Aha. Und du?“

„Méi sein eine Schlange.“

„Ich meine, wann bist du geboren?“

Sie kicherte erneut: „Arthur wollen wissen das? Sehr schlau! Méi sein sehr alt – zwanzig und ein Jahr.“

Er lächelte, sie war drei Jahre jünger als er und bezeichnete sich als alt. Doch er dachte sofort über den tieferen Sinn ihrer Worte nach, die oberflächlich betrachtet kokett wirken mochten, was sie aber ganz und gar nicht waren, denn er ahnte -  wenn sie bereits mit einundzwanzig Jahren eine erfahrene Qiè war, dann musste ihre Ausbildung dazu früh begonnen haben.

Sie fuhr in ihren Ausführungen über die chinesische Astrologie fort: „Hahn haben gute Eigenschaften: Sein ehrlich, ausdauernd, großßügig, ruhig, ßielstr… Méi nix können sagen Wort, zu schwierig.“

Arthur fragte nach: „Zielstrebig vielleicht?“

Sie strahlte: „Ja! Das Méi meinen. Und Hahn sein auch charmant.“

„Oh, vielen Dank. Und jetzt sagst du mir, was die Eigenschaften der Schlange sind, bitte.“

Er setzte einen sehr bettelnden Gesichtsausdruck auf, dem Méi einfach nicht widerstehen konnte: „Wenn Arthur Méi so ansehen, Méi gerne sagen: Schlange sein elegant, sinnlich, klug und eitel, aber nix viel. Und Astrologie sagen Schlange und Hahn sehr gut passen.“

Arthur räusperte sich leicht verlegen: „Ähm, das finde ich auch. Und allein deswegen denke ich, dass die chinesische Astrologie gar nicht mal schlecht ist.“

Er bekam die Schriftzeichen für ‚Hahn’ und ‚Schlange’ vorgemalt und malte diese dann eifrig nach, bis der Gong zum Dinner ertönte.


 

End Notes:

 

Bilder wie immer im Forum!

Kapitel dreißig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig

Erwähnung finden Mrs. Clennam, Flora Casby (inzw. Finching) und Roderick Finching

Orte: Im Hause der Clennams in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar:
Zaijian – chinesisch: Auf Wiedersehen!
 

 

Arthur ging am nächsten Tag wiederum seiner Arbeit in der Seidenherstellung nach, diszipliniert und zielstrebig (das war doch eine typische Eigenschaft des Hahns, laut chinesischer Astrologie), wie es seine Art war.

Er ging fast immer zur gleichen Zeit aus dem Haus und kam ebenso pünktlich zum Tee wieder zurück.

Die Cha-Brüder empfingen ihn in der Halle und sofort zog Cha-Li ihn ein wenig zur Seite: „Cha-Li sollen Shaoyé von Qiè sagen, dass Qiè morgen weggehen.“

„Was?“

Arthur stand das blanke Entsetzen auf das Gesicht geschrieben.

Er schob den Chinesen kurzerhand zur Seite und wollte Méi-Hua aufsuchen, doch Cha-Li hielt ihn zurück: „Nix gehen und fragen. Qiè nix wollen. Cha-Li alles sagen.“

„Rede, aber schnell!“

„Qiè gehen weg, aber kommen wieder. Nur paar Tage, nix lange.“

„Aber wieso? Ich verstehe das nicht. Und vor allem verstehe ich nicht, warum Méi mir das nicht selbst sagen kann.“

„Müssen gehen. Wollen nix bringen Unreinheit in Haus.“

„Bitte? Cha-Li, ich verstehe rein gar nichts und gehe nun und frage Méi selbst.“

Er ließ den Boy stehen und rauschte durch die Tür in den Innenhof. Doch Méi war nicht dort. Arthur öffnete die Tür zu seinem Zimmer und fand Méi, die ein paar Sachen zusammenzupacken schien.

Sie blickte überrascht auf und senkte den Kopf, als sie ihn erblickte: „Nix gut. Méi nix wollen, dass Arthur stellen Fragen.“

„Was soll das werden? Cha-Li sagte mir, dass du weggehen musst.“

„Nix lange. Kommen bald wieder.“

„Ja, das hat er auch gesagt. Aber ich möchte den genauen Grund wissen, bitte.“

„Méi nix kann sagen. Mann nix verstehen das.“

Arthur setzte sich leicht verstört auf sein Bett und fuhr sich mit der Hand durch die Haare: „Anscheinend. Aber ich würde gerne versuchen es zu verstehen, wenn möglich.“

Doch sie blieb unerbittlich hart und schüttelte den Kopf.

Arthur stand auf und nahm die Tuschsachen an sich, dann blätterte er angestrengt in dem Buch mit den Schriftzeichen für feststehende Begriffe.

„Was Arthur suchen, Méi helfen?“

Er blickte mit sauertöpfischer Miene zu ihr auf und meinte: „Ich suche das Zeichen für ‚Vertrauen’. Ich bin sicher, dass es das geben muss.“

„Ja, das es geben.“

Sie malte es zügig auf den Zeichenblock und zeigte es ihm.

„Na bitte! Ich finde das ist ein unglaublich wichtiges Zeichen und werde es hier über das Bett hängen!“

„Méi verstehen. Haben viel Vertrauen zu Arthur. Aber es geben Dinge, man kann nix sagen.“

Arthur steckte die Zeichnung fest und verließ ohne ein weiteres Wort enttäuscht den Raum.

Gabriel Clennam sah ihm sofort an, dass etwas nicht stimmen musste und sprach ihn beim Tee darauf an: „Wo ist Méi? Und warum blickst du so mürrisch drein? Habt ihr gestritten? Soll vorkommen.“

„Sie packt“, stieß Arthur bitter vor.

„Weswegen?“

„Ich weiß es nicht! Sie will für ein paar Tage weg und sagt mir den Grund dafür nicht. Angeblich müsse ein Mann das nicht wissen. Und Cha-Li faselte etwas davon, dass sie uns nicht die Unreinheit ins Haus bringen möchte. Was soll das? Sie ist eine… ach, du weißt schon und lebt schon fast eine Woche hier und nun auf einmal findet sie, dass sie doch unrein ist? Sehr merkwürdig.“

Mr. Clennam nickte bedächtig und sagte dann: „Ich kreide es deiner Mutter an, da sie wohl versäumt hat, dich über gewisse Vorgänge aufzuklären. Aber das stand zu befürchten, so wie deine Mutter dem allem gegenübersteht. Aber sie hätte diese Aufgabe zumindest an Affrey übertragen können, es wäre besser gewesen, als dich völlig unbedarft in die weite Welt zu schicken. Und das mit über zwanzig Jahren, unverantwortlich!“

„Dad, du sprichst ebenso in Rätseln wie alle anderen hier. Das behagt mir gar nicht.“

„Mir scheint, Méi steht kurz vor einem allmonatlichen Frauenproblem und möchte dies an einem anderen Ort über die Zeit bringen. Das scheint bei Konkubinen eine allgemein übliche Praxis zu sein, sie ziehen sich dann in das Haus ihrer Ausbildung zurück, bis sie nach ein paar Tagen wieder zu ihrem Gönner zurückkehren können.“

„Aha. Ich bin nun genauso schlau wie eine halbe Stunde zuvor, aber zumindest scheint es eine plausible Erklärung für ihr Verhalten zu geben, auch wenn sich mir der genauere Sinn noch nicht recht erschließt. Danke.“

„Es tut mir leid, dass ich dir keine detailliertere Auskunft geben kann. Das ist alles, was ich weiß.“

„Schon in Ordnung, Vater.“

Arthur drang nicht weiter in Méi bezüglich dieser Angelegenheit, worüber sie unendlich froh zu sein schien. Vielleicht würde sie ihm irgendwann einmal sagen, um welches Frauenproblem es sich handelte. Vertrauen – das Schriftzeichen prangte mahnend über ihren beiden Köpfen.

Méi zog sich beim Zubettgehen bereits von gewissen Intimitäten zurück, aber sie fand sehr raffinierte Mittel und Wege, es Arthur kaum merken zu lassen. Dieser staunte nicht schlecht über das, was Méi zu bieten hatte. Er wusste nicht, ob er in höchsten Wonnen vergehen oder zutiefst beschämt zur nächsten Beichte – notfalls in die katholische Kirche - rennen sollte. Sie zog alle Register ihrer Kunst, um ihm eine denkwürdige Nacht zu bereiten, bevor sie für fünf Tage das Haus verlassen würde.

Früh am Morgen kam ihre Rikscha. Arthur begleitete sie im Morgenmantel bis in die Halle, erst danach wollte er sich anziehen, frühstücken und zur Arbeit gehen. Cha-Dong brachte eine Tasche von Méi zur Rikscha und zog sich dann diskret zurück.

„Du wirst so schnell wie möglich zurückkommen, versprochen?“

Sie nickte: „Méi versprechen es.“

„Gut. Du wirst dort doch hoffentlich gut versorgt, oder?“

„Ja. Alles gut.“

„Ja, dann… auf Wiedersehen.“

„Zaijian, Arthur.“

„Ein letzter Kuss?“

„Nur wenn niemand da, der zusehen.“

„Es ist niemand da, Méi.“

„Fahrer von Rikscha?“

„Der sieht uns nicht, keine Angst.“

„Gut, dann geben Kuss. Große Ausnahme.“

Er zog sie in seine Arme und drückte sie fest an sich. Erst strich er ihr über ihr lackschwarzes Haar, dann hob er ihr Kinn mit zwei Fingern an und senkte seine Lippen zart auf ihre. Mit einem Ruck löste sie sich von ihm, drehte sich um und ging zur Tür hinaus.

Arthur fühlte sich plötzlich einsam und wie eines Teils von sich selbst beraubt. Doch er wusste, sein Herz durfte er nicht an diese Chinesin verlieren, sonst war er verloren. Er würde sich mit ihr einrichten, von ihr lernen, wie auch sie sicher von ihm lernen und profitieren würde, aber die große, unsterbliche Liebe durfte es nicht werden. Würde es nicht werden. Dessen war er sich sicher. Er war ja auch noch recht jung.

Als er am Abend nach Hause kam, rief sein Vater ihn zu sich: „Deine Mutter hat geschrieben. Ein recht kurzer, nichts sagender Brief, wie meistens. Er dreht sich überwiegend um geschäftliche Angelegenheiten. Daran habe ich mich schon gewöhnt. Der Brief ist nur wenige Wochen nach deiner Abreise verfasst worden und gestern mit einem Schiff angekommen, das dieses Mal zügig und ohne nennenswerte Zwischenfälle durchgekommen ist. Wir laden morgen Seide, dann wird der Klipper All Saints noch Tee und einige andere Waren an Bord nehmen und nach London zurückkehren. Aber ein Teil aus dem Schreiben deiner Mutter dürfte dich interessieren, wenn sie sich auch nicht direkt an dich wendet. Hör zu: ‚Ferner kann ich mitteilen, dass Miss Flora Casby sich mit Mr. Roderick Finching verlobt hat. Wünschen wir dem glücklichen Paar also alles Gute.’

Das reichte aus, um Arthur vollends zu deprimieren. Méi war für mehrere Tage weg und Flora war nun sicher bereits eine verheiratete Frau! Das Leben hielt wahrlich so manch harte Prüfung parat.

 

 

 

 

End Notes:

 

Ein Bild zum Kapitel im Forum!

 

Kapitel einunddreißig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig

Erwähnung findet der Wagenbauer Tan-Fu

Orte: Beim Beladen des Klippers All Saints, im Hause der Clennams in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar:
Wéi Qi – Vorläufer des Go-Spiels, wird mit schwarzen und weißen Steinen gespielt
Cheongsam – ein aus Seide gefertigtes, meist reich besticktes traditionelles chinesisches Gewand für Herren. Knopfreihe vorne von oben nach unten durchgehend.
 

 

So stürzte er sich auch den Rest der Woche unermüdlich in die Arbeit, und das nicht nur im Familienbetrieb, wo eine ganze Schiffsladung Seide auf den Klipper All Saints verladen werden musste, sondern auch bezüglich der Wagenanfertigung. Er lief zusätzlich zu Tan-Fu, sah sich dessen Fortschritte an und hoffte sehr, dass der Wagen schnell fertig werden würde. Es machte ihm nichts aus, dass dies seine gesamte Zeit in Anspruch nahm und er deswegen auch den Tee zu Hause versäumte. Was sollte er ständig da, alleine mit seinem Vater?

Abends versuchte er sich halbherzig darin, etwas Chinesisch zu lernen, aber ohne seine hübsche und reizende Lehrerin machte es einfach keinen Spaß. Er sehnte sich nach ihr, vor allem nachts, alleine in seinem riesigen Bett.

Wie schnell man sich an eine Frau gewöhnen konnte! Arthur hätte das alles vor wenigen Tagen noch für kaum möglich gehalten, doch nun war er bereits völlig gefangen vom Zauber der ebenso schönen wie klugen chinesischen Konkubine.

Einige Male spielte er ein wenig Wéi Qi (Anm.: wir kennen es u.U. als Go), das ihm Cha-Li unter reichlich Geplappere beibrachte, dies tat er aber ebenfalls ohne sonderlich große Lust und Liebe.

Für Arthur zogen sich die Tage endlos dahin, er konnte das nächste Wochenende kaum erwarten und betete dafür, dass Méi am Samstagabend endlich wieder vor ihm stehen würde.

Dann wiederum, wenn er nachts wach lag, schalt er sich einen triebgesteuerten Narren, der nur noch die Fleischeslust im Kopf hatte. Das konnte doch nicht gut sein! Was der Vikar wohl von ihm denken würde! Er traute sich gar nicht, diesem am kommenden Sonntag unter die Augen zu treten, vor allem, da dieser Méi gesehen hatte und genau wusste, was sie war; genau wusste, was sie beide trieben! Grundgütiger! Arthur plagte sein Gewissen. Konnte er, als gottesfürchtiger junger Mann, das alles vor sich und seinem Schöpfer verantworten? Wohl kaum. Er würde dafür büßen, wahrscheinlich tausend Jahre lang im Fegefeuer schmoren.

Am Samstag fing es erneut an zu regnen, Arthur kam völlig durchnässt im Haus an und fluchte, denn er befürchtete, dass Méi wegen des Monsuns nicht kommen würde. Er hatte schlechte Laune und grübelte still vor sich hin, während er mit seinem Vater Tee trank.

„Sie wird spätestens morgen da sein, denn vielleicht regnet es nur heute“, versuchte dieser seinen Sohn ein wenig aufzumuntern.

Doch kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, das stürzte Cha-Dong atemlos in den Salon und meldete mit ersten halbwegs vernünftigen englischen Worten: „Qiè angekommen.“

Ein Strahlen zeigte sich auf Arthurs Gesicht, er sprang mit einem Satz auf und jagte durch den Flur dem Eingang zu.

Mit den für die Lotosfüße so typischen Trippelschritten kam gerade Méi durch den Vorgarten, notdürftig vor dem Regen geschützt durch einen Schirm.

Arthur wusste nicht, wie er sich zu verhalten hatte, daher versuchte er es mit der höflichen, leicht distanzierten Form, die ihm in England beigebracht worden war.

Er verbeugte sich leicht vor ihr und sagte mit glücklichem Lächeln: „Ich bin sehr froh, Sie wohlbehalten wieder hier zu haben, Pflaumenblüte.“

Sie zeigte ihre Emotionen weniger deutlich, was aber völlig im Rahmen dessen lag, wie sich eine Konkubine im Allgemeinen verhielt, aber auch sie lächelte leicht und antwortete: „Und Méi-Hua sein froh, wieder kommen in Haus von Laoyé und Shayoé.“

Mittlerweile war auch Mr. Clennam dazu gestoßen und tat es seinem Sohn gleich: „Pflaumenblüte, wie erfreulich, dass Sie den Weg zu uns bei diesem Wetter auf sich genommen haben.“

„Danke. Laoyé sein sehr freundlich.“

Cha-Dong nahm Méi den Schirm ab, dann gingen die Clennams gemeinsam mit ihr in den Salon.

Als die Tür geschlossen wurde, sagte Arthur mit großer Erleichterung in der Stimme: „Méi, ich freue mich so sehr. Setz dich doch und trinke noch eine Tasse Tee mit uns, wir waren ohnehin gerade dabei.“

„Danke. Arthur gehen gut?“

Er nickte: „Ja, jetzt geht es mir wieder gut. Und wie geht es dir? Ist alles in Ordnung?“

„Ja. Alles gut. Arthur viel arbeiten?“

„Sehr viel. Wir haben einen Klipper mit Seide für Europa beladen. Es war sehr viel Arbeit, harte Arbeit, aber es hat sich gelohnt. Und Tan-Fu hat mit dem Bau des Wagens begonnen.“

„Das freuen Méi. Arthur auch lernen Chinesisch?“

„Ja, aber ich lerne es lieber mit dir.“

Mr. Clennam erhob sich: „Ich glaube, ich lasse euch mal lieber ein bisschen alleine, es ist kaum zu übersehen, dass ihr nur Augen füreinander habt und ich hier total überflüssig bin. Wir sehen uns zum Dinner, bis dann.“

Als sich die Tür hinter ihm schloss, nahm Arthur Méis Hand: „Ich habe dich sehr vermisst.“

„Méi das gerne hören. Auch vermissen Arthur.“

„Wirklich?“

„Ja. Méi nix lügen.“

„Natürlich nicht. Ich… ich freue mich.“

„Arthur Méi nix küssen?“

„Wenn ich darf… und eigentlich möchte ich noch sehr viel mehr, als dich nur küssen.“

„Erst lernen Chinesisch, dann Dinner, dann Bett.“

„Du bist sehr streng.“

„Aber Arthur dürfen Méi jetzt küssen.“

„Wenigstens etwas.“

Er hob sie kurzerhand auf seinen Schoß und küsste sie dann überaus leidenschaftlich.

Sie mussten sich fast gewaltsam voneinander losreißen, vor allem Arthur konnte nicht genug von ihr bekommen.

Doch er riss sich zusammen und entließ sie schweren Herzens aus seiner stürmischen Umarmung: „So, wo genau bist du eigentlich gewesen? Und was macht man da die ganze Zeit über?“

„Oh, Méi sein gewesen in Chuansha (Anm.: heute der Bezirk Pudong), das sein östlich von Fluss Huangpu. Méi dort viel ruhen, Kleider waschen, neue Kleider mitnehmen, auch neues gutes Öl mitgebracht zur Massage.“

„Das liegt jenseits des Flusses?“

Sie nickte.

„Und du hast neue Kleider bekommen? Aus Clennam-Seide? Vater hat dir Stoff geschenkt, nicht wahr?“

Sie nickte abermals.

„Zeig mir das Kleid aus unserem Stoff, bitte.“

„Erst lernen Chinesisch, Arthur.“

„Wie kannst du nur so unerbittlich mit mir sein. Nur zeigen, Méi, anziehen kannst du es später für mich, ja?“

Er stand auf und nahm sie an der Hand, zog sie zu seinem Schlafzimmer.

Doch vor der Tür blieb sie stehen: „Arthur – Méi nur zeigen Kleid, nix Bett jetzt.“

„Was denkst du von mir? Ich bleibe anständig bis nach dem Dinner.“

„Gut.“

Nun erst folgte sie ihm in den Raum.

Sie öffnete ihre Tasche und entnahm dieser einen mitternachtsblauen Qipao, der über und über ausschließlich mit Schlangen und Hähnen bestickt war. Arthur war sprachlos, nicht alles, dass ihm Tränen in die Augen traten.

„Das… das ist der schönste Qipao, den ich jemals gesehen habe. Wirklich wunder-wunderschön. Wer hat den Stoff bestickt? Du?“

„Nein, dafür reichen Zeit nicht. Haben gemacht Stickerinnen in Chuansha, Tag und Nacht.“

„Gefällt dir der Stoff?“

„Oh ja, Seide sein erstklassig.“

„Ich bin überwältigt und freue mich darauf, dich darin zu sehen.“

Méi kicherte: „Werden nicht lange tragen, Arthur schnell ziehen aus Qipao.“

Er zog süffisant seine Augenbraue nach oben, packte sie um ihre schmale Taille und flüsterte in ihr Ohr: „Das glaube ich allerdings auch.“

Das sollte nicht die einzige Überraschung an diesem Samstagabend bleiben. Nach dem Dinner spielte Méi noch ein wenig auf der Laute, um die beiden Herren musikalisch zu unterhalten, doch als sie sich mit Arthur in sein Schlafgemach zurückzog, dachte er zuerst, dass auf seinem Bett der Qipao von Méi liegen würde. Da das aber nicht sein konnte, weil sie ihn bereits zum Dinner angezogen hatte, und dafür auch Komplimente von Mr. Clennam erhalten hatte, schaute Arthur genauer hin. Es war der gleiche Stoff, er war genauso bestickt, mit Schlangen und Hähnen – aber es war eindeutig ein Cheongsam und kein Qipao!

„Was… was ist das?“

„Sein Cheongsam.“

„Das sehe ich, Méi.“

„Bringen mit für Arthur.“

Er konnte es nicht fassen und sank sprachlos auf sein Bett. Es war das mit Abstand schönste Geschenk, das er jemals erhalten hatte. Es war überhaupt fast das einzige Geschenk von Wert und Bedeutung, das er jemals erhalten hatte, um ehrlich zu sein.

Die seidene Jacke passte ihm wie angegossen, als hätte ein guter Schneider heimlich bei ihm Maß genommen. Seine anfängliche Sprachlosigkeit wich einer kindlichen Freude, er strahlte und drehte sich mehrmals im Kreis, damit Méi ihn auch ausgiebig in seinem Cheongsam bewundern konnte.

Voller Freude ließ er sich wieder auf sein Bett fallen und lachte dabei: „Das ist einfach wunderbar. Keiner kann ermessen, wie glücklich ich bin. Du bist wieder da und ich habe ein unglaublich schönes Geschenk bekommen. Unfassbar!“

„Méi noch mehr haben in Tasche.“

Er setzte sich auf und blickte sie erstaunt an: „Was? Noch mehr?“

„Ja, haben gutes Öl.“

„Stimmt, das hast du vor dem Essen schon gesagt. Prima.“

„Und andere Sachen.“

„Andere Sachen? Welche Sachen?“

„Méi nix verraten, aber nachher zeigen.“

Arthur rollte sich quer über das Bett und zog sie mit sich: „Das klingt ja äußerst geheimnisvoll.“

„Méi mögen sehr überraschen Arthur.“

„Ich bin sehr gespannt. Darf ich den Cheongsam anbehalten?“

Méi gluckste vor unterdrücktem Lachen: „Wenn wollen, dass Stoff werden voll Öl…“

„Nein! Nicht! Ich ziehe das Ding ja schon aus!“

 
Kapitel zweiunddreißig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig

Weiterhin der Vikar der anglikanischen Kirchengemeinde

Erwähnung finden Tan-Fu, Gilbert Clennam und Martin Brown

Orte:
In Shanghai in der anglikanischen Kirche, im britischen Club in Shanghai, im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: ./.

 

Aufs Äußerste verlegen, vor allem nach den neuen Erfahrungen der vorangegangenen Nacht, begab sich Arthur anderntags zur Missionsstation. Er wohnte einem kleinen Gottesdienst bei, bei welchem nicht einmal ein Dutzend Leute anwesend waren, anschließend näherte er sich dem Vikar und fragte ihn, ob er einen Moment Zeit für ihn hätte. Der Vikar war bereit mit Arthur zu sprechen und verabschiedete den Rest der Gottesdienstbesucher.

Dann wandte er sich Arthur zu: „Mr. Clennam, was kann ich für Sie tun?“

„Also, es… es fällt mir nicht leicht es anzusprechen, aber ich denke, ich muss einige Dinge beichten.“

„Mr. Clennam, hier besteht nicht die Pflicht das zu tun, wie beispielsweise in der katholischen Kirche.“

„Ich weiß. Trotzdem würde ich mir gerne ein paar Sachen von der Seele reden, wenn ich darf.“

„Ich denke, ich weiß auf was Sie hinauswollen, da ich sehr wohl die schöne Chinesin letzten Sonntag an Ihrer Seite gesehen habe. Sie ist Ihre Konkubine, nehme ich an?“

„Das ist richtig, ja.“

„Sind Sie verheiratet? Versprochen?“

„Nein, ich bin Junggeselle.“

Der Vikar nickte bedächtig und begann mit seinen Ausführungen: „Sie begehen demnach keinen Treue- oder Ehebruch, und das ist es auf was es der Church of England in erster Linie ankommt. Von daher sind wir weit davon entfernt einem jungen, ledigen Mann vorzuschreiben, wie er sein Privatleben zu gestalten hat. Allerdings kann und will unsere Mutter Kirche natürlich nicht die Prostitution befürworten oder ihr gar Vorschub leisten, aber letztendlich richten nicht wir, sondern Gott in letzter Instanz.

Es ist richtig, dass Gott Mann und Frau geschaffen hat, damit diese fruchtbar sind und sich mehren, das ist nun einmal das vorrangige Ziel einer christlichen Ehe und dies kann ein Konkubinat eben nicht gewährleisten, aber – wir sind hier in China und dieses Land ist von ganz anderen Traditionen und einer anderen Religion geprägt. Diese Dinge lassen sich leider nicht immer mit unseren Moralvorstellungen und unserer abendländisch-christlich geprägten Erziehung vereinbaren; und wo Kulturen aufeinanderprallen, hat man grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder man schaltet auf stur, die Fronten verhärten sich und irgendwann endet es in einem Krieg, oder man geht den Weg der gemäßigten Anpassung und schließt Kompromisse. Da Jesus Christus ein Mann des Friedens und der Nächstenliebe war, dürfte klar sein welcher Weg uns vorgegeben ist.

Gehen Sie den Weg des Kompromisses, denn erst ganz am Ende, wenn Sie Angesicht zu Angesicht Ihrem Schöpfer gegenüberstehen, wird abgerechnet.“

Arthur hatte noch niemals einen Pfarrer so reden hören und war ziemlich verwundert, doch der Vikar hatte noch etwas anzufügen: „Noch eines, Mr. Clennam, ich bin ein Mann mit Bezug zur Realität und deswegen rede ich auch so. Ich habe damit nicht gesagt, dass ich oder die Church of England diese Beziehungen billigt oder diesen gar ihren Segen erteilt! Jedoch ist es auch nicht damit getan, das alles zu verteufeln. Es gibt mehr auf Gottes weiter Welt als nur Schwarz oder Weiß. Es ist eine Menge, eine ganze Menge Grau vorhanden!“

„Danke, Vikar. Sie haben mir wirklich sehr weitergeholfen und ich bin froh, dass Sie sich für das Gespräch Zeit genommen haben. Ich wünsche Ihnen noch einen angenehmen Sonntag.“

„Ebenso, mein Sohn.“

Da er nun schon in der Nähe des Clubs war, traf er sich dort mit seinem Vater zum Lunch.

„Ah, da bist du ja. Warst du in der Kirche?“

„Ja, wenn man diese Holzbaracke Kirche nennen kann.“

„Sei nicht so streng, beten kann man überall.“

„Natürlich, das habe ich während eines knappen Jahres unterwegs auf den Weltmeeren gelernt. Ich meinte es auch nicht abfällig. Der Vikar hier ist sehr nett.“

„Wir könnten am kommenden Wochenende einen Ausflug zum Kloster von Huzhou nach Songjiang machen, um das Pony zu holen. Wir müssten aber übernachten, Hin- und Rückweg sind nicht an einem Tag zu bewältigen. Sagtest du nicht, dass du eine Möglichkeit suchst schwimmen zu können? Nun, mir ist gesagt worden, dass es dort in unmittelbarer Nähe schöne Seen gibt, wäre das was für dich?“

„Das hört sich sehr gut an, Vater. Wie bringen wir das Pony zu uns?“

„Ich hatte gehofft, dass du reiten kannst. Großvater hatte den Auftrag, es dir beizubringen.“

Arthur kratzte sich am Kopf: „Er hat es mir zwar beigebracht, aber ein großartiger Reiter vor dem Herrn ist aus mir leider nicht geworden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich mit meiner Körpergröße und als nur mittelmäßiger Reiter die geeignete Person bin, um dieses Pony bis nach Hause zu reiten.“

„Wir werden eine praktikable Lösung bis dahin finden. Und nun lass uns essen, mein Magen knurrt schon.“

Jetzt, wo Méi wieder da war, genoss Arthur das Zusammensein mit seinem Vater wesentlich mehr, da er zufriedener, gelöster und glücklicher war. Während ihrer Abwesenheit hatte ihn auch die Gesellschaft seines Vaters kaum aufzuheitern vermocht. Oftmals hatte er sie währenddessen regelrecht vermieden, weil er keine Lust zum Reden gehabt hatte. Doch nun hatte er Spaß daran, mit seinem Vater zu lunchen.

„Ein See, sagst du. Das klingt wirklich äußerst verlockend, ich vermisse das Schwimmen wirklich sehr, das hätte ich nicht gedacht. Auch wenn… auch wenn es zuletzt mit keinen sehr schönen Erinnerungen für mich verbunden ist.“

„Wegen des Todes des Smuts?“

„Ja. Ich bin derzeit noch nicht fähig darüber zu reden, es tut mir leid, Dad.“

„Musst du ja auch nicht. Das braucht seine Zeit, ich verstehe das.“

„Danke.“

„Was macht Tan-Fu und der Phaeton?“

„Wenn wir tatsächlich nächstes Wochenende das Pony holen könnten, dann werden wir kurz darauf auch den Wagen abholen können, hoffe ich. Ich kann mich mit ihm ja nicht verständigen, er hat mir nur gestenreich gezeigt, was er bisher begonnen hat zu bauen. Und wir brauchen Geschirr, Zügel und Fahrleinen und all das. Das wird nicht einfach.“

„Schaffst du es alleine?“

„Ich hoffe es. Da ich ein Hahn bin, der angeblich sehr zielstrebig zu Werke geht, wird es schon was werden.“

„Ein Hahn? Chinesische Astrologie?“

„Ja. Eines der Schriftzeichen, das ich inzwischen perfekt beherrsche.“

„War nicht Méis neuer Qipao gestern mit Hähnen bestickt?“

„Auf was du alles achtest, Vater. Ja, mit Hähnen und Schlangen, um genau zu sein.“

„Ich vermute, Méi ist Schlange als Tierkreiszeichen?“

„Vater, ich bewundere deinen Scharfsinn.“

Und beide Männer fingen an laut zu lachen.

Zuhause erzählte Arthur Méi von der Aussicht, einen Wochenend-Ausflug zum Kloster nach Songjiang machen zu können und dem Problem, dass man nun nicht wusste wie man das Pony nach Xujiahu Qu bekommen sollte.

„Méi können reiten.“

„Wie bitte? Du kannst reiten? Richtig gut, meine ich?“

„Gut, ja. Das müssen lernen Qiè.“

„Aber, ich dachte immer, es gibt kaum Pferde in China.“

„Geben schon, aber nix viele. Méi und andere Qiè müssen lange reisen für lernen reiten. Viele Tagesreisen weg von Shanghai und Chuansha.“

Arthur wechselte einen viel sagenden Blick mit seinem Vater, der sich dadurch befleißigt fühlte etwas zu dem Thema beizutragen: „Ich bin mir nicht sicher, ob es gern gesehen wird, dass zwei europäische Männer mit einer Chinesin alleine auf Reisen sind, aber wir können es versuchen.“

„Vater sagt, es gäbe dort auch einen See, mit klarem, reinem Wasser. Weißt du etwas davon, Méi?“

„Ja, geben viele Seen dort. Schön.“

„Und man kann darin schwimmen?“

„Wenn nicht stören Karpfen, dann gut schwimmen da, ja.“

„Mir sind glaube ich Karpfen wesentlich lieber als Haie. Wie kommen wir nach Songjiang?“

„Mit Rikschas, wie sonst?“

„Dad!“

„Sohn! Es geht nicht anders. Es ist weit. Was sagt Méi?“

„Sein weit. Selbst Arthur nix kann laufen. Juébù.“

„Ha, das Wort kenne ich! Es heißt ‚keinesfalls’.“

„Méi freuen, weil Arthur gut sein in Chinesisch.“

Mr. Clennam erhob sich: „Ich weiß nicht, ob die Kenntnis eines Wortes zu derartiger Freude Anlass bietet, ich wünsche euch aber noch einen schönen Abend, gute Nacht.“

„Gute Nacht, Dad.“

„Schlafen gut, Laoyé.“

Im Bett berichtete Arthur noch von seinem Besuch beim Vikar. Er ging nicht auf jedes Detail ein, erwähnte auch nichts direkt von seinen Gewissensnöten, denn er wollte Méi weder belasten noch beunruhigen. So sagte er nur, dass er im Gottesdienst gewesen sei und dass er kurz Gelegenheit gehabt habe, ein paar persönliche Worte mit dem Vikar zu wechseln und dieser sich als sehr freundlicher, mit beiden Beinen im Leben stehender Mann erwiesen hätte, der ihm ein paar Fragen sehr treffend hatte beantworten können.

Méi spürte aber instinktiv, dass es etwas mit ihr zu tun haben könnte und fragte: „Er nix sagen über Qiè?“

Arthur wollte nicht lügen, also antwortete er wahrheitsgemäß: „Doch. Ein wenig.“

„Sagen sicher, Qiè schlecht, Christen nix dürfen haben.“

„Méi, darüber solltest du dir deinen schönen Kopf nicht zerbrechen. Das mache ich schon mit dem Vikar aus. Oder mit Gott, wie er so treffend gesagt hat.“

„Dein Gott dich strafen für Méi?“

Arthur verzog das Gesicht zu einer Art Grinsen, das aber leicht misslang: „Höchstwahrscheinlich. Aber Gott – also mein Gott – ist nicht böse, oder gar rachsüchtig, er möchte nur, dass wir seine Gebote befolgen.“

„Oh, Méi einmal lernen, geben zehn Gebote bei Christengott.“

„Vollkommen richtig.“

„Arthur sagen Méi diese? Bitte?“

„Natürlich, wenn du möchtest.“

Er begann mit der Aufzählung der zehn Gebote und als er geendet hatte, schaute Méi ihn erstaunt an: „Aber dein Gott nix verbieten haben eine Qiè. Dürfen nix morden, nix lügen, nix brechen Ehe, nix wollen haben Frau oder Haus von andere, nix stehlen, nix Bild machen von Gott, nix haben andere Götter, nix missbrauchen Name von Gott, müssen ehren Mutter und Vater, müssen ehren Feiertag. Das sein alles. Arthur machen gut, leben nach diese Gebote.“

Arthur schloss die Augen und murmelte: „Du bist wirklich wunderbar. Ja, eigentlich ist es so einfach. Wir verstoßen gegen kein einziges dieser Gebote.“

„Dann Arthur und Méi jetzt Bett?“

Er lachte: „Ja, jetzt Bett, meine kluge, schöne Pflaumenblüte!“

 

Kapitel dreiunddreißig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig

Weiterhin Rikscha-Fahrer, Mönche im Kloster von Huzhou, Dorfbewohner in
Sheshan Zhen

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu, auf dem Weg zum Kloster Huzhou, im Dorf Sheshan Zhen, am Yuehu-See

Glossar: ./.

 

Natürlich hatte er das Gefühl, dass die Woche viel schneller vorüberging als die, in welcher Méi nicht da gewesen war. Arthur war derzeit beim Seidekochen, eine Arbeit, die im Sommer unglaublich schweißtreibend war. Deswegen hatte er es sich angewöhnt sofort am frühen Abend ein Bad zu Hause zu nehmen, da er unmöglich ungebadet zum Tee erscheinen konnte. Eigentlich war Cha-Dong dafür zuständig, doch dieser sorgte seit ein paar Tagen nur noch dafür, dass warmes Wasser zum Baden da war, denn Méi hatte sich bereit erklärt, für alles andere Sorge zu tragen. So wusch sie Arthur mit einem weichen Schwamm, seifte ihn ein, spülte ihm die Haare, reichte ihm Trockentücher und neue Kleidung.

Arthur genoss diese Luxusbehandlung sehr. Er war derlei Dinge ganz und gar nicht gewohnt; früher hatte er alles selbst erledigt, nicht einmal Flintwinch hatte ihm Handreichungen gemacht.

Eine Sache störte ihn ein wenig, er sprach es an, als Méi ihm zum zweiten Mal im Bad zur Hand ging: „Ich lasse einen größeren Zuber bauen. Das Ding hier ist mir zu klein.“

„Arthur sein sehr großer Mann. Brauchen großes Bad.“

Er lächelte: „Ach, für mich selbst geht es, trotz meiner Körpergröße. Ich bin nicht anspruchsvoll, ich kann meine Beine anziehen. Aber ich möchte, dass du mit mir badest. Und dafür ist dieser Zuber einfach ungeeignet.“

Sie riss ihre Mandelaugen soweit auf, wie es nur möglich war: „Oh!“

„Oder möchte meine zauberhafte Nixe womöglich gar nicht mit dem König der Meere baden?“

Sie kicherte: „Arthur schneiden auf. Waren nur Matrose und Koch, nix Kapitän.“

„Wer wird denn da so streng mit mir sein? Man darf doch wohl ein bisschen träumen. Also, was ist? Kommst du nun ins Wasser, oder nicht?“

„Arthur doch sagen, Zuber zu klein für beide.“

„Ich mache mich auch ganz dünn.“

Sie kicherte noch einmal und öffnete dann langsam ihren Qipao. Arthur hielt die Luft an, als ihre zarte Haut, die sehr weiß und durchscheinend war, zum Vorschein kam. Er stieß den Atem rasch aus und setzte sich etwas aufrechter hin, um Platz für sie zu machen.   

Méi stieg ins Wasser, ließ sich nieder, schmiegte ihren Rücken an seine behaarte Brust und legte ihren Kopf auf sein Brustbein.

Sie konnten sich weder drehen noch wenden, so lagen sie einfach nur ruhig miteinander im Wasser und genossen die neue Erfahrung, das neue Gefühl.

Arthur hätte sie gerne in Besitz genommen, war sich aber unsicher, wie das in diesen beengten Verhältnissen vonstatten gehen sollte. So bezähmte er mit zusammengebissenen Zähnen seine Lust und sein Verlangen und verlängerte dadurch seine Vorfreude auf das Zubettgehen.

Die Männer planten den Ausflug nach Songjiang sehr sorgfältig, bei Reisen dieser Art in China war es besser, alles von langer Hand vorbereitet zu haben. Sie hofften nur, dass sie unterwegs in keinen Monsunregen geraten würden.

Sie würden zwei Doppel-Rikschas nehmen, eine mit Mr. Clennam, dem Gepäck und Proviant, und die zweite mit Arthur und Méi. Eigentlich müsste Méi in der Rikscha alleine reisen, und die Männer sich die andere teilen, aber man konnte unterwegs noch immer tauschen, falls jemand Anstoß daran nehmen würde.

Sie nahmen Trinkwasser und Proviant mit, damit man unterwegs würde picknicken können. Es waren nur Lebensmittel gepackt, die auch am nächsten Tag trotz Hitze noch genießbar sein würden, wie gekochte Eier, Reis, der speziell in eine Bambusschachtel gepackt wurde, damit er nicht austrocknete, und Äpfel, kleine Orangen, die man hier Mandarinen nannte, sowie Trauben und Maulbeeren. Für den Hinweg war noch ein wenig gekochtes Hühnchen dabei, das würde sich ein paar Stunden halten.

Méi hatte sich ein paar weite Männerhosen von Cha-Dong ausgeliehen, um auf dem Pony zurück reiten zu können, was Arthur in großes Erstaunen versetzt hatte, da er bislang in England nur Frauen gesehen hatte, die im Damensattel geritten waren. Da das Tier aber wahrscheinlich gar keinen Sattel haben würde, musste man vorbereitet sein.

Arthur hoffte nur, dass man gut durchkommen und niemand an all diesen Dingen Anstoß nehmen würde.

Er selbst würde im Kloster das Pony in Empfang nehmen und dann bis zu einem Treffpunkt reiten - gegebenenfalls das Tier auch führen - wo Méi das Pony übernehmen würde. Den Mönchen musste man nicht gerade auf die Nase binden, dass sie eine Frau dabei hatten und diese auch nach Hause reiten würde. Ebenfalls schwierig war es mit der Übernachtung. Die Chas sagten, man könne in einem Dorf Unterkunft finden, die Rikscha-Fahrer würden das schon organisieren. Das war Arthur und dessen Vater auch lieber, als die Nacht im Kloster zu verbringen, vor allem wegen Méi.

Sie beteten, dass alles glatt gehen möge und brachen recht früh am Morgen guten Mutes auf. Es regnete nicht, was schon einmal positiv war. Sie kamen gut voran, trotzdem sie den Fahrern der Rikschas großzügige Pausen gewährten.

Arthur staunte über die schöne Landschaft, erst die Felder, dann auch Wälder. Sie passierten Minhang, dann Sijing Zhen, wo sie im Wald ihren Lunch verspeisten, und Sheshan Zhen. Dort gab es einen wunderbaren See, den Arthur sogleich ins Auge fasste und dort, so meinten auch die sie begleitenden Chinesen, könne man am Abend im Dorf übernachten, was sogleich vereinbart wurde.

Doch erst musste man das Kloster von Huzhou in den Tianma Shan Bergen erreichen, was aber zum Glück von Sheshan Zhen nicht mehr allzu weit entfernt war.

Méi blieb in Sheshan Zhen zurück, mit einer der Rikschas und deren Fahrer, sie waren für die Quartiermache zuständig, während Arthur und Gabriel Clennam mit der anderen Rikscha weiter zum Kloster unterwegs waren.

Sie wurden dort sehr freundlich empfangen, Mr. Clennam kam mit dem wenigen Chinesisch, das er konnte, recht gut zurecht, selbst Arthur konnte ansatzweise einige Dinge verstehen, da sehr langsam gesprochen wurde. Sie bekamen Tee, wofür sie sehr dankbar waren, und eine Führung durch die wunderschöne Klosteranlage. Arthur nahm sich vor, diese Pagoden und Tempel unbedingt aus dem Gedächtnis zu zeichnen, sobald er wieder zu Hause war. Er war tief beeindruckt von diesem Ort.

Das Kloster besaß einige schöne, kompakt gebaute und robust wirkende Ponys. Arthur fand, dass sie gut geeignet zum Ziehen eines leichten Wägelchens sein dürften. Er freute sich, dass sich dieser Ausflug bisher wirklich gelohnt hatte, allein schon der Tiere und des wundervollen Ortes wegen.

Sie nahmen dann gegen entsprechende Bezahlung eines der Ponys mit: Arthur hatte es sich aussuchen dürfen und er hatte ein dunkelbraunes Tier mit einer schmalen, weißen Blesse gewählt, das auf ihn den robustesten Eindruck gemacht hatte.

Dann nahmen sie Abschied, Mr. Clennam nahm in seiner Rikscha Platz und Arthur machte sich mit dem Pony vertraut, indem er es erst ein wenig führte und später dann aufsaß und eine Strecke ritt. Ihm tat zwar schon nach kurzer Zeit sein Hinterteil erheblich weh, aber er kam ohne größere Probleme voran. Trotzdem war er mehr als froh, als die ersten Häuser des Weilers Sheshan Zhen auftauchten und er die Gesichter der Rikscha-Fahrer, seines Vaters und vor allem das von Méi sah.

Sie gaben dem Pony Wasser und ließen es ein wenig grasen, dann schauten sie sich bei hereinbrechender Dämmerung ihre Unterkünfte an. Die Dorfbewohner waren freundlich, aber zurückhaltend.  

Es war eine sehr warme Vollmondnacht und Arthur schoss eine völlig verrückte Idee durch den Kopf: Er würde unglaublich gerne ein nächtliches Bad im Yuehu-See nehmen. Und vielleicht konnte er Méi überreden, ihn zu begleiten. Tagsüber würde es nicht möglich sein gemeinsam zu baden, das war ihm klar. Aber nachts würde keiner sehen und merken, wenn er und Méi im Wasser planschen würden.

Bevor sich alle in das bescheidene Quartier für die Nacht zurückzogen – Méi war übrigens von den Männern getrennt bei der Dorfältesten untergebracht – vereinbarte es Arthur schnell mit Méi. Sobald alle seine Begleiter eingeschlafen waren, wollte er zum See gehen. Zwar war ungewiss, wann das sein würde, doch er würde ein Steinchen durch das offene Fenster auf Méis Lager werfen. Méi war nicht begeistert von diesem Vorhaben, sie hatte Bedenken, doch Arthur war davon nicht abzubringen, er befand sich beinahe wie in einem Rauschzustand. Was ihn da hinein versetzt hatte, ob es der schöne Ausflug, das beeindruckende Kloster, oder der Zauber des fremden Landes war, war schwer zu sagen, denn eigentlich war er ein Mann des Verstandes, jemand, der meist einen kühlen Kopf bewahrte. Wahrscheinlich spielte von allem etwas dabei eine Rolle. Méi war mehr als skeptisch, aber sie wollte ihn auch nicht alleine in der Nacht zum See lassen, also sagte sie zu.

Der Mond leuchtete den Weg gut aus und so holte Arthur etliche Zeit später Méi auf seinem Weg zum Yuehu-See ab. Auch jetzt überhörte er all ihre leise vorgebrachten Einwände und freute sich auf das nächtliche Bad.

Er schlüpfte aus seiner Kleidung, er hatte ohnehin nur Hemd, Hose und Schuhe an, und sprang dann ins das Wasser, das silbrig glänzend vor ihnen lag.

Prustend tauchte er wieder auf und rief leise: „Oh, wie ich das vermisst habe! Es ist fantastisch. Frisch, aber nicht kalt, sehr angenehm. Komm rein, Méi, bitte!“

Sie zögerte, hatte Angst. Aber Arthur war so heiter und gelöst, da wollte sie keine Spielverderberin sein, wollte lieber seine Freude mit ihm teilen.

Sie zog ihr Kleid hinter einem Busch aus und lief dann eilig ins Wasser.

Arthur hatte Recht, es war herrlich. Aber sie konnte nicht schwimmen, also ging sie nur so weit in den See hinein, wie sie auch stehen konnte. Bewundernd schaute sie Arthur zu, der zügig weit hinaus schwamm. Sie hatte Angst, dass ihm etwas passieren könnte, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was das konkret sein könnte.

Doch er kehrte fröhlich und wohlbehalten zu ihr zurück und nahm sie in seine Arme: „Das ist paradiesisch, Méi. So etwas zu erleben ist einfach nur himmlisch. Ein Bad zu dieser Nachtstunde ist schon absolut ungewöhnlich, aber dich dabei zu haben, ist die Krönung.“

Er zog sie vieldeutig lächelnd etwas mehr in den seichten Uferbereich und vereinigte sich dort mit ihr.

Gabriel Clennam traute seinen Augen nicht: Sein Sohn und Méi gemeinsam beim Baden im See, mitten in der Nacht und nackt! Und damit nicht genug, ließen sie auch noch ihrer Leidenschaft freien Lauf!

Er hatte sich auf den Weg zum See gemacht, nachdem er aufgewacht war und Arthur nicht schlafend neben sich gefunden hatte. Es war nicht schwer gewesen darauf zu kommen, dass er zum Schwimmen gegangen sein könnte. Das allein war nachts schon ein Abenteuer, aber sein Sohn hatte den Bogen noch wesentlich weiter überspannt.

Arthur erschrak, als er aus dem Wasser kam und sein Vater wie aus dem Boden gewachsen vor ihm stand: „Dad! Meine Güte, wie lange stehst du schon hier?“

„Lange genug! Himmelherrgott nochmal, Arthur! Bist du des Wahnsinns? Was denkst du dir eigentlich? Weißt du denn nicht, wie gefährlich das ist?“

„Gefährlich? Dad, ich bin ein guter Schwimmer.“

„Davon konnte ich mich ja zum Glück gerade persönlich überzeugen, aber das meine ich nicht. Méi hätte dich davon abhalten müssen. Man weiß nie, ob hier nicht kaiserliche Beamte herumschleichen und alles beobachten.“

„Vater, übertreibst du nicht ein wenig? Es ist Nacht, wer sollte sich hier herumtreiben?“

„Arthur, das ist ein riesiges Reich von unvorstellbaren Ausmaßen. Um so ein Reich zu regieren, was sehr schwer sein muss, hat der Kaiser Beamte in jeder noch so entlegenen Provinz, in so gut wie jedem schäbigen Nest. Und er hat diese mit sehr großen Befugnissen ausgestattet. Es wäre einem dieser Beamten ein Leichtes gewesen, dich und deine Konkubine festzunehmen, allein für das Vergehen, gemeinsam ohne andere weibliche Begleitung gereist zu sein. Vom Baden mit ihr zusammen ganz abgesehen, nicht zu reden vom Rest, den ich zufällig mitbekommen habe. Weißt du, wie schnell hier für weitaus geringere Vergehen Köpfe rollen? Arthur, ich bin sehr enttäuscht, dass du so unvorsichtig gewesen bist und deine… deine körperlichen Bedürfnisse über unser aller Heil hier gestellt hast. Das war unverantwortlich!“

Mit flammendrotem Kopf, den man zum Glück nicht sah, murmelte Arthur: „Entschuldige, das wusste ich nicht.“

„Das ist mir schon klar, aber Méi hätte es dir sagen müssen. Sie ist schließlich Chinesin und sollte wissen, worauf es ankommt.“

„Gib nicht ihr die Schuld, Vater. Sie hat versucht, mich davon abzuhalten. Sehr energisch sogar. Aber… aber ich habe es als Überängstlichkeit von ihr abgetan.“

„Ihr seid wirklich Kindsköpfe! Naiv und unbedarft! Ihr könnt von Glück sagen, dass nur ich Augenzeuge dieser Vorgänge gewesen bin. Und nun rasch zurück ins Dorf, sofort ins Bett! Los jetzt!“

 

 

End Notes:

 

Drei Bilder zu diesem Kapitel im Forum! 

Kapitel vierunddreißig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:


Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig

Weiterhin Rikscha-Fahrer

Erwähnung finden die Cha-Brüder und der Wagenbauer Tan-Fu
 

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu, in der Clennam’schen Seidenherstellung

Glossar: ./.

 

Sie kamen am nächsten Tag gut wieder in Xujiahu Qu an. Das Pony war recht brav gewesen, nur einmal hatte es einen Ausreißversuch unternommen, aber Méi hatte sehr geistesgegenwärtig reagiert und war abgesprungen, als das Tier begonnen hatte schneller zu werden. Die Fahrer der vorderen Rikscha hatten sich dann dem Pony in den Weg gestellt und es aufgehalten. Anscheinend hatte es sich aber nur vor einem Tier, eventuell einer Schlange, erschreckt gehabt. Daraufhin hatte Arthur sich für eine Stunde auf das Tier gesetzt, und da es von da an wieder brav vor sich hin getrottet war, war Méi dann in der Lage gewesen die letzte Etappe erneut übernehmen.

Bis auf die absolut notwendige Konversation die Rückreise betreffend herrschte aber betroffenes Schweigen zwischen Arthur, Méi und Gabriel Clennam.

Méi hatte es ganz schön getroffen, dass Arthurs Vater mehr oder weniger ihr die Last der Verantwortung für die nächtliche Eskapade aufbürden wollte. Arthur war deprimiert, weil er so unvernünftig gewesen war für ein kindisches Abenteuer die Sicherheit der Reisenden aufs Spiel zu setzen, überdies war er überaus peinlich berührt von der Tatsache, dass sein Vater mitbekommen hatte wie er und Méi sich im See vergnügt hatten.

Und Mr. Clennam war voller Zweifel, ob es richtig gewesen war seinem Sohn nach so kurzer Zeit in China bereits eine Konkubine zu verschaffen. Arthur war schließlich total unerfahrenen gewesen was Frauen betraf, vielleicht war es nicht richtig gewesen ihn gleich in eine relativ feste Beziehung zu schicken. Gabriel Clennam blickte rasch gen Himmel und bat Gott still um Vergebung, aber – Arthur wäre es eventuell besser bekommen, wenn man ihn erst einmal in ein Bordell geschickt hätte. Aber nun war es müßig darüber nachzudenken, geschehen war geschehen.

Die Cha-Brüder waren in heller Aufregung, als die Reisegesellschaft mit dem Pony eintraf. Der Unterstand für das Tier war aus Bambusrohren erstellt worden, es gab eine Tränke, und Gras und Heu hatte man ebenfalls herbeigeschafft. An den Unterstand schloss sich gleich eine kleine Remise für das Wägelchen an, das Tan-Fu in Kürze fertig gestellt haben würde.

Es wurde auch sogleich ordentlich aufgetischt, die Rikscha-Fahrer bekamen draußen eine Suppe und ihren Lohn, dann setzten sich alle anderen sofort im Haus an den reich gedeckten Teetisch.

„Ihr entschuldigt mich dann, ich bin etwas erschöpft vom Ausflug und habe heute Nacht in diesem Nest sehr schlecht geschlafen.“

Mr. Clennam zog sich sehr schnell vom Nachmittagstee zurück und ließ Arthur und Méi alleine im Salon zurück.

Méi hielt die Tränen mühsam zurück, sie wollte sich nicht die Blöße geben und losweinen.

„Ich sehe noch einmal schnell nach dem Pony“, wand Arthur sich aus der unbequemen Stille, die entstanden war nachdem sein Vater den Raum verlassen hatte.

Méi nickte stumm.

Draußen atmete er trotz der großen Schwüle auf. Er war ein Idiot, sich so gehen gelassen zu haben wegen ein bisschen Schwimmerei und einem lustvollen Stelldichein mit Méi! Was war nur in ihn gefahren? Wie kam es nur, dass er seine Triebe vor alle Vernunft stellte? So ging das alles nicht! Er musste sich ein wenig herunterkühlen und seine Leidenschaften besser im Zaum halten.

Geistesabwesend streichelte er mechanisch das Pony und klopfte dem Tier beruhigend ein wenig den Hals. Dann machte er kehrt und ging zum Haus zurück.

Méi saß im Innenhof und hatte die Tuschsachen ausgepackt. Sie malte konzentriert Schriftzeichen und Arthur war sich beinahe sicher, dass sie das machte, um sich abzulenken.

Daher setzte er sich an seines Vaters Schreibtisch und notierte, was sie vom Sattler alles an Zaumzeug und Fahrleinen brauchen würden. Einen entsprechenden Handwerker in Shanghai zu finden, der das anfertigen konnte, war seine nächste Aufgabe.

Man ließ das formelle Dinner ausfallen und aß die Reste vom Tee und das, was man in der Küche direkt aus der Hand essen konnte. So trafen Arthur und Méi erst wieder so richtig beim Zubettgehen aufeinander.

Sie sagte mit leiser Stimme: „Méi sein sehr müde von Reiten Pony. Müssen schlafen sofort.“

Arthur nickte und murmelte: „Natürlich. Gute Nacht.“

Er rollte sich übelst gelaunt auf seiner Bettseite zusammen und versuchte zu schlafen.

In der Nacht wachte er auf, weil er ein komisches Geräusch hörte. Erst dachte er es wäre was mit dem Pony draußen in seinem Unterstand, doch dann merkte er, dass es ein leises Schniefen war, das nicht von draußen kam.

Er stützte sich auf seinen Ellbogen ab und drehte sich zu Méi, die ihm den Rücken zukehrte: „Was… was ist los? Weinst du?“

Es kam keine Antwort, dafür aber ein viel lauteres Schniefen.

Arthur fasste sie an der Schulter und drehte sie sanft, aber mit Nachdruck zu sich: „Nicht doch. Ich… es tut mir alles sehr leid. Ich würde es wieder gutmachen, wenn ich wüsste wie.“

Sie schluchzte einmal kurz auf und nuschelte dann: „Machen Méi nix, dass schimpfen Laoyé. Machen Méi nix, dass nix können abhalten Arthur von See. Machen Méi auch nix, dass Arthur und Laoyé nix mehr sprechen mit ihr, aber… aber…“, sie brach erneut in Tränen aus.

Arthur zog sie näher zu sich heran und strich ihr beruhigend über den Rücken: „Sch, nicht weinen. Alles ist gut. Ganz ruhig. Und dann sagst du mir, was du eben noch sagen wolltest, ja?“

Doch Méi schüttelt energisch den Kopf und heulte zum Steinerweichen. Minutenlang zuckte ihr schöner Körper in Arthurs Armen, dann endlich fasste sie sich und schluchzte undeutlich: „Aber sein… ganz schlimm… Arthur nix mehr… wollen Méi.“

Er war erschüttert und bewegt zugleich von ihrer irrigen Annahme: „Oh nein, wie kannst du so etwas nur denken! Das stimmt nicht.“

„Stimmt nix? Aber Arthur waren heute so kalt zu Méi“

„Also gut, das stimmt, aber du hattest doch gesagt, dass du vom Ponyreiten so erschöpft bist und da dachte ich, es wäre besser dich schlafen zu lassen. Und ich… ich wollte mich selbst ein wenig zurücknehmen, weil ich gestern einfach über das Ziel hinausgeschossen bin.“

Sie weinte wieder: „Das meinen Méi. Arthur schlafen ohne Méi, Méi schlafen ohne Arthur.“

Er lächelte: „Wir liegen noch immer im gleichen Bett.“

„Ja, Arthur linke Seite, Méi rechte Seite. Körper nix eins.“

Er rückte ganz nahe an sie heran und hauchte an ihrer Wange: „Wir können das sofort ändern, wenn du möchtest“, und er imitierte sie ein wenig, um sie aus der Reserve zu locken und zum Lachen zu bringen, „dann ruck-zuck Körper werden eins.“

„Méi eigentlich nicht wollen weinen, aber heute Méi müssen weinen, auch wenn verboten.“

„Dir ist es verboten zu weinen? Das ist nicht gut. Manchmal muss man einfach mal weinen, es gehört zum Leben dazu, wie das Lachen auch.“

„Nix ganz verboten, aber besser nix weinen.“

„Bei mir ist es nicht verboten, weine ruhig wenn dir danach ist. Aber weine nicht, weil du solche törichten Sachen denkst, die nicht stimmen. Ich möchte dich weiterhin gerne bei mir haben und ich möchte auch weiterhin gerne, dass… dass unsere Körper zu einem werden. Und da fällt mir ein, dass du mir noch nicht alles gezeigt hast, was du letzte Woche aus Chuansha mitgebracht hast. Eine wunderbare Gelegenheit, noch einmal in deiner Truhe zu kramen.“

Erst nun fasste sich Méi wieder, sie kicherte, stand kurz auf, machte sich an ihrer Truhe zu schaffen und kehrte mit einem feinem Lächeln auf den Lippen zu Arthur ins Bett zurück: „Wenn Arthur sich wollen zurücknehmen, dann Méi wissen wie gehen.“

Er schaute sie leicht skeptisch an, rollte sich dann aber auf den Rücken und meinte erwartungsvoll: „Aha. Das klingt ja überaus geheimnisvoll. Ich bin sicher, ich werde staunen und wieder eine ganze Menge lernen… nämlich eine ganze Menge ungehöriger und hochanstößiger Dinge!“

Er war sich am nächsten Morgen nicht sicher, ob er wirklich dazu fähig war zur Arbeit zu laufen. Erst als er seinen Vater das Haus verlassen hörte, kam er halbwegs zu sich und realisierte, dass er ihm wohl oder übel in Kürze würde folgen müssen.

Matt sank sein Kopf in die Kissen zurück, er war wirklich hundemüde. Und… etwas beansprucht, um ehrlich zu sein.

Schweren Herzens raffte er sich auf, wickelte sich in seinen Morgenmantel, küsste die noch schlafende Méi rasch auf ihr Haar, suchte sich seine Kleider zusammen und verschwand. Meine Güte, war das eine unglaublich aufregende, vor allem aber kurze Nacht gewesen!

Sein Vater erwartete ihn bereits in dem kleinen, stickigen und staubigen Büro in der Weberei, wo einiges an Papierkram direkt am Geschehen erledigt werden konnte; Dinge, die nur vor Ort getan werden konnten, und nicht Zeit hatten, bis man am großen Schreibtisch im Wohnhaus war.

„Du bist spät dran. War irgendwas?“

„Nein, Dad. Guten Morgen dir.“´

„Gut. Kann ich dir diese Papiere nahe bringen?“

„Natürlich. Ähm, zuvor möchte ich noch sagen, dass ich mir bewusst bin, dass ich zu unüberlegt gehandelt habe am Yuehu-See. Ich entschuldige mich dafür. Wenn du ärgerlich bist, dann kann ich das verstehen, aber bitte sei es nicht mit Méi. Sie leidet sehr unter der ganzen Situation.“

Gabriel Clennam lehnte sich in seinem Stuhl zurück und schaute seinen Sohn prüfend an: „Auf die Gefahr hin, dass du nun roter anläufst als ein chinesischer Lampion: Du bist deiner Konkubine ziemlich verfallen, ich habe zwar keine Ahnung, mit welchen Finessen sie dich so an sich bindet, aber es funktioniert anscheinend sehr gut. Nun, das soll nicht das Thema sein, ich akzeptiere deine Entschuldigung und bin auch gerne bereit mit Méi freundlich umzugehen. Aber sei gewarnt, Arthur, solche Eskapaden nehmen nicht immer so ein gutes Ende. Und nun zum Geschäft…“, er holte Arthur zu sich heran und sie steckten gemeinsam die Köpfe in die Unterlagen.

 

Kapitel fünfunddreißig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig
Oscar Stewart – Näheres unter Kapitel vierundzwanzig

Weiterhin Cha-Dong und der Wagenbauer Tan-Fu

Orte: Auf dem Weg von Shanghai nach Xujiahu Qu, im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar:
Xiansheng – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig
 

 

Tan-Fu kannte natürlich jemanden, der das Lederzeug für Wagen und Pony anfertigen konnte. Das war das Großartige an China, dieses ‚er kennt einen, der einen kennt, der das kann’. Das Büffelleder war auch sehr strapazierfähig, eigentlich deutlich besser als Rindsleder, was üblicherweise in Europa dafür genommen wurde.

Mr. Stewart wiederum hatte zu Hause in England ein Pferdegespann besessen und zeigte Arthur in der Theorie wie man so ein Gespann am besten lenkte. Sobald alles komplett fertig sein würde, Pony, Zaumzeug und Wagen zusammengebracht werden würden, stand Mr. Stewart auch für eine praktische Fahrstunde bereit.

Als es dann endlich soweit war, hatte Arthur das Pony zu Tan-Fu gebracht, sich dort mit Mr. Stewart getroffen und dann hatten sie das Pony vor den revolutionären Phaeton gespannt und waren auf Jungfernfahrt gegangen. Das erste Stück der Wegstrecke war nicht einfach zu bewältigen, da das Zugtier so etwas noch nie gemacht hatte und sich gegen diese Last und Belastung ein wenig zur Wehr setzte, doch schließlich fügte es sich und es ging flott voran nach Xujiahu Qu. Auf halbem Weg wurden Arthur und sein Begleiter jedoch von einem Wolkenbruch überrascht, der so heftig war, dass sie innerhalb von Sekunden völlig durchnässt waren, obwohl sie rasch Schutz unterwegs gesucht hatten. Als es nicht mehr ganz so heftig schüttete, bewältigten sie in höchster Eile den Rest des Weges und waren völlig am Ende, als sie im Hause Clennam ankamen.

Cha-Dong flitzte sogleich herbei, um ihnen die nassen Jacken abzunehmen, während man Mr. Stewart in den Salon bat und ihm eine Schale Suppe reichte, entledigte Arthur sich in seinem Zimmer komplett seiner nassen Kleidung und fluchte dabei kurz, aber überaus deutlich.

Méi kam hinzu, als sie ihn schimpfen hörte: „Arthur waren nass?“

„Verfluchter Monsun, ja! Wir hatten nicht die geringste Chance trocken zu bleiben, es kam aus heiterem Himmel, während wir unterwegs waren.“

„Wagen und Pony sein da?“

„Ja, alles da. Mr. Stewart sitzt allein im Salon und ich muss mir trockene Sachen anziehen. Gehst du bitte rüber zu ihm und leistest ihm Gesellschaft, bis ich komme? Es dauert nur wenige Minuten, danke.“

„Ja, Méi gehen.“

Mr. Stewart blickte interessiert auf, als eine bildhübsche Chinesin in einem wundervollen Qipao die Tür öffnete und eintrat: „Entschuldigen, Stewart Xiansheng, aber Ar… Shaoyé dieses Hauses noch nicht sein umgezogen und schicken Méi-Hua zu leisten Gesellschaft.“

„Das ist ganz reizend von Mr. Arthur. Sie sind also die viel gerühmte Pflaumenblüte. Er ist wirklich zu beneiden, ein Glückspilz, der Gute. Falls er Ihrer einmal überdrüssig werden sollte, darf er Sie gerne zu mir schicken. Was aber leider wohl erst einmal kaum der Fall sein dürfte, denn wie man hört, soll er ganz vernarrt in Sie sein. Weiß er, dass das nicht auf Gegenseitigkeit beruht? Ich meine, kein Zweifel, dass Sie Ihrem Beruf gewissenhaft nachgehen, aber Gefühle dürfen Sie ja für Ihren jeweiligen Dienstherren nicht entwickeln, nicht wahr? Oder hat sich an dieser Regel in der Zwischenzeit etwas geändert?“

Méi war unangenehm berührt von diesem Gespräch, zu lange hatte sie nicht mehr zu spüren bekommen, wie sehr von oben herab die Europäer, egal welcher Nation, meist die Chinesen behandelten. Hier im Haus genoss sie fast eine Art Gleichstellung, niemand bevormundete sie oder machte ihr ständig klar, dass Sie nur geduldet war, nur in Diensten hier stand. Doch Mr. Stewart war so einer, der sich gerne als Feudalherr, als Imperialist betrachtete und sich auch so aufführte. Es war am besten, ihm keine Angriffsfläche zu bieten und einfach nur freundlich zu lächeln, was sie nun auch tat.

„Ah, das könnt ihr Chinesen wahrlich gut. Immer nett lächeln, egal wie euch zumute ist. Da könnte man doch tatsächlich noch was von euch lernen. Nun, wenn der junge Clennam nicht ein wenig verklemmt wäre, würde ich ihn glatt mal fragen, was Sie so im Schlafzimmer wert sind. Ich schätze jedoch, er würde bei dieser Frage nur krebsrot anlaufen und es mir bedauerlicherweise nicht verraten.“

Méi wurde unruhig, dieser Stewart war ein furchtbarer Kerl. Wo blieb Arthur nur?

„Wenn ich nicht jede Minute damit zu rechnen hätte, dass der gute Arthur hier hereinplatzen und uns stören würde, würde ich gerne selbst Ihren Wert testen. Aber ich möchte seine Gastfreundschaft ja nicht missbrauchen.“

Er erhob sich dennoch und ging drohend auf Méi zu, die eingeschüchtert zurückwich.

Grob fasste er sie am Kinn und drehte ihren Kopf: „Wirklich ein außerordentlich hübsches Vögelchen in Clennam’s Nest.“

„Mr. Stewart! Was… würden Sie bitte meine… Miss Méi-Hua loslassen!“

Unbemerkt war Arthur in den Raum getreten und traute seinen Augen nicht. Was fiel diesem ungehobelten Kerl ein?

„Ach, kommen Sie Clennam, haben Sie sich nicht so. Es ist ja nichts passiert.“

„Mir scheint, Sie haben es allzu wörtlich genommen, dass ich Ihnen Miss Méi-Hua zur Gesellschaft geschickt habe. Vielleicht wäre eine Entschuldigung angebracht.“

„Wegen einer chinesischen Hure? Seien Sie nicht albern!“

„Raus! Sofort! Oder ich fordere Genugtuung!“

Oscar Stewart fing schallend an zu lachen: „Sie machen sich lächerlich! Niemand duelliert sich wegen so einer hier! Sie würden sich zum Gespött von ganz Shanghai machen.“

Arthur blieb erstaunlich ruhig, auch wenn er innerlich kochte: „Sie dürfen mir glauben, das wäre mir egal. Also, Sie haben die Wahl: Entweder Sie entschuldigen sich sofort bei Méi und mir und verlassen dann dieses Haus, oder ich weiß andere Maßnahmen zu ergreifen.“

Resigniert hob Mr. Stewart seine Hände halb in die Höhe: „Also gut, wenn Sie so viel Wert darauf legen, bevor ich wegen eines lächerlichen Duells Ihr junges Blut an meinen Händen kleben habe und um des lieben Friedens willen – ich wollte hier niemandem zu nahe treten und bitte um Entschuldigung. Und nun empfehle ich mich, ich hoffe, dass meine Rikscha zurück nach Shanghai bereits da ist. Ich wünsche allseits einen schönen Tag.“

„Sie finden wohl den Weg hinaus alleine. Auf Wiedersehen, Mr. Stewart!“

Méi schaute Arthur verstört an: „Das Méi nicht wollen. Arthur werfen Stewart Xiansheng aus Haus?“

„Natürlich. Er wollte sich an dich ranmachen.“

„War nix schlimm, er nur sagen hässliche Sachen, nix machen.“

„Das allein reicht schon. Ich hätte ihn doch fordern sollen, diesen Lackaffen!“

„Was sein ‚fordern’, Arthur?“

Er seufzte tief und zog sie in seine Arme: „Ich weiß nicht ob du das verstehen wirst, aber es geht dabei um die Ehre eines Gentleman. Da für euch Chinesen der Begriff ‚Ehre’ aber auch von Bedeutung ist, will ich es dir erklären: Wenn ein Gentleman einen anderen beleidigt, egal ob ihn direkt, seine Familie oder etwas, was ihm sonst wie lieb und teuer ist, so darf man von ihm eine Entschuldigung fordern. Ist er nicht bereit, diese abzugeben, fordert man ihn zu einem Duell, also einem Gegenübertreten mit Waffen.“

„Waffen? Arthur meinen, Männer sich dann gegenseitig töten?“

„Unter Umständen geht so etwas tödlich aus, ja. Wenn das Duell mit Pistolen ausgetragen wird, ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß. Beim Degen kann man sich damit zufrieden geben, dem Gegner eine blutende Wunde zugefügt zu haben.“

Méi schaute völlig verschreckt drein: „Arthur würden Leben geben dafür, dass dieser Mann sagen böse Worte zu Méi?“

„Ja. Er darf weder dich noch mich, noch sonst jemanden aus meiner Familie beleidigen.“

Nun brach Méi in Tränen aus: „Aber… aber können Arthur überhaupt schießen genau mit Pistole? Oder stechen gut mit Degen?“

„Es geht so. Ich hätte ein wenig üben müssen vor dem Duell.“

Sie weinte nun bitterlich und willig tröstete er sie, so gut es ging.

„Arthur?“ Mr. Clennams Ruf schallte durch das Haus.

Cha-Li beeilte sich, ihn aufzuklären: „Shaoyé fahren aus mit Qiè. Wagen heute gekommen.“

„Ah, danke, Cha-Li. Das ist ja eine gute Nachricht.“

„Ja, gut. Aber schlechte Nachricht sein, Shaoyé werfen raus Stewart Xiansheng.“

„Bitte?“

„Cha-Li nix genau weiß, aber Stewart Xiansheng gegangen, waren sehr ärgerlich. Und Qiè weinen viel.“

„Du liebe Zeit! Ich kann meinen erwachsenen Sohn nicht einmal einen halben Tag lang alleine lassen, schon geht alles drunter und drüber. Er soll sofort zu mir kommen, wenn er von der Ausfahrt zurück ist.“

Arthur klopfte an die Tür zu seines Vaters Arbeitszimmer und wartete dessen ‚Herein’ ab.

„Du wolltest mich sprechen, Dad?“

„Der Wagen ist da, sagte mir Cha-Li? Und eine Fahrt mit Méi hast du auch schon unternommen, wie ist es gewesen?“

„Ziemlich gut. Das Kutschieren ist recht gewöhnungsbedürftig, aber ich bekomme das schon ganz ordentlich hin.“

„Mr. Stewart hat es dir gezeigt?“

„Ja, auf dem Weg hier heraus.“

„Gut. Und dann?“

Arthur seufzte: „Du weißt es also schon. Ich hätte es mir denken können, da die Wände hier Ohren haben. Nun, wir gerieten unterwegs in einen wolkenbruchartigen Regen und waren pitsche-patsche-nass als wir hier ankamen. Ich habe Mr. Stewart in den Salon gebeten, er hat seine nasse Jacke abgenommen bekommen und wir haben ihm eine heiße Suppe serviert. Dann habe ich mir trockene Kleidung angezogen und währenddessen Méi zu Stewart reingeschickt, damit er sich nicht über mangelnde Gastfreundschaft zu beklagen hat. Er hat sehr herablassend, um nicht zu sagen verächtlich über Méi in ihrer Anwesenheit gesprochen und dann versucht sich ihr körperlich zu nähern. Ich kam gerade rechtzeitig zur Tür herein, um es mitzukriegen.“

Mr. Clennam rieb sich die Stirn: „Ich ahne Schreckliches.“

„Gott sei Dank hat er sich auf meine Aufforderung hin entschuldigt, nachdem ich ihm gedroht hatte, ihn wegen seines beleidigenden, ungebührlichen Verhaltens zu fordern. Dann habe ich diesem Mistkerl nahegelegt, das Haus zu verlassen.“

„Ach du Schande! Ich weiß nicht, ob ich ungeheuer stolz oder mächtig ärgerlich auf dich sein soll. Lass mich erst einmal eines sagen: Ich denke, im Großen und Ganzen hast du richtig gehandelt. Andererseits wäre vielleicht ein wenig mehr Fingerspitzengefühl angebracht gewesen, meinst du nicht auch?“

„Vater, wenn jemand dich, deine Familie oder jemanden, der dir sonst nahe steht beleidigt, wie viel Fingerspitzengefühl zeigst du dann? Es gibt Dinge, die gehen einfach zu weit, die kann man nicht tolerieren. Und hier war meine Toleranzschwelle deutlich überschritten.“

„Ich nehme das nun einmal so, wie du es mir erläutert hast. Vermutlich werde ich von Stewart eine andere Version zu hören bekommen, falls er sich überhaupt noch zu einer Unterhaltung mit mir herablässt. Was macht Méi?“

Arthur verzog das Gesicht: „Sie war völlig konsterniert und aufgelöst. Vor allem hat es sie mächtig aufgeregt, dass ich mich wegen ihr duellieren wollte. Dazu musste ich ihr allerdings erst einmal erklären, was das konkret bedeutet. Die Ausfahrt mit dem Wägelchen hat sie dann wieder etwas aufgemuntert. Sie sitzt nun im Hof und malt, wir werden auch gleich mit dem Chinesisch-Lernen anfangen.“

„Ist recht. Ich komme nachher und setze mich ein wenig zu euch, wenn ich das alles hier einigermaßen verdaut habe. Ich hoffe nur, Stewart lässt es dabei bewenden und die unselige Angelegenheit wird kein Nachspiel haben. Bis nachher, Arthur.“

 

Kapitel sechsunddreißig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig

Weiterhin chinesische Arbeiter

Erwähnung finden Oscar Stewart, Flora Casby-Finching, Mrs. Clennam, Martin Brown und chinesische Ärzte

Orte: In der Clennam’schen Seidenherstellung, im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar:
Zhongyào – chinesisch: Arznei aus der TCM (traditionelle chinesische Medizin)
BOK - Abkürzung für Britische Ostindien-Kompanie

 

Durch Wagen und Pony sparte Arthur nun immer Zeit ein auf seinen Wegen. Egal ob er zur Arbeit, zur Kirche oder – selten nun, da er im Club seit dem Vorfall mit Oscar Stewart leicht geschnitten wurde – mit seinem Vater zum Lunch in die Innenstadt fuhr, es ging alles wesentlich schneller.

Die kleine britische Gemeinde in Shanghai hatte sich tagelang die Mäuler über den jungen Clennam und sein Eintreten für ein chinesisches Freudenmädchen zerrissen, nach und nach hatte sich aber die Wogen wieder geglättet, auch wenn Arthur jetzt nicht mehr von allen höflich gegrüßt wurde, denn mehrheitlich hatte man die Partei Stewarts ergriffen, nur einige wenige jüngere Briten sympathisierten mit Arthur.

Arthur war es reichlich egal, es tat ihm nur weh, dass seinem Vater ebenfalls einige Sympathien entzogen wurden. Zum Glück hielt sich das aber bei ihm in Grenzen, da er sich sehr neutral und - wenn überhaupt - zurückhaltend über die Sache geäußert hatte. Und so beschloss man weise und großzügig, nicht vom Sohn automatisch auf den Vater zu schließen.

In der Clennam’schen Seidenherstellung merkten die chinesischen Arbeiter, dass der junge Herr große Fortschritte im Erlernen der chinesischen Sprache machte und nun so manches Wort, seltener auch schon ganze Sätze, an sie richten konnte. Das verschaffte Arthur schnell eine Menge Respekt unter den Arbeitern. Auch dass er sich so gut wie nie scheute, selbst mit anzupacken, grobe oder ungeliebte Arbeiten genauso erledigte wie die angenehmeren, fiel positiv auf.

Er entwickelte sich zu einem Experten für die niederen Seidenarten, wenn also Bourette- oder Schappeseide gefertigt wurde. Er wusste innerhalb kürzester Zeit genau, wie kurz die Fäden dafür maximal sein durften, damit der Stoff ordentlich gewoben werden konnte, ohne zu brechen und ohne dass die Qualität darunter litt. Er fühlte mit den Fingerspitzen über den zur Probe gewobenen Stoff und konnte sofort ertasten, ob man mit dem Weben so fortfahren konnte oder nicht. Einmal ließ er acht Proben weben, bevor er seine endgültige Einwilligung zum Weben der großen Stoffbahnen gab. 

Dabei machte er nie viele Worte, nicht, weil sein Chinesisch dafür noch nicht gut genug war, sondern weil er genau wusste, was er wollte, und knappe, präzise Anweisungen für das Beste hielt. Jedoch waren seine Worte nie ausfallend und nie kehrte er den großen Herrn in der Spinnerei heraus; es gelang ihm überwiegend höflich, aber bestimmt seine Vorstellungen zu äußern.

Zweimal trennte sich Méi in dieser Zeit vorübergehend von ihm, um nach Chuansha zu reisen und ihre monatliche Auszeit zu nehmen. Arthur wusste nie, ob sie wirklich dorthin zur Erholung ging, um ihnen die Unreinheit nicht ins Haus zu bringen  - wobei er noch immer keinen blassen Schimmer davon hatte, was sich genau hinter diesem Begriff verbarg - und um sich neu einzukleiden, oder ob sie bei dieser Gelegenheit nicht doch eine eventuelle gemeinsame Leibesfrucht abtöten ließ. Diese Vorstellung war ihm sehr unbehaglich und er versuchte jedes Mal, es zu verdrängen, den Gedanken einfach nicht zuzulassen.

Darüber mit ihr zu reden, traute er sich nicht, da sein Vater ihm eingeschärft hatte, es besser nicht zum Thema zu machen.

In einer Nacht ohne Méi, als sie in Chuansha weilte, träumte er von England. Von saftigen grünen Wiesen, von Steinwällen, von tausend blökenden Schafen, und vor allem von deren leckeren Koteletts. Er vermisste die Fuhrwerke, Kutschen und Equipagen Londons, die gepflasterten Straßen, ja, er vermisste für einen Moment lang sogar seine ewig nörgelnde und gefühlskalte Mutter. Hier in Shanghai hatte er ein schönes Leben, keine Frage, aber Heimat war ihm China irgendwie nicht. Wenn er nach England zurückkehren würde, würde er gerne heiraten und eine Familie gründen. Mit Méi war das nicht möglich, und derzeit wusste er nicht, ob er das aus tiefstem Herzen bedauern, oder dieser unumstößlichen Tatsache etwas Gutes abgewinnen sollte.

Flora Casby war nun bestimmt schon seit geraumer Zeit Mrs. Finching… ach, er würde sicher einsam und allein in London sein bei seiner Rückkehr. Konkubinen im chinesischen Sinne gab es dort nicht, nur schmutzige Dirnen, bei denen er lieber nicht vorstellig werden wollte. Demnach war es besser, das Heimweh zu ignorieren, zu unterdrücken und sich hier in China besser einzurichten. Er würde es bestimmt noch ein paar Jahre hier aushalten, denn mit seinem Vater war das Zusammenleben ja überaus angenehm, längst nicht so mühselig wie mit seiner Mutter.

Und er dachte an Martin Brown, der so weit weg von zu Hause, von England, in seinem tropischen Grab auf Pulau Panjang lag. Wie sehr er doch sein blödes Grinsen, seine fragwürdigen Witze, seine anzüglichen Kommentare und seine einfache, aber von Herzen kommende Freundschaft vermisste!

Der Sommer neigte sich allmählich dem Ende entgegen, auch wenn es in Shanghai keinen klassischen Herbst gab, so merkte man doch, wie die Hitze nachließ, die drückende Schwüle einem erträglicheren Klima wich. Auch war das Wetter nun stabiler, die unberechenbaren Monsun-Regen hatten endlich aufgehört.

Arthur hatte gemeinsam mit seinem Vater darüber nachgedacht, ob es nicht sinnvoll wäre, eine kleine Niederlassung von Clennam & Sons bereits am ersten Anlaufpunkt der Klipper in China, nämlich in Kanton, unweit von Macao zu haben. Inwieweit die BOK da mitspielen würde, musste man jedoch abwarten. Auch meinte Mr. Clennam, es wäre für das Kerngeschäft in Shanghai nicht förderlich, außerdem müsse man nach wie vor die Stoffe von Shanghai in den Süden Chinas verschiffen. Warum also sollte ein Stützpunkt in Kanton großen Sinn machen? Die Seide kam aus Shanghai, wurde dort hergestellt, und nicht von dieser vor  Kanton vorgelagerten komischen Insel. Gabriel Clennam tat es zunächst einmal als Hirngespinst seines Sohnes ab.

Doch Arthur fand, der Weg nach Shanghai sei – zukunftsweisend gedacht - definitiv zu weit. Um Güter von China nach England zu bringen, egal, ob es sich nun um Seide, Tee, Baumwolle, Reis oder Gewürze handelte, war Südchina weitaus besser als Anlaufpunkt geeignet.

Da derlei Dinge aber vorrangig die BOK regelte, war es eigentlich nicht Arthurs Aufgabe, sich den Kopf darüber zu zerbrechen. Solange die Clennam-Seide in Shanghai produziert wurde, musste man sie auch dort verschiffen. Das gesamte Geschäft in den Süden zu verlagern, war ein Ding der Unmöglichkeit; es fing schon damit an, dass es dort keine Maulbeerbäume gab.

Trotz all dieser Überlegungen war Arthur nicht von der Idee abzubringen,  langfristig das Unternehmen dorthin auszuweiten. Wie das konkret aussehen würde, würde sich zu gegebener Zeit schon herausstellen. Da es aber im Winter in Shanghai nicht sehr angenehm und das große Haus schwer zu heizen war, schwebte ihm ohnehin vor, den Winter im Süden zu verbringen, der dort deutlich milder und wärmer verlief.

Méi würde er gerne nach Kanton mitnehmen. Wie sich das würde bewerkstelligen lassen, wusste er zwar ebenfalls noch nicht, doch davon ließ er sich vorläufig nicht entmutigen. Es gab für jedes Problem eine Lösung, ganz sicher, vor allem, wenn man lange im Voraus die Planung anging. Ansprechen konnte er sie ja schon einmal, damit man sehen würde, wo die Hauptschwierigkeiten lagen.

Nachdem er beim sonntäglichen Gottesdienst gewesen war, während sein Vater sich noch im Club befand, sprach er es im Innenhof des Hauses an: „Würdest du gerne einmal mit mir verreisen, Méi?“

„Verreisen? Meinen fahren in andere Stadt?“

„Ja. Ich würde den Winter gerne in Südchina verbringen, in Kanton, um genau zu sein. Ich könnte dann dort bei der Gelegenheit eine Zweigstelle von Clennam & Sons versuchen aufzubauen. Sofern die Britische Ostindien-Kompanie mitspielt.“

„Méi sollen gehen mit Arthur nach Kanton? Bù!“

„Wieso nein?“

„Kanton sein auch China, aber dort sprechen ganz andere Sprache.“

„Wie bitte? Man spricht dort kein Chinesisch?“

Méi schüttelte energisch den Kopf: „Sein andere Sprache dort. Nix Chinesisch, Kantonesisch.“

„Aha. Interessant. Aber das finde ich nicht so schlimm. Wir werden es lernen.“

„Méi nix können weg so lange. Müssen jeden Monat nach Chuansha. Nix geben Ausnahme.“

„Also wirklich, das glaube ich einfach nicht. Ich bin sicher, dass man in diesem Fall sehr wohl eine Ausnahmeregelung finden wird. Man muss sich nur darum bemühen und darf nicht einfach den Kopf in den Sand stecken. Wenn man es nicht probiert, dann weiß man auch nicht, ob es möglich ist oder nicht.“

Er überlegte: „Vielleicht gibt es in Kanton ja auch Häuser für Qiès, wohin du dich wenden könntest, wenn wir erst einmal dort sind.“

„Wie lange dauern Reise nach Süden?“

„Mit dem Schiff? Ungefähr drei Wochen, warum fragst du?“

„Sein schlecht. Méi dann bekommen Unreinheit bei Reise, ganz schlecht.“

„Gut. Ich verstehe. Und ich denke, es ist längst an der Zeit, dass du mich endlich einmal über dieses Problem in Kenntnis setzt. Was also habe ich darunter zu verstehen? Und bitte ohne Herumdrucksen. Ich möchte klipp und klar wissen, was es damit auf sich hat!“

Sie schaute ihn lange an, senkte dann den Kopf und murmelte: „Sein ganz schlecht für Männer. Sollen nicht wissen.“

„Méi, ich möchte es gerne wissen. Es betrifft mein Leben nämlich genauso wie deines mittlerweile. Und somit denke ich, dass ich auch ein gewisses Recht darauf habe, völlig im Bilde zu sein.“

Daraufhin nickte sie sehr zögerlich, völlig unsicher, ob sie überhaupt in der Lage sein würde, ihm das Problem zu schildern und nahe zu bringen.

Arthur merkte, wie schwer ihr das fiel und nahm sie daher liebevoll in seine Arme: „Einfach reden, ich höre zu und gebe mir Mühe, es zu verstehen.“

„Frau können haben Kinder. Brauchen Mann dazu, Mann wie Arthur. Ehemann, Geliebter. Wenn sein viel zusammen in Bett, dann können machen Kind. Wenn Kind in Frau gemacht, gut. Frau werden dick, bis Kind geboren. Wenn nix Kind in Frau, dann kommen Blut und alles wieder machen neu und rein für nächste Monat. Damit können versuchen machen wieder Kind. Jeden Monat.“

Arthur war etwas verwirrt und versuchte, ihre Erklärungen sinnvoll zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen, doch es gelang ihm nicht ganz: „Méi, aber du… du wirst kein Kind von mir empfangen, oder? Va… man hat mir gesagt, dass es Mittel gibt, die das verhindern.“

Sie blickte schuldbewusst zu Boden: „Ja. Qiè nix sollen haben Kind. Deswegen bekommen Zhongyào und immer bluten jeden Monat.“

„Zhongyào?“

„Chinesische Medißin.“

„Medizin. Ich fasse zusammen, auch wenn es mir schwer fällt, da ich mir gerade vorkomme wie der größte Idiot auf Erden, so unwissend und naiv: Eigentlich zeugt man Kinder, wenn man als Mann und Frau im Bett zusammen ist. Soviel ist mir klar, das ist das vorrangige Ziel einer Ehe. Diese Kinder wachsen in der Frau heran, bis sie groß genug sind, um geboren zu werden. Gelingt es nicht, ein Kind zu ma… zu zeugen, hat es die Natur offensichtlich so eingerichtet, dass eine Frau eine Blutung hat – dazu komme ich gleich noch einmal – damit danach eine neue Chance auf ein Kind besteht.“

„Ja.“

„Zwei Fragen noch: Mir erschließt sich der Sinn nicht ganz, warum da eine Art Reinigung durch eine Blutung erfolgt. Und: Wo kommt das Blut raus? Warte… aus dem Leib, denke ich mal, oder?“

Méi zuckte mit den Schultern: „Ja, es kommen genau da heraus, wo auch Kind würden kommen heraus. Und wo man machen Kind. Chinesische Medizingelehrte sagen, sein wie bei Huhn: Kommen ein Ei in Frau. Wenn Ei nix gehen zusammen mit Hahn – ach, Arthur sein ja Hahn…“, sie kicherte völlig unangebracht, sah aber an Arthurs Gesichtsausdruck, dass er das nicht ganz so lustig zu finden schien und fuhr daher schnell fort: „dann gehen Ei kaputt und müssen raus aus Körper von Frau. Dann kommen Blut und schwemmen weg.“

Er schaute sehr skeptisch drein: „Das sagen eure Mediziner? Unglaublich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das stimmt. Andererseits – wer weiß das schon genau. Vielleicht wissen die ja mehr als unsere Ärzte. Und… und – puh, ich stelle mir das alles lieber nicht vor! Nun verstehe ich das natürlich viel besser, dass du nicht hier sein möchtest und kannst, wenn… wenn“, hilflos brach er ab und schaute Méi verzweifelt an. 

Sie lächelte sanft und nahm ihn zum allerersten Mal aus eigenem Antrieb in ihre Arme: „Alles sein Natur, ganz normal, Arthur.“

 

End Notes:

 

Bilder über Seidenherstellung zu diesem Kapitel im Forum

Kapitel siebenunddreißig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig

Erwähnung finden Mrs. Clennam, Gilbert Clennam und Oscar Stewart

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: ./.

In diesem Kapitel werden klare Anspielungen auf Dickens Roman und auf die neueste BBC-Verfilmung des Stoffes gemacht, in einer der wenigen Passagen dieser (Vor-)Geschichte, die sich mehr oder weniger direkt darauf beziehen.

 

 

Seufzend klappte Gabriel Clennam seine Taschenuhr zu. Vergiss nicht! Vergiss nicht! Nein, er würde nie vergessen… aber würde sich seine Frau auch an die Abmachung halten? Es war schwer zu sagen. Er wusste, er hätte Arthur als Kind und Heranwachsender eigentlich nicht alleine lassen sollen, es war ein Fehler von ihm gewesen, und er hätte es auch nicht getan, wäre da nicht sein Vater, Gilbert Clennam, gewesen. Ohne dessen Versicherung, sich des Kindes während seiner Abwesenheit ein wenig anzunehmen, wäre er, Gabriel, vermutlich auch nie so weit weg von England gegangen.

Er konnte sich glücklich schätzen, dass sein Sohn gut geraten war, nicht nur äußerlich ein stattlicher, gut aussehender Mann, mit den strahlend blauen Augen seiner Mutter, sondern auch charakterlich fest und liebenswert. Was keineswegs eine Selbstverständlichkeit war, angesichts der Umstände unter denen er aufgewachsen und erzogen worden war.

Gabriel Clennam steckte sich die Uhr langsam wieder in seine Westentasche. England würde er wahrscheinlich nie mehr wieder sehen, er hatte da so eine Art Vorahnung. Und vielleicht war das auch ganz gut so. Natürlich war er damals geflüchtet; vor allem vor seiner Frau und deren scharfer Zunge. Wobei sie ja nicht einmal Unrecht gehabt hatte mit ihrem ewigen Gezeter. Aber er hatte es einfach nicht mehr ertragen, weder ihre Gegenwart, noch ihre ständigen Anklagen, noch die Art und Weise, wie sie kühl und von oben herab mit sämtlichen Vorfällen und Ereignissen umgegangen war. Einfach unerträglich! Und er hatte großes Mitleid mit Arthur, der das alles stoisch und mit großer Geduld jahrelang über sich hatte ergehen lassen. Er bewunderte ihn für die Stärke, die er selbst niemals gehabt hatte.

Irgendwann einmal würde Arthur die ganze Wahrheit erfahren. Aber er persönlich war nicht in der Lage, ihm diese nahe zu bringen. Zu lange schon hatte er geschwiegen, er konnte sich nicht mehr öffnen, nicht in dieser Angelegenheit. Arthur würde zu gegebener Zeit nach England zurückkehren und seine Mutter um Aufklärung bitten müssen. Sie hatte die Pflicht, ihm die Papiere zu zeigen, sie hatte sich außerdem verpflichtet, Wiedergutmachung zu leisten, wie es in der testamentarischen Verfügung seines Vaters stand. Gabriel Clennam hoffte inständig, dass seine Frau diesen Verpflichtungen nachkommen würde. Auch sie durfte nicht vergessen!

Arthur schaute Méi fasziniert über die Schulter, wie sie mit unglaublicher Geschwindigkeit mit einem feinen, spitzen Ziegenhaar-Pinsel Hunderte von Schriftzeichen auf ein Stück Papier schrieb: „Ich bin beeindruckt, wie rasend schnell das Briefeschreiben bei dir geht. Ich dachte immer, ihr malt diese Zeichen auch bei Briefen sehr kunstvoll auf das Papier.“

„Nein, nur malen, wenn Zeit für schöne Tuschezeichen. Bei Nachricht schreiben gehen schnell.“

„Das sehe ich. Und was hast du nun nach Chuansha geschrieben?“

„Sagen, wollen machen lange Reise mit Shayoé Clennam nach Süden. Bleiben viele Monate. Brauchen Erlaubnis und Rat.“

„Ja. Wie lange wird der Brief brauchen, bis er in Chuansha ankommt?“

„Nix brauchen lange. Gehen schnell. Zwei Tage dort.“

„Sehr gut. Und man wird dir auch schnell antworten, oder?“

„Méi hoffen. Müssen warten ab.“

Arthur nickte: „Das müssen wir wohl. So, und nun möchte ich einen schönen, vollständigen englischen Satz von dir hören, bitte sage: Ich schreibe einen Brief nach Chuansha.“

„Méi schreiben Brief nach Chuansha.“

„Fast. Du sollst es dir abgewöhnen, immer von dir in der dritten Person zu sprechen. Dafür gibt es das Wort ‚ich’. Versuche es noch einmal, bitte!“

„Iß schreiben Brief nach Chuansha.“

„Schön. Und nun passt du noch das Wort ‚schreiben’ an – ich schreibe…“

„Iß schreibe Brief nach Chuansha.“

„Wird immer besser. Wir setzen gerne Artikel vor unsere Hauptwörter, hier wäre es ‚einen Brief’.“

Méi schien nun verwirrt, aber sie probierte tapfer den Satz in Ganzem zu sagen: „Iß schreiben… schreibe eine Brief nach Chuansha.“

„Großartig. Das war so gut wie perfekt. Welche Belohnung wünschst du dir?“

„Méi bekommen Belohnung?“

„Stop! Wie heißt es richtig?“

„Iß bekomme Belohnung?“

„Bravo. Nur hast du den Artikel mal wieder vergessen.“

„Méi… iß lernen nie.“

„Doch, das lernst du. Mit Belohnung sogar sehr schnell, du wirst sehen. Also, was wünschst du dir?“

„Nur gehen mit Arthur nach Kanton, das sein alles.“

„Du bist sehr bescheiden. Keinen Schmuck? Ein Armband aus Jade, vielleicht?“

„Müssen nix haben Schmuck.“

„Aber neue Seide für schöne Kleider?“

„Nur, wenn Arthur und Laoyé geben.“

„Du bekommst Seide in der Farbe deiner Wahl, ein Jade-Armband und die Reise mit mir in den Süden!“

„Arthur sein sehr großzügig.“

Er lachte: „Es heißt ‚Arthur, du bist sehr großzügig’.“

„Sehen, Méi alles machen falsch. Nein, sagen – iß – mache - alles - falsch.“

Sie betonte jedes Wort einzeln und überdeutlich.

„Das war absolut richtig. Ich bin sehr stolz auf dich. Du hast dir alles redlich verdient. Und einen dicken Kuss obendrein. Darf ich?“

Sie nickte glücklich und er neigte seinen Kopf zu ihr, dann umfasste er ihr schmales Gesichtchen mit seinen großen Händen, strich ihr zärtlich mit den Daumen über die Wangen und presste dann seinen Mund auf ihren, zuerst sanft und dann immer fordernder.

Sie warteten einige Tage auf eine Antwort aus Chuansha. Endlich wurde ein Brief ausgeliefert, den Méi sehr ungewohnt in fieberhafter Eile öffnete. Sie las ihn durch, runzelte ihre schöne, blütenweiße Stirn und las noch einmal. Dann ließ sie den Brief enttäuscht sinken, während ihre Mandelaugen sich mit heißen Tränen füllten. Man hatte ihre Anfrage abgelehnt. Es war ihr nicht erlaubt worden, mit ihrem Gönner nach Kanton zu reisen. Arthur war noch gar nicht zu Hause, er weilte noch auf der Arbeit, deswegen konnte sie ihm die schlechte Nachricht auch nicht sofort mitteilen.

Zunächst fiel ihm nichts Besonderes auf, als er das Haus betrat. Méi nutzte die letzten warmen Sonnenstrahlen, um im Innenhof zu malen. Mit einem Lächeln auf den Lippen trat er zu ihr und betrachtete ihre Werke, wie er es fast immer zu Feierabend tat. Doch nun sah er, dass sie weder Schriftzeichen noch liebliche Bilder von Blumen oder Landschaften malte, sondern wahllos mit dem Pinsel umging und in überwiegend dunklen Farben abstrakte Formen zu Papier brachte.

Er war ziemlich befremdet, denn so etwas hatte sie noch nie gemalt. Und er erschrak, als sie sich abrupt zu ihm umdrehte, denn ihr schönes Gesicht war fleckig und verquollen vom Weinen.

Langsam ließ er sich neben ihr in die Knie sinken und fragte leise: „Was ist geschehen? War Stewart etwa hier?“

Sie schüttelte den Kopf: „Brief sein da.“

Er ahnte, was kommen würde: „Aus Chuansha? Und es ist keine positive Antwort, vermute ich.“

Sie nickte stumm.

„Wir geben nicht auf. Wir versuchen es noch einmal. Und wenn ich persönlich hinfahren muss!“

„Bù! Arthur nix hinfahren, bitte!“

„Es wird mir eine Lösung einfallen, ganz bestimmt.“

Er hatte vor Cha-Dong ebenfalls nach Kanton mitzunehmen, nicht, weil er ihn unbedingt brauchte, sondern weil es besser war eine weitere vertraute chinesische Person dabei zu haben. Außerdem war er der Fürsprecher von Méi-Hua und konnte eventuell seinen Einfluss bei deren Haus der Freudenmädchen, ihrer Ausbildungs- und Rückzugsstätte in Chuansha geltend machen.

Cha-Dong schwankte ob dieser Nachricht zwischen kindischer Freude und großen Zweifeln. Er sollte über das Meer auf einem Schiff in den Süden Chinas, nach Kanton fahren? In einen Bereich des Kaiserreiches, dessen Sprache er nicht einmal beherrschte? Das war hier noch keinem chinesischen Dienstboten zuteil geworden, jedenfalls nicht dass er wüsste. Es war eine große Ehre und eine ebensolche Herausforderung. Doch das Schwierigste war, dass er – quasi als Preis für diese Reise – der Qiè des jungen Herrn eine Reiseerlaubnis verschaffen musste.

Er wusste letztendlich selbst nicht genau, wie es ihm gelungen war, doch nach mehrtägiger Abwesenheit vom Hause Clennam, etlichen Gesprächen in Chuansha und vielen Geschenken, die er im Namen des jungen Herrn dort gelassen hatte, brachte er ein Dokument mit, dass Méi-Hua die Erlaubnis zur Reise erteilte.    

Arthur und Méi starrten Cha-Dong sprachlos an, als Méi den Brief gelesen und größtenteils Arthur auch vorgelesen hatte. Dann orderte Arthur strahlend ein besonderes Abendessen beim Koch, zur Feier des Tages. Und Cha-Dong sollte es nicht herrichten und servieren, sondern mit ihnen beiden essen. Alles komplett chinesisch. Inzwischen beherrschte Arthur auch den Umgang mit den Ess-Stäbchen recht gut und war darin kaum noch von einem Chinesen zu unterscheiden.

Cha-Dong fühlte sich ein wenig fehl am Platze bei dem Dinner zu dritt, doch er freute sich und begriff, dass es später in Kanton vermutlich ähnlich sein würde und es ein Vorgeschmack auf die Zeit dort war. Der junge Herr behandelte sowieso niemanden von oben herab, er war ein guter und gütiger Dienstherr. Nur wo es angebracht war, zeigte er milde Strenge, aber nie mehr, als unbedingt nötig war. Er blieb stets höflich und freundlich. Cha-Dong war sich eigentlich mit seinem Bruder einig, dass diese fortwährende Gütigkeit und Freundlichkeit nicht gut für einen Langnasen-Herrn sein konnte, aber was wollte man machen. Es war nun mal die Eigenart des jungen Herrn und er in seiner Position als chinesischer Boy profitierte ja eigentlich von dieser humanen Einstellung, auch wenn diese ungewöhnlich war.

Nachdem sich Cha-Dong nach dem gemeinsamen Dinner mit Arthur und Méi zurückgezogen hatte, feierten diese beiden die gute Nachricht aus Chuansha natürlich noch ausgiebig im Bett weiter, wobei Méi erneut einige Utensilien aus ihrer geheimnisvollen Truhe zum Vorschein brachte, deren Anblick Arthur in Schweiß ausbrechen ließ und ihm zudem die tiefste Schamesröte ins Gesicht trieb.

Kapitel achtunddreißig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig

Weiterhin Passagiere, Offiziere und Besatzung der Eastern Star, ein Angestellter des Büros der Britischen Ostindien-Kompanie in Kanton, Gong-Wa, ein kantonesischer Koch, Rikscha-Fahrer, Gastwirt, sonstige Kantonesen

Erwähnung findet Gabriel Clennam

Orte: Auf hoher See im Südchinesischen Meer an Bord des Klippers Eastern Star zwischen Shanghai und Fuzhou, und zwischen Fuzhou und Macao, in einem Gasthof in Macao, auf der kantonesischen Insel Heung Gong Tsai (heute Hongkong)

Glossar:
Lackfirnis/Naturfirnis - natürlicher schwarzer Lack, der damals dort hauptsächlich gewonnen und exportiert wurde (Lackbaum)
Heung Gong Tsai - damalige Bezeichnung des heutigen Hongkong, das zu dieser Zeit nichts anderes war, als eine von vielen Inseln vor dem Festland von Kanton
 

 

Der Abschied von seinem Vater fiel Arthur nicht leicht, aber er reiste in dem Bewusstsein ab, dass man sicherlich für die zukünftige Entwicklung der Firma etwas tun würde, dass man versuchen würde zu expandieren, neue Möglichkeiten und Perspektiven für das Familienunternehmen zu erschließen. Im Gepäck hatte er auch zwei Setzlinge von Maulbeerbäumen, die er dort einpflanzen wollte, um zu sehen, ob sie anschlagen und gedeihen würden.  

An einem der ersten wirklich kälteren Tage in Shanghai betraten sie die Planken des Klippers Eastern Star, der unter anderem natürlich Clennam-Seide nach England transportieren würde.

Cha-Dong brachte vor lauter Aufregung kein einziges Wort heraus, was sehr ungewöhnlich für ein Plappermäulchen wie ihn war. Er bewegte sich fast wie eine Marionette, eine Puppe, völlig versteift und verkrampft, da er noch nie zuvor auf einem großen Schiff gefahren war.

Kaum anders erging es Méi, aber sie konnte ihre Aufregung, ihre Unsicherheit wesentlich besser verbergen als der Boy. Sie versuchte, dies alles mit einem unergründlichen Lächeln zu überspielen und ließ sich ihre Nervosität äußerlich kaum anmerken.

Es war eine Sensation an Bord des Klippers, der durchweg mit britischer Besatzung fuhr, dass Chinesen mit an Bord waren, die zudem noch für ihre Passage nach Kanton bezahlten. Natürlich wusste man, dass dies komplett über Clennam & Sons lief, trotzdem war es ungewöhnlich und eine Premiere.

Man bekam zwei Kabinen mit Verbindungstür zugewiesen, normalerweise war es so gedacht, dass Méi einzeln untergebracht wurde und die Männer sich eine Kabine teilten, doch das regelten Arthur, Méi und Cha-Dong unter sich natürlich komplett anders. An Bord der Eastern Star wusste man nicht, welche Position die schöne Chinesin tatsächlich bekleidete, und Arthur war auch der Meinung, dass das nicht unbedingt an die große Glocke gehängt werden musste. Engländer, Europäer überhaupt, legten gegenüber leichten Damen gerne völlig andere Maßstäbe an, als es in China der Fall war.  

Arthur hatte genügend Zeit auf See verbracht, um zu wissen, in welcher Stimmung Matrosen nach langer Fahrt waren und dass man dann schnell eine Prostituierte, auch wenn diese noch so hoch angesehen in ihrem Land war, als Freiwild betrachten würde. Wie gesagt, es herrschten raue Sitten auf See und ganz sicher festgefahrene Ansichten bei Männern aus Europa.

Von Seekrankheit, Stürmen und anderem Unbill hatte Arthur seinen Reisegenossen vorläufig nichts erzählt, er hatte sie nicht noch zusätzlich versunsichern wollen, zudem nicht gewiss war, ob derartige Unwegsamkeiten überhaupt auftreten würden. Es konnte durchaus sein, dass die Überfahrt sehr angenehm und ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen würde.

Dieser Klipper hielt sich mehr in ständiger Küstennähe im Südchinesischen Meer und legte in Fuzhou einen Zwischenstopp ein, und nicht auf Formosa. Vielleicht war es diese gewählte Route, die dafür sorgte, dass man in keinen Sturm unterwegs geraten war und einen sehr ruhigen Reiseverlauf hatte.

In Fuzhou nahm die Eastern Star außerdem exotisches Holz und Naturfirnis (Anm.: natürlicher schwarzer Lack, der damals in dieser Gegend hauptsächlich gewonnen wurde) an Bord.

Der Rest der Reise bis Macao verlief ebenso unspektakulär, sah man einmal davon ab, dass Méi das eintönige, durchweg wenig schmackhafte englische Essen auf dem Schiff nicht mochte und es auch nicht gut vertrug. Sie hatte während der tagelangen Überfahrt sicherlich etliche Pfund an Gewicht verloren, was sie noch zarter und durchscheinender wirken ließ.

Arthur wollte zunächst in der portugiesischen Enklave Quartier nehmen, da es unsicher war, ob und wo man auf den Inseln vor Kanton eine entsprechende Unterkunft finden würde. Da Arthur ja ein wenig Portugiesisch konnte - Senhor Campos-Fuentes sei Dank! - und man in Macao auch mit Englisch recht gut durchkam, war das fürs Erste die denkbar beste Lösung.

Macao war ein für chinesische Verhältnisse vergleichsweise gut entwickeltes portugiesisches Hoheitsgebiet, mit Hafen, Niederlassungen wichtiger Handelsorganisationen und Gasthäusern. Das kam den Reisenden nun zugute. Sie fanden ein ansprechendes Gasthaus, mit sauberen Zimmern und einem netten Gastwirt. Doch zuerst steuerten Cha-Dong und Méi mit Arthur im Schlepptau eine chinesische Garküche an, denn sie waren regelrecht ausgehungert nach traditionellen chinesischen Gerichten.

Die Verständigung auf Kantonesisch war äußerst kompliziert, aber mit viel Gestikulieren konnte man deutlich machen, was man gerne essen wollte. Arthur hantierte mittlerweile überaus geschickt mit den Stäbchen und futterte nicht ganz gentlemanlike mehrere Schalen Fisch, Gemüse und Reis. Erst als sein Magen sich protestierend meldete, legte er die Stäbchen seufzend beiseite.

Der kantonesische Koch war sehr erstaunt darüber, dass ein Gentleman aus Europa mit großem Appetit zulangte und zudem die Stäbchen ebenso gut wie jeder Chinese handhabte. So etwas kam ihm selten unter, weswegen er auch mit breitem Grinsen die leeren Schalen beiseite räumte.

Am nächsten Tag wurde Arthur bei der Königlich-Portugiesischen Handelsgesellschaft vorstellig, um in Erfahrung zu bringen, wie man am besten von Macao zu den Inseln vor Kanton kommen konnte, insbesondere nach Heung Gong Tsai, wo die BOK das kleine Büro unterhielt.

Er wurde darüber informiert, dass er sehr wohl einheimische Boote gab, die die Überfahrt machten, ansonsten würde man warten müssen, bis ein portugiesisches Boot mit diesem Ziel ablegte, was jedoch vom Zeitpunkt her ungewiss war.

Mit äußerst gemischten Gefühlen suchten sie sich im Hafen von Macao eine Dschunke, die gegen ein saftiges Entgelt, das an Wucher grenzte, bereit war die drei dorthin mitzunehmen. Mit ihrem Shanghai-Chinesisch war das kein leichtes Unternehmen, da man Gefahr lief, gründlich missverstanden zu werden. Arthur fand das gesamte Unterfangen zu risikoreich, aber Cha-Dong, der sehr euphorisch war, seit er diese Reise hatte antreten dürfen, war überzeugt davon, dass man die richtige Dschunke erwischt hatte.

Nach einer sehr unruhigen und schaukelnden nächtlichen Fahrt, ohne eine Kabine zu haben, sie hatten teils im Sitzen ein wenig geschlafen, kamen sie wundersamer Weise genau da an, wo Arthur gut ein halbes Jahr zuvor an seinem Geburtstag mit der Knighthood angelegt hatte. Sogar der Angestellte im Büro der BOK erinnerte sich noch an ihn und begrüßte ihn mit einigem Erstaunen, letztlich aber sehr freundlich.

Daher kam Arthur auch gleich zum Kernpunkt seines Besuches, nämlich dem Ansinnen, hier zukünftig einen Handelsplatz, einen Anlaufpunkt und möglicherweise eine Niederlassung von Clennam & Sons aufbauen zu wollen.

„Mr. Clennam, vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen da wenig Hoffnung machen kann. Es gibt keine erschlossenen Transportwege, außer den gängigen Schiffsrouten, über Land hat es außer den großen Karawanen der Seidenstraße kaum jemand gewagt, Güter aus China nach Europa zu transportieren. Und der Landweg von Shanghai nach Kanton ist wenig erschlossen, zudem würde es eine halbe Ewigkeit dauern, Waren auf diesem Weg hierher zu bringen, um sie dann einzuschiffen. Bleiben Sie mit ihrer Seide in Shanghai, auch wenn es für die Schiffe ein weiterer Weg ist.“

Doch Arthur blieb hartnäckig und setzte nach: „Was ist mit Waren, die hier in Kanton hergestellt werden?“

„Mr. Clennam, außer etwas Gemüse, das in Europa niemand essen würde und Reis, den man auch in der Mitte Chinas bekommt, gibt es nichts, was sich lohnen würde zu exportieren.“

„In Fuzhou haben wir edle Hölzer und Lackfirnis geladen, beispielsweise.“

„Fuzhou ist die halbe Strecke nach Shanghai, Mr. Clennam.“

„Ich weiß. Trotzdem möchte ich darum bitten, zwei Maulbeerbäume hier auf der Insel pflanzen zu dürfen, um zu sehen, ob sie in diesem Klima gedeihen und man somit eine weitere Produktion hier im Süden aufbauen könnte.“

„Das können Sie gerne tun.“

„Danke. Und haben Sie eine Ahnung, ob ich hier ein Haus mieten oder kaufen kann?“

Der Angestellte der BOK beugte sich ein wenig vor: „Ein Haus? Wozu, wenn ich fragen darf?“

„Ich habe vor, hier mit meinem Diener und m… dessen Schwester den Winter zu verbringen und ein wenig das Terrain zu sondieren.“

„Ah, ich verstehe. Da verweise ich Sie an Gong-Wa, eine Art Großgrundbesitzer hier, er besitzt etliche nette Häuser in den Bergen der Insel, die er gelegentlich an Leute vom Festland vermietet, bestimmt lässt sich da was machen. Sie müssen jedoch damit rechnen, dass er sie ordentlich über den Tisch zieht, die Chinesen hier im Süden sind überaus geschäftstüchtig.“

„Ja, das haben wir bei der Fahrt mit der Dschunke von Macao hierher bereits gemerkt. Und danke, dass Sie mir Gong-Wa empfohlen haben. Wo finde ich ihn?“

„Sie müssten sich eine Rikscha nach oben nehmen, es gibt nur eine Straße dort hinauf, und auf der rechten Seite hat er ein größeres Anwesen, das kann man nicht verfehlen. Der Rikscha-Fahrer wird ihn ohnehin kennen.“

„Herzlichen Dank. Sie haben mir sehr geholfen, auf Wiedersehen.“

Mit Hilfe des Rikscha-Fahrers, der sich ungemein angestrengt hatte, um Arthur auf halbe Höhe des Berges zu bringen, konnte Arthur sich halbwegs verständlich machen, da dieser Gong-Wa sogar ein paar Brocken Englisch konnte. Er ging mit Arthur nur unwesentlich weiter, mehr links von der Straße, kaum höher auf dem Berg, und präsentierte ihm ein Anwesen, das selbst seines Vaters Haus in Shanghai beinahe in den Schatten stellte.

Es war ein unglaublich schönes Haus, überaus idyllisch gelegen, mit einem sensationellen Blick über fast die gesamte Insel. Arthur klappte förmlich die Kinnlade herunter beim Anblick des tempelähnlich erbauten Gebäudes. Wie kam es, dass dieser Chinese derartige Häuser besaß? Wahrscheinlich hatte er diese geerbt, mutmaßte Arthur nachdenklich. Das Anwesen zu mieten hatte allerdings seinen Preis!

Sein Geld, vor allem in Silber und Gold angelegt, hatte er bei der BOK einer entsprechenden Anweisung aus Shanghai gemäß deponiert. Arthur war ein gewissenhafter Buchhalter und kalkulierte stets äußerst präzise. Für das Haus hatte er eine bestimmte Summe veranschlagt, und wenn diese nun überschritten wurde, musste man wohl oder übel Einsparungen an anderer Stelle vornehmen. Cha-Dong würde nicht begeistert davon sein, dass er zunächst einmal die alleinige Hilfskraft im Haus sein würde, aber einen weiteren Boy oder einen Koch würde man sich vielleicht gar nicht leisten können. Arthur fragte sich angesichts dieser aufkeimenden Probleme gerade ernsthaft, ob Méi kochen konnte. Notfalls würde sie es eben lernen müssen. Und er selbst war sich auch dafür nicht zu schade, er hatte es sich auf See ja auch aneignen müssen.

Lächelnd stellte er sich vor, wie er und Méi gemeinsam in der Küche werkelten, während Cha-Dong sich Haare raufend darüber beklagte, dass man so arm sei, dass schon die Herrschaft selbst in der Küche stehen musste. Wahrlich ein herber Prestigeverlust für den bedauernswerten Cha-Dong.

 

End Notes:

 

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Kapitel neununddreißig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig
Gong-Wa – Vermieter eines chinesischen Hauses auf der Insel Heung Gong Tsai

Weiterhin der neue Koch, kantonesische Handwerker

Orte: In einem Gasthof in Macao, im gemieteten Haus auf der kantonesischen Insel Heung Gong Tsai

Glossar:
Feng-Shui – Eine der fünf großen praktischen Künste des Daoismus (die Kunst und Wissenschaft vom Leben in der Harmonie mit der Umgebung)
Huanying dàjia – chinesich: Herzlich Willkommen!
 

 

Gong-Wa hatte großzügig die Erlaubnis erteilt, dass Arthur auf dem weitläufigen Gelände des Hauses die beiden Maulbeerbäume anpflanzen durfte, außerdem wollten Arthur, Méi und Cha-Dong endgültig von Macao nach Heung Gong Tsai übersiedeln, nachdem man den Mietpreis des Hauses ein wenig hatte herunterhandeln können. Das passte Arthur nun deutlich besser ins Budget und so wurde der Handel perfekt gemacht. Am Tag nach der Einigung mit Gong-Wa über das traumhaft schöne Haus setzte Arthur auch die Maulbeerbäume.

Möbel waren leider Gottes größtenteils nicht vorhanden, es war auch nur ein winzig kleines Bett im Haus, was Arthur gewaltig störte, da er mittlerweile sein überdimensioniertes Bett gewohnt war. Für ihn allein wäre es nicht schlimm gewesen, aber da Méi dabei war, ging das mit so einem kleinen Bett natürlich nicht. Auch für den Wohnbereich, das Arbeitszimmer und so etwas wie ein Bad brauchte man Einrichtungsgegenstände.

Sie schipperten wieder zurück nach Macao, dort sahen sie sich in den Schreinereien um und kauften einige Möbelstücke. Das kleine Bett im Haus erhielt Cha-Dong, der wiederum aufgrund dessen strahlte wie ein Honigkuchenpferd, aber ein Bett, das Arthur gefiel gab es nicht, es musste extra ein neues angefertigt werden. Ebenso Matratzen, was sich als sehr schwierig erwies. Also entschieden sie sich schweren Herzens, bis zur Fertigstellung dieser Dinge im Gasthaus in Macao zu bleiben.

Arthur war das gar nicht recht, es war so nicht vorgesehen gewesen. Er nutzte aber den Aufenthalt in Macao, um einen Koch einzustellen. Eine Küche gab es im neuen Haus, zumindest das, was so ein chinesischer Koch benötigte, um Essen zuzubereiten. Eine Feuerstelle, einen Spülstein mit Pumpe, Regale und Tische waren da. Ein paar Töpfe und Woks würde man brauchen und mitnehmen müssen, ebenso Geschirr. Aber dafür hatte Cha-Dong zu sorgen, der sich alles schon eifrig gemerkt hatte, da er ja leider kaum lesen und schreiben konnte.

Noch während man in Macao logierte, zog Méi sich von den beiden Männern zurück, da sie – wie ja zu erwarten gewesen war – ihre Blutung bekam. Es war das erste Mal, dass Arthur dies bewusst mitbekam, auch wenn er völlig von ihr ausgeschlossen wurde und sie nur kurz an der Zimmertür zu sehen bekam, da sie alleine und für sich bleiben wollte und Arthur somit notgedrungen für einige Tage bei Cha-Dong unterkam.

Er fand das alles sehr befremdlich und verwirrend, aber er sagte nichts und fügte sich in die Unabänderlichkeiten. Er musste froh sein, dass sie überhaupt diese Reise mit ihm hatte unternehmen dürfen. Da war es zu verschmerzen, dass sie sich für kurze Zeit voneinander trennen mussten.

Während Méi also im Hotelzimmer ruhte, brachten Arthur und Cha-Dong die ersten Gegenstände hinüber in das Haus auf der Insel. Es wäre ohnehin keine Arbeit für Méi gewesen und so machte es nichts, dass sie davon ausgeschlossen war.

Außerdem hatte Arthur verblüfft festgestellt, dass er zu Hause in England bei dem wenigen Chinesisch-Unterricht, den er vor seiner Abreise erteilt bekommen hatte, Kantonesisch gelernt hatte. Nach und nach fiel ihm dies nämlich auf, und er hatte sich in Shanghai gewundert, dass er dort ganz von vorne mit dieser Sprache hatte beginnen müssen. Hier unten im Süden merkte er nun, dass ihm die paar Wörter und Begriffe, die man ihm mühselig in London eingetrichtert hatte, zumindest an diesem Ort Sinn machten. Woher hätte man aber auch wissen sollen, dass Chinesisch nicht gleich Chinesisch ist!

Arthur fand, dass es ein Gutes hatte, dass Méi einige Tage zurückgezogen gelebt hatte, denn nun konnte er sie in das fast vollständig eingerichtete Haus auf dem Berg bringen und es würde eine große Überraschung für sie sein. Er freute sich schon auf ihr Gesicht, wenn sie dort Einzug halten würden.

Sie legten also in Heung Gong Tsai an, Arthur, Méi, Cha-Dong und der kantonesische Koch, und stellten erfreut fest, dass es einen Maultierkarren gab, der sie den Berg hinaufbringen und dann auch das restliche Gepäck hoch zum Haus schaffen würde. Das war sehr erfreulich, denn es hatte Arthur schon davor gegraust, das wiederum mit Rikschas bewältigen zu müssen. Aber der gute Gong-Wa hatte alles perfekt organisiert, was kaum verwunderte bei der immensen Menge Geld, die Arthur ihm überreicht hatte.

Cha-Dong hastete als Erster die letzten Stufen zum Haus hoch, riss dienstbeflissen die Eingangstür auf, schaute sich erst um, ob auch alles gemäß Feng-Shui eingerichtet war und ließ dann Arthur und Méi eintreten: „Huanying dàjia!“

Lächelnd traten sie ein und Arthur führte Méi herum. Der Koch schlich hinter ihnen ins Haus und begab sich still, ohne viel Aufheben zu machen, in sein Reich, denn er war sicher, dass die Herrschaft in Kürze ein Dinner zur Feier des Einzugs aufgetischt haben wollte.

Méi blühte mehr und mehr auf, nun, da sie nicht mehr in ihrer Heimatregion zugegen war und nicht mehr direkt reglementiert wurde. Hier in Kanton würde es niemand bemerken, wenn sie ein paar Regeln übertrat und sich freier bewegte, ihr Leben liberaler gestaltete. Absichtlich wollte sie sich natürlich nicht über die ihr gesetzten Grenzen hinwegsetzen, das würde sie ohnehin niemals tun, nur fand sie plötzlich zu einer vorher nicht gekannten Leichtigkeit und sie war eher bereit, Ausnahmen zuzulassen.

So ließ sie es gelegentlich zu, dass Arthur sie kurz in der Öffentlichkeit berührte. Vor Cha-Dong und dem Koch, die Teil ihrer kleinen, um nicht zu sagen verschworenen Hausgemeinschaft waren, durfte er sie sogar in den Arm nehmen. Nur Küsse blieben weiterhin tabu, wenn jemand zugegen war.

Arthur wusste, dass die Gemeinschaft mit Méi im Prinzip eheähnlich war. Nur mit dem Unterschied, dass der kirchliche Segen fehlte, die rechtlichen Voraussetzungen nicht gegeben waren und aus dieser Verbindung wohl niemals Kinder entstehen würden. In diesem fremden, exotischen Land störte ihn das alles nicht mehr, hier waren Dinge möglich, die es in England auf gar keinen Fall und unter gar keinen Umständen geben würde.

Er sah es als Bereicherung seines Lebens ann, als einen ebenso lehrreichen Abschnitt wie seine Schul- und Ausbildungszeit, nur eben auf einer völlig anderen Ebene.

Er war mit Mitte zwanzig noch jung und eine richtige, eigene Familie konnte er auch später noch gründen. Er sammelte eben Erfahrung - und dies nicht zu knapp! - doch er wusste, dass dies alles nicht für die Ewigkeit gemacht war. Irgendwann würden er und Méi sich trennen, irgendwann würde er zurück nach England reisen. So sehr sie ihm am Herzen lag, so sehr er sie auf bestimmte Art und Weise liebte und verehrte – die ferne Zukunft war nicht Méi. Leider nicht…

Die grünen Hügel Englands und das umtriebige London würden später andere Dinge für ihn bereithalten. Eine nette, sanftmütige Frau, hübsch, aber nicht verzogen, eine lachende, lärmende Kinderschar und ein Tuchgeschäft, dass er sich nach seinen eigenen Vorstellungen umgestalten würde. All das würde er nach seiner Rückkehr in die Heimat in Angriff nehmen. Und darauf freute er sich schon heute, auch wenn all dies noch in weiter Zukunft lag.

Doch momentan lag sein Lebensmittelpunkt in China, seine Aufgabe war es, das Geschäft noch intensiver kennen zu lernen und seinem Vater zur Seite zu stehen. Dazu kam noch Méi, die ihm sein Privatleben versüßte, also war es müßig sich übermäßig Gedanken über England und seine Zukunft zu machen. Er betrachtete die Dinge realistisch, ohne große Beschönigung und das war vielleicht ganz gut so. Ansonsten hätte er vielleicht dazu geneigt sich völlig an Méi zu verlieren, in Liebe zu ihr zu entbrennen, was er – kühlem Kopf sei Dank – jedoch tunlichst vermied.  

Arthur teilte sein Leben in zwei genau portionierte Stückchen ein: Er lebte für die Arbeit, er wollte gerne das Familienunternehmen weiterführen und ausbauen, aber er genoss auch sein Privatleben. Und er wusste, dass sich beides immer leicht die Waage halten musste, sonst war das Leben für ihn nicht lebenswert.

Auch er fühlte sich unglaublich wohl in Kanton, zum ersten Mal in seinem Leben war er wirklich komplett frei und unabhängig, zum ersten Mal war er sein eigener Herr, zum ersten Mal stand er einem eigenen Haus und Haushalt vor. Für ihn ein unglaublich wichtiger Schritt in seiner Entwicklung und er glaubte, dass er dafür ohne die vielfältigen Erfahrungen auf seiner Schiffsreise von England nach China noch nicht reif gewesen wäre. Erst diese Abenteuer hatten es bewirkt, dass er nun völlig auf eigenen Füßen stehen konnte.

Méi hatte er vieles zu verdanken, vor allem seine immer besser werdenden Kenntnisse der chinesischen Sprache, aber natürlich auch die Einweisung in die Freuden der körperlichen Liebe. Er war froh, dass seine Unerfahrenheit auf diesem Gebiet der Vergangenheit angehörte und dass er nun wusste, was sich im Bett zwischen Mann und Frau abspielte. Dass Méi ihm da wesentlich mehr als nur Basiswissen vermittelt hatte, war ihm allerdings nicht so ganz klar. Sie ging dabei nämlich sehr behutsam und schrittweise vor. In Kanton geschah es dann jedoch zum ersten Mal, dass Méi eigene Schwäche zuließ und ihn perfekt darin unterwies, auch der Frau Lust zu spenden und nicht nur auf die eigene körperliche Befriedigung aus zu sein.

Er starrte Méi unmittelbar danach an, als wäre sie ein Wesen von einem anderen Stern: „Großer Gott! Was hast du? Habe ich was falsch gemacht?“

Méi drehte etwas verlegen ihren Kopf weg und schüttelte diesen: „Arthur nix machen falsch. Alles gut.“

„Das sagst du nur so, um mich nicht zu beunruhigen. Also, was ist es?“

Sie wickelte sich in ein Laken, stand auf und entfernte sich vom Bett, ihr Blick schweifte durch das Fenster über die smaragd-grünen Hügel zum Meer, sie konnte und wollte ihm jetzt nicht in die Augen sehen.

„Ist eigentlich nix erlaubt für Qiè. Aber Méi hier sein so weit weg von Shanghai und alles sein so anders.“

„Och, Méi, sprich doch bitte nicht immer so in Rätseln. Ich verstehe überhaupt nicht, um was es geht.“

„Frauen wie Méi sollen nur spenden Lust für Mann. Nix fühlen selbst Lust.“

„Grundgütiger, das ist ein schwieriges Thema, würde ich sagen. Aber wenn es damit zu tun hat, bin ich gerne bereit, es zu erörtern, auch wenn es schon reichlich spät ist.“

„Aber Arthur sollen lernen, geben auch Frau große Lust. Und das nicht gehen, ohne dass Méi… Méi das fühlen.“

Er sammelte sich und sortierte seine wirren Gedanken, dann versuchte er – wie so oft, wenn Méi ihn über komplizierte Sachverhalte aufklärte – das von ihr Gesagte mit seinen Worten wiederzugeben: „Langsam. Wir sind zusammen im Bett, weil es deine Aufgabe ist, mit mir… also, du weißt schon. Und dabei denkt eine Frau wie du üblicherweise stets daran, dass der Mann seiner Lust frönen kann. Das ist soweit richtig, oder?“

Sie nickte stumm.

„Und du sagst, das, was ich vorhin getan habe, hat dich ebenfalls diese Lust fühlen lassen? Und du darfst das aber normalerweise gar nicht fühlen, weil das einmal mehr eines der zahlreichen Verbote in deinem Leben ist?“

Sie nickte erneut.

Arthur fuhr sich mit beiden Händen durch seine wirr vom Kopf abstehenden braunen Haare: „Das heißt, Frauen können genauso stark die Lust fühlen wie wir Männer?“

Ein drittes leichtes Nicken von ihr.

„Was? Und das sagst du mir jetzt erst, nachdem wir mehr als ein halbes Jahr bereits… bereits… das Bett teilen? Méi, warum?“

Sie drehte sich zu ihm um und meinte leise: „Nix gut für Qiè das zu fühlen. Kommen zu nah dem Mann dann. Sein keine Distanz mehr da.“

„Aber… aber du hast mir doch gerade gezeigt, was ein Mann dazu tun kann. Das passt doch nicht recht zusammen.“

„Arthur sollen lernen, Méi müssen zeigen.“

Er holte tief Luft: „Ich habe gerade das Gefühl, der dümmste Esel auf Erden zu sein! Es tut mir sehr leid, dass ich so blöd war anzunehmen, dass nur Männer… also… nur wir… ja, ich bin ein Trottel! Méi, ich finde das ganz wundervoll, dass du mir so viel Vertrauen – du erinnerst dich, es war eines der ersten Schriftzeichen, das ich in Shanghai von dir gelernt hatte – entgegenbringst und eine wichtige Regel missachtest, um mir Dinge zu zeigen, die du nicht einmal verpflichtet wärst mir nahe zu bringen. Du bist ein wahres Juwel!“

Er lachte leicht verlegen und fuhr dann etwas erleichterter fort: „Ich dachte, es wäre ganz was anderes. Aber deine Reaktionen im Nachhinein betrachtet, liebe Méi, führen mich in der Tat zu dem Schluss, dass - meine Güte, ich weiß es nicht einmal in Worte zu kleiden - dass du… dass ich dir höchste Wonnen verschafft habe, ist das richtig? Und jetzt bloß nicht nicken, Pflaumenblüte, sag es!“

Sie kam wieder ans Bett und hauchte: „Ja, sein richtig.“

Arthur schlief schließlich mit einem unerhört zufriedenen Grinsen auf seinen Lippen ein.

 

End Notes:

 

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Kapitel vierzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig
Mr. Baxter – Angestellter der Britischen Ostindien-Kompanie in Kanton

Weiterhin der Koch im Hause Clennam, kantonesische Händler und Schiffer.

Erwähnung finden Gabriel Clennam, Cha-Li, Mrs. Clennam, Mr. Casby und Flora Finching

Orte: Im gemieteten Haus am Peak, im Büro der Britischen Ostindien-Kompanie auf der kantonesischen Insel Heung Gong Tsai, in Gau-Long auf dem kantonesischen Festland

Glossar: ./.

Ein Weihnachtskapitel am Heiligen Abend des Jahres 2009 eingestellt!

 

Arthur war heilfroh, dass man es noch kurz vor Weihnachten geschafft hatte, das Haus beziehen zu können. Sein erstes Weihnachtsfest in China, gleichzeitig natürlich auch das erste Weihnachtsfest für Méi und Cha-Dong. Bei Méi war er sich diesbezüglich nicht so sicher gewesen, denn sie war zuvor bereits bei einem Engländer im Haus gewesen, wo sie auch zum Teil ihre Sprachkenntnisse erworben hatte. Doch Méi sagte, dass dieser Mann letztes Weihnachten schon nicht mehr in China verbracht hatte und abgereist war, zurück nach England.

Lediglich die Tatsache, dass er nicht mit seinem Vater gemeinsam Weihnachten feiern konnte, betrübte ihn nun ein wenig. Es tat ihm in dieser Hinsicht leid, dass er sich für Kanton entschieden hatte und sein Dad nun in Shanghai mit Cha-Li alleine das Fest der Geburt Christi begehen musste. Aber er war sich sicher, dass man im Club eine angemessene feierliche Atmosphäre zu schaffen wusste und hoffte, dass es im Haus in Xujiahu Qu nicht zu kalt und ungemütlich sein würde.

Mit Geschenken hielt Arthur sich vornehm zurück, denn auf der Insel gab es kaum etwas zu kaufen, außer Lebensmitteln und anderen mehr oder weniger nützlichen Kleinkram. Und ständig mit den chinesischen Dschunken nach Macao überzusetzen, war auch sehr mühselig und zeitaufwändig. So wollte er Cha-Dong und seinem neuen Koch lieber etwas mehr Geld in die Hand drücken, die beiden würden sich dafür selbst Sachen kaufen können, die ihrem Geschmack und Bedürfnissen entsprachen.

Wegen des Geschenkes für Méi hatte er lange gegrübelt, da er wusste, dass sie eigentlich keinen sehr großen Wert auf Schmuck und dergleichen legte. Bezahlt wurde sie ohnehin gut, wobei das meiste Geld davon ja ihre Institution in Chuansha einbehielt und für sie verwaltete.

Er wanderte deswegen vom Haus hinunter zum Büro der BOK und fragte dort um Rat.

„Ohne nach Macao zu fahren, wird es schwierig werden, schätze ich mal, Mr. Clennam. Überdies ist Ihr Fall ungewöhnlich, da wir hier ja nur selten jemanden für länger aus unserer geliebten Heimat England beherbergen. Fast alle sind immer nur auf der Durchreise und haben auch ganz sicher keine chinesische Konkubine bei sich.“

„Verstehe. Danke, dass Sie mir so offen Auskunft erteilen, Mr. Baxter. Haben Sie Familie hier, oder sind Sie ganz alleine?“

„Ich bin alleine, in dieser Position und auf diesem Außenposten der BOK ist es kaum ratsam familiäre Bindungen zu haben.“

„Dann darf ich Sie herzlich einladen, mit uns gemeinsam das Weihnachtsfest zu verbringen.“

„Mit Ihnen auf dem Peak?“

„Dem Peak?“

„Oh, so nenne ich den Berg, an welchem Ihr Haus steht, der Einfachheit halber für mich selbst, es ist ja die einzige wirklich große Erhebung auf dieser Insel.“

„Ah, das ist ja eine sehr passende Bezeichnung. Ja, in meinem Haus auf dem Peak, wie Sie so schön sagten.“

„Herzlichen Dank. Sie sind sehr freundlich. Und wegen chinesischer Handwerkskunst kann ich Ihnen nur den Rat geben, hinüber aufs Festland zu fahren und sich dort einmal umzuschauen. Das ist nur ein Katzensprung mit einer Dschunke und nicht zu vergleichen mit der fast ganztägigen Fahrt nach Macao.“

Arthur zog erstaunt seine Augenbraue nach oben: „Auf das kantonesische Festland? Interessant, dieser Gedanke ist mir noch gar nicht gekommen. Ich hoffe, mich mit meinem mehr als bescheidenen Kantonesisch dort verständlich machen zu können.“

„Ja, der Ort nennt sich Gau Long  – das bedeutet ‚neun Drachen’.“

„Sehr gut. Danke. Und wir sehen uns am Weihnachtstag zum Lunch, versprochen?“

„Versprochen, Mr. Clennam.“

In Gau Long, das wirklich schnell und unkompliziert zu erreichen war, auch wenn  die Chinesen dort größtenteils noch nie eine Langnase zu Gesicht bekommen hatten und ihn daher anstarrten, als wäre er einer dieser neun Drachen in Person, fanden sich wahre Schätze an Kunsthandwerk. Arthur hätte jeden Preis dafür ohne mit der Wimper zu zucken gezahlt, aber er wusste, dass das Feilschen zum Geschäft gehörte und ihn zu einer respektablen Person bei den Händlern machen würde, also verhandelte er hart, wenn auch nicht immer ohne Verständigungsprobleme und Missverständnisse, die man ihm aber lachend nachsah.

Zum Schluss hatte er eine Perlenkette, zwei Lacktruhen und eine prächtige, mit Perlmutt besetzte Holzschachtel erstanden, die als Schmuckkästchen für Méi dienen sollte. Darin konnte sie ihr Jade-Armband und auch die Perlen verwahren. Die Lacktruhen würden Teile ihrer Garderobe, vor allem später einmal auf der Rückreise nach Shanghai, und Teile ihrer sonstigen Ausstattung aufnehmen können. Denn das alles passte schon längst nicht mehr in die eine Truhe hinein, die Méi zu Anfang mitgebracht hatte.

Und nun begann Arthur sich doch auf das Fest zu freuen, obwohl er fern von seinem Vater weilte.

Er schrieb diesem einen Brief, der mit dem nächsten Schiff nach Shanghai mitgenommen werden würde. Ebenso schrieb er kurze Grüße in die Heimat, an seine Mutter – und weil Weihnachten war, auch an Mr. Casby und dessen Tochter, sicher nun Mrs. Finching. Dass diese Grüße schlimmstenfalls erst nächstes Jahr zu Weihnachten zu Hause ankommen würden, nahm er als unabänderliche Tatsache hin.

Mr. Baxter kam am Mittag des Weihnachtstages mit einer Rikscha den Peak hinauf, dessen Fahrer gewaltig ins Schnaufen geriet. Es war recht mild in Kanton, Arthur schätzte, dass es in etwa zwischen 15 Grad und 20 Grad sein mussten.

Er hatte Cha-Dong angewiesen, wegen des Feiertages bereits am Mittag alle Kerzen anzuzünden und auch wesentlich mehr, als sonst üblich. So war es im Haus wirklich sehr warm, so dass die Herren in Frack und Krawatte schnell ins Schwitzen kamen.

Arthur versammelte sich mit seinem Gast, Méi und Cha-Dong im Salon, nur der Koch verblieb in der Küche, da er den Lunch zubereitete.

Mr. Baxter dachte sich schon, dass es bei Mr. Clennam im Haus recht zwanglos zugehen würde, er mit seiner Konkubine (ihm war inzwischen klar geworden, dass Miss Méi-Hua unter Garantie nicht die Schwester von Cha-Dong sein dürfte) und dem Boy zu Tisch sitzen würde, deswegen wunderte ihn auch nicht, dass dem tatsächlich so war.

Die beiden britischen Herren nahmen einen Sherry zu sich, den Mr. Baxter freundlicherweise mitgebracht hatte und Méi und Cha-Dong nippten in dieser Zeit an einer Tasse Jasmin-Tee.  

Dann schlug Arthur die Bibel auf, setzte sich in einen Stuhl und las die Weihnachtsgeschichte aus dem Lukas-Evangelium vor. Die beiden Chinesen hörten genau zu, da sie zum ersten Mal mit der christlichen Religion in Berührung kamen. Méi hatte davon zwar ansatzweise gehört, da sie eine umfassende Allgemeinbildung mitbekommen hatte, aber Genaueres wusste auch sie nicht.

Für Cha-Dong war das alles sehr fremd, er konnte keinen Sinn dahinter erkennen, dass eine Jungfrau ein Kind zur Welt brachte, deren Mann nicht der Vater des Jungen war, sondern dieses von einer höheren Macht gezeugt worden sein sollte, von ganzen Heerscharen von Engeln mal völlig abgesehen. Und dieser König der Juden – da fragte sich Cha-Dong sofort, warum es nicht der König der Christen war, er kapierte ab da gar nichts mehr, was natürlich auch an seinen schlechten Englischkenntnissen lag – warum wurde dieser in einem schmutzigen Stall geboren, zwischen Tieren? Ein komisches Völkchen, diese Christen!

Méi fand die Geschichte sehr schön, es gab ähnlich wundervolle Geschichten über Buddha und über andere in China, vor allem im Daoismus, verehrten Götter. Sie erkannte, dass jede Religion über Begebenheiten verfügte, die sich im Laufe vieler Jahrhunderte zu Mythen und Legenden, zu einem Konglomerat aus Dichtung und Wahrheit, vermischt hatten. Und manchmal waren vor allem die monotheistischen Strömungen voneinander gar nicht so verschieden.

Nach der Lektüre der Weihnachtsgeschichte überreichte Arthur die Geschenke. Cha-Dong klimperte fröhlich mit den Münzen, die er in einem Beutel überreicht bekam. Na, wenn das bei den Christen immer so großzügig gehandhabt wurde, hatte er natürlich nichts gegen deren komisches Weihnachtsfest einzuwenden. Außerdem wurde ein reichlich bemessenes Festessen aufgetischt, der Koch hatte sich am frühen Morgen bereits an die Zubereitung der vielen Speisen gemacht.

Da ein Gast anwesend war, beließ es Arthur bei einem sanften Druck auf Méis Unterarme, als er ihr die Kette in der Perlmuttschachtel überreichte.

Als Méi diese öffnete, entschlüpfte ihr jedoch ein kleiner, nicht zu unterdrückender Schrei, dann sagte sie leise und sehr bemüht um korrekte englische Satzstellung: „Das s… ist ein schönes Geschenk. Méi… ich danken Arthur von ganzem Herzen.“

„Es sind noch neue Truhen da, damit du nicht immer alles in eine Kiste stopfen musst.“

„Noch mehr Geschenke? Haben Méi… Verßeihung, habe ich gar nicht verdient.“

„Wenn es jemand verdient hat, dann du.“

„Danke.“

Der Koch kam aus der Küche geschossen und meldete, dass man nun essen könne, was Arthur rasch dazu veranlasste, dem Mann seinen extra Geldbeutel zu überreichen. Dann setzte man sich an den Tisch, wo Cha-Dong servierte und gleichzeitig an der Mahlzeit mit teilnahm, was ihn gehörig ins Schwitzen geraten ließ.

Sie ließen sich das üppige, überwiegend chinesische Essen munden und verbrachten einen sehr angenehmen Nachmittag miteinander, der noch in einer netten Teestunde endete. Dann rauchten Mr. Baxter und Arthur gemeinsam eine Zigarre, bevor der Gast sich endgültig verabschiedete.

Méi und Arthur zogen sich sehr früh an diesem Abend in ihr Schlafzimmer zurück, da Arthur vorhatte, die Perlenkette sehr ausgiebig an Méis nacktem Körper zu bewundern.

End Notes:

 

Ein Bild zu diesem Kapitel im Forum.

Kapitel einundvierzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig

Weiterhin der Koch im Hause Clennam, Kantonesen

Erwähnung finden Mr. Baxter und Martin Brown

Orte: Im gemieteten Haus am Peak, am Strand der Insel Heung Gong Tsai, im Ort der Insel

Glossar:
Gongxi Facái – chinesisch: Glück und Wohlstand, ein Neujahrswunsch, auf kantonesisch: Kung hei fat choi
Hóng Bao – rote Geldumschläge zu Neujahr
Mah Jongg – Spiel mit 136 Steinen und 68 Symbolen

Ein Kapitel zum neuen Jahr, eingestellt am Silvestertag 2009!

 

Den Jahreswechsel in das Jahr 1827 beging man überaus ruhig, nur Arthur trank nach dem Dinner ein Glas von Baxters Sherry und stieß dann vor dem Zubettgehen noch mit den anderen mit einem kleinen Reisschnaps auf das neue Jahr westlicher Zeitrechnung an.

Viel gespannter war er auf das chinesische Neujahrsfest, das gut vier Wochen später stattfinden würde. Er hatte nun bereits viel davon gehört und aufgrund dessen erwartete er ausschweifende Feierlichkeiten.

Für die Chinesen war das ein unglaublich wichtiges Fest, das man mit allem Brimborium zu begehen schien. So ähnlich wohl, als würde in Europa Weihnachten, Silvester und Ostern auf einmal gefeiert werden.

Er wunderte sich daher auch nicht, dass Cha-Dong frühzeitig mit einem großen Hausputz begann und alle Räume gründlich ausräucherte. Man musste schließlich allen Mief des alten Jahres vertreiben, damit das neue Jahr einen besseren Einzug halten konnte. Er lächelte über den Übereifer seiner Hausgenossen und sah dem geschäftigen Treiben amüsiert zu. Zwischendrin kontrollierte er seine Maulbeerbäume, er hatte Angst, sie würden irgendwie eingehen, doch bislang hielten sich die Setzlinge recht wacker und schienen tatsächlich anzuwachsen.

Vor der Eingangstür und in nahezu allen Räumen schwebten rote Lampions und Papiergirlanden, selbst ins Schlafzimmer hatte einer der Lampions seinen Weg gefunden, was Arthur bei näherer Betrachtung gar nicht mal schlecht fand, obwohl er sich zuerst ausbedungen hatte, dass sein Schlafzimmer von der grell-bunten Dekoration ausgenommen blieb.

Er wunderte sich, woher Cha-Dong diese ganzen Dinge hatte und vor allem schien er einen Großteil seines zusätzlichen Weihnachtsgeldes dafür ausgegeben zu haben. Er hatte anscheinend halb Heung Gong Tsai aufgekauft, noch wahrscheinlich war jedoch, dass der Boy ebenfalls in Gau Long auf Einkaufstour gewesen sein musste. Dieses Schlitzohr! Nein – Schlitzauge, in diesem Fall!

Es würde wiederum nicht ohne ein Festessen abgehen, soviel war Arthur klar und er blickte mit Sorge auf seine nicht mehr ganz so schlanke Figur. Seitdem er in Kanton war und nicht mehr täglich arbeitete, hatte er ganz deutlich an Gewicht zugelegt. Eigentlich war die chinesische Küche ja recht gesund, doch er wusste, dass vieles in heißem Fett ausgebacken und auch viel Süßes gegessen wurde.

Er schielte vom Hauseingang liebäugelnd auf das Meer hinunter. Es gab verschiedene Stellen, wo man baden gehen konnte, nur war es ein klein wenig frisch derzeit für derartige Unternehmungen. Arthur hatte das Gefühl, keinen richtigen Mumm mehr in den Knochen zu haben, seit er das große Abenteuer seiner langen Seereise hinter sich gelassen hatte. Er war träge geworden, auch wenn er nach wie vor viel zu Fuß unterwegs war; er musste sich mehr sportlich betätigen, wenn er nicht regelrecht fett werden wollte.

So packte er sich doch eine Tasche zusammen und ging den Peak hinab bis zum Wasser. Zum Glück war die Sonne zwischenzeitlich herausgekommen und trieb die Temperatur ein wenig in die Höhe. Arthur fühlte sich gerade völlig verzärtelt, das musste sich ab heute ändern! Also sprang er kopfüber in das Gewässer und japste nach Luft, da das Wasser doch kälter war als gedacht.

Nach einem kurzen Moment der Gewöhnung an die Kälte ging es ihm besser und er schwamm ein gutes Stück weg vom Land.

Es war das erste Mal seit Martins Tod, dass er im Meer badete. Ob es hier Haie gab, wusste er gar nicht, es war daher besser, die Augen aufmerksam schweifen zu lassen.

Er spürte aber, wie gut ihm das Schwimmen tat und wie sehr er es vermisst hatte, von der Episode im Yue-See einmal abgesehen. Arthur verausgabte sich regelrecht und kam nach Atem ringend nach einer Weile am Ufer wieder an. Er trocknete sich ab und legte seine Kleidung wieder an, dann setzte er sich einen Moment lang an den Strand auf einen großen Felsbrocken und betrachtete das Meer. Kanton, Heung Gong Tsai und auch Gau Long gefielen ihm ausnehmend gut, sicher auch, weil alles direkt am Meer lag.

Er war rechtschaffen müde, als er nach langem Fußmarsch im Haus ankam, und wunderte sich, dass vor der Küche überall gefüllte Wassereimer herumstanden: „Cha-Dong, was hat das mit den Eimern zu bedeuten? Ist unser Brunnen kaputt?“

„Nix kaputt, aber nix dürfen schöpfen Wasser an letzte Tag in Jahr. Brunnengott müssen ruhen.“

„Gut. Und diese vielen Schalen mit klebrigem Reis? Das zieht nur das Ungeziefer an, was soll das?“

„Opfer an Küchengott. Müssen sein, sonst alles schlecht in neues Jahr.“

„Also, da ihr anscheinend wirklich daran glaubt, meinetwegen. Brunnengott, Küchengott… ich dachte immer, es gäbe hier nur Buddha, so kann man sich täuschen.“

Es gab ein wundervolles Menü, mit Hühnchen und Fisch, wobei Cha-Dong ständig darauf hinwies, dass der Fisch nicht ganz aufgegessen werden durfte, da das chinesische Wort für Fisch und für Wohlstand gleich lautete und man daher den Wohlstand, wofür der Fisch ja quasi stand, nicht ganz vom Tisch verschwinden lassen durfte. Arthur hielt sich mit unterdrücktem Lächeln sehr genau an die Anweisungen, die Cha-Dong erteilte. Dieser fühlte sich ganz groß dabei, er platzte fast vor Stolz, dass er derjenige war, der an diesem Abend die Oberhand hatte, der alles organisiert hatte und auch das große Wort führte.

Etwas nach elf Uhr am Abend, Arthur war sicher an die zwanzig Mal in den letzten Stunden von Cha-Dong nach der Uhrzeit gefragt worden, nötigte er seinen Herrn, Méi und auch den Koch aus dem Haus, wobei jeder einen alten Gegenstand mit hinaus aus dem Haus nehmen musste; einen Gegenstand, der auch draußen verblieb, den man nicht mehr im Haus haben wollte. Dann sauste er schnell zurück und öffnete Türen und Fenster, damit das neue Jahr mit all seinem Glück in das Haus würde hinein können. Draußen begann bereits ein umfangreiches Feuerwerk, das von hier oben ganz besonders prachtvoll aussah. Natürlich hatte auch Cha-Dong vorgesorgt und sich mit einigen Feuerwerkskörpern eingedeckt, die er nun in kindlicher Freude zündete.

Arthur zuckte ein paar Mal ordentlich zusammen, es fehlte nicht viel, und Cha-Dong würde ihnen noch die Bude über dem Kopf anzünden. Aber es passierte zum Glück nichts, alle lachten und klatschten und wünschten sich fröhlich ‚Gongxi Facái’ oder auf Kantonesisch eben auch ‚Kung hei fat choi’, was sich nur unwesentlich anders anhörte.  

Von Méi bekam Arthur ein rotes Papier überreicht, ein ‚Hóng Bao’, wie sie es nannte. Er öffnete es und war ein wenig verlegen, da es Geld enthielt. Doch er dachte sich bereits, dass das eher ein symbolhaftes Geschenk war und zeigte ehrliche Freude. Auch Cha-Dong und der Koch hatten ein kleines Geldgeschenk für Arthur, der es kopfschüttelnd, aber doch gerne entgegennahm. Diese verrückten Chinesen!

Am nächsten Tag, dem ersten Tag des neuen chinesischen Jahres, das Jahr des Hundes, wurde zuerst der Ahnen gedacht, dann ging es zu den farbenprächtigen und ausgelassenen Löwen- und Drachentänzen in den Ort.

Das Haus wurde an diesem Tag nicht gekehrt, da dies gleichbedeutend damit war, dass man das Glück wieder hinauskehren würde. Auch wenn Arthur diese Sitten und Gebräuche sehr fremd waren, so hörte er doch mit Interesse den Erklärungen für das jeweilige Ritual zu und lernte dadurch wieder eine Menge über China.

Dann spielten sie alle lange und ausgiebig Mah Jongg und Wéi Qi - was ebenfalls sehr wichtig für den Neujahrstag war, da es Spiel, Spaß und Leichtigkeit für das neue Jahr reflektierte - bis es Teezeit war.

Zum Tee wurden wiederum sehr süße Sachen gereicht, so dass Arthur beinahe der Mund zusammenklebte und ihm schon die Zähne schmerzten. Er hoffte, dass er sich durch den extrem zuckrigen Kram nicht die Zähne kaputtgemacht hatte, denn bislang hatte er glücklicherweise nie Probleme mit seinem Gebiss gehabt, und das sollte auch so bleiben.

Er hatte keine Lust, sich von einem chinesischen Quacksalber im Mund herumfuhrwerken zu lassen, oder gar einen Zahn zu verlieren, ihn womöglich noch gezogen zu bekommen. Der bloße Gedanke daran ließ ihn erschaudern.

Fünfzehn Tage lang dauerten die Feiern zum chinesischen Neujahr, kaum zu fassen für einen Europäer. In dieser Zeit durfte man sich nicht die Haare schneiden lassen, da das Wort für Haar und das Wort für Wohlstand gleich lautend war.

Inmitten dieser gut zwei Wochen lag am siebten Tag ‚Jedermann’s Geburtstag’, wo all jene Geburtstag feiern konnten, deren genaues Geburtsdatum nicht bekannt war. Das galt im Hause Clennam für den Koch, der den exakten Tag seiner Geburt nicht wusste. Also gab es ein weiteres kleines Fest ihm zu Ehren.

Der letzte Tag war das traditionelle Laternenfest, die vielen Lichter dienten dazu, den Geistern den Weg nach Hause zu weisen. Damit waren die Feierlichkeiten endlich zu Ende und es kehrte wieder ein wenig Normalität in den Alltag ein.

Arthur entledigte sich am Abend seiner Kleidung und ging zu Bett, dabei sagte er zu Méi: „Ganz ehrlich, noch ein Tag mehr und ich wäre geplatzt! Mir passen meine Hosen nicht mehr, die Knöpfe an meinen Westen springen gleich ab und meine Fräcke spannen ganz enorm. Sobald es nun noch ein wenig wärmer wird, muss ich täglich zum Schwimmen gehen, sonst hast du bald einen Fettwanst im Bett liegen.“

Méi strich ihm über seine breiten Schultern und antwortete: „Bilden sich das ein, Arthur sein… du bist nix fett. Immer noch festes Fleisch und Muskeln, sehen gut aus. Ich finden, Arthur… du sehen attraktiv aus.“

Er zog sie auf sich und küsste sie auf die Nasenspitze: „Danke. Du bist eine geschickte kleine Lügnerin, das machst du sehr überzeugend. Aber ich weiß, was ich im Spiegel sehe, und das ist Fakt. Davor verschließe ich meine Augen nicht und ich werde dagegen angehen. Sport, jawohl!“

Sie kicherte: „Fangen an in Bett mit Sport.“

„Nichts lieber als das, meine süße Pflaumenblüte! Das lasse ich mir nicht zweimal sagen.“

 

End Notes:

 

Drei Bilder zum Thema chinesisches Neujahr beim Kapitel im Forum!

 

 

Kapitel zweiundvierzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig

Weiterhin der Koch im Hause Clennam, Mr. Baxter und Passagiere, Offiziere und Besatzung der Knighthood

Orte: Im gemieteten Haus am Peak, auf hoher See im Südchinesischen Meer an Bord des Klippers Knighthood zwischen Kanton und Shanghai, im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: ./.

 

Arthur war sich nicht sicher mit den Maulbeerbäumen. Im Süden Kantons war das Klima sehr beständig, es gab keinen richtigen Winter und er wusste nicht, ob sich die Seidenraupenspinner, die die Maulbeerblätter als Nahrungsgrundlage brauchten, da überhaupt vermehren und somit verpuppen würden. Er schätzte die Lage als nicht sonderlich hoffnungsvoll ein, auch wenn die beiden Maulbeerbäume im Garten des Hauses am Peak soweit recht gut gediehen.

Seine sportlichen Ambitionen hatte er nicht vergessen und er hielt sich mit eiserner Disziplin an sein selbst auferlegtes tägliches Programm: Wanderung vom Peak hinab, Schwimmen, und Wanderung wieder hinauf. Es kostete zwar Zeit, aber davon hatte er ja hier reichlich.

Er hatte Post von seinem Vater aus Shanghai bekommen, der Brief teilte ihm mit, dass ein sehr strenger Winter dort Einzug gehalten hatte, mit vielen Frösten und teils auch Schnee. Cha-Li war aufgrund der bitteren Kälte krank geworden und hatte einen Arzt aufsuchen müssen, da sein Husten gar nicht besser werden wollte. Cha-Dong geriet in helle Aufregung, als Arthur ihm das berichtete und drängte sogleich zur Abreise nach Shanghai, doch Arthur gelang es, ihn zu beruhigen und auf die Zeit um Ostern herum zu vertrösten.

Dieses Jahr wollte Arthur seinen Geburtstag - er wurde fünfundzwanzig - gemeinsam mit seinem Vater und allen anderen feiern. Bis dahin musste er also aus Kanton nach Shanghai zurückgekehrt sein. Und um diese Zeit, Anfang Mai, war es auch dort oben bereits wieder richtig warm.

Auch hatte er sich daran gewöhnt, dass Méi sich völlig vom gemeinsamen Leben zurückzog, wenn ihre monatliche Zeit gekommen war. Die ersten beiden Male war es ihm noch sehr sonderbar vorgekommen, aber danach gehörte es mehr und mehr zum normalen Ablauf ihres Lebens. Arthur fragte sich nur, ob sie das nun in Shanghai weiterhin so handhaben würde, oder ob sie ihn dann wieder für einige Tage verlassen und nach Chuansha gehen würde.

Je länger er in China lebte, vor allem unmittelbar mit Chinesen zusammen, desto mehr Einblick bekam er in deren Kultur und Lebensweise. Er verstand nun viel besser, wieso Méi das alles so regelte, oder besser gesagt, regeln musste. Nichts geschah in China ohne Bedeutung. Das war ein großer Eckpfeiler des Lebens dort. So gut wie alle westlichen Standards verloren hier an Wert, schrumpften zu Unwesentlichkeiten zusammen. Arthur war ein Grenzgänger zwischen der westlichen und der östlichen Welt und es gab Tage, an denen wusste er nicht mehr so genau, wohin er eigentlich gehörte.

Doch tief in seinem Inneren wusste er, auch wenn er noch so lange in China weilen würde, noch mit hundert anderen Chinesen in einem Haus leben würde, noch so oft mit einer Chinesin das Bett teilen würde – er war ein Brite! Er würde Heimweh bekommen, erst nur ein klein wenig, kaum spürbar, dann immer mehr und immer öfter. Er war wesentlich tiefer mit seiner Heimat verwurzelt, als er angenommen hatte.

Ostern stand bevor und Arthur bereitete die Rückreise nach Shanghai vor. Mit dem ersten Klipper nach Ostern würde man zurückfahren, um hoffentlich rechtzeitig zu seinem Geburtstag Shanghai zu erreichen. Es könnte unter Umständen knapp werden, falls sich unterwegs Schwierigkeiten ergeben sollten.

Mit Mr. Baxter in der BOK war er übereingekommen, seinen Vorgesetzten einen Bericht zu schicken, in welchem er darauf hinwies, dass es für das Vereinigte Königreich nur von Vorteil sein würde, eigenes Territorium im südlichen Kanton zu besitzen. Für die Schiffe auf großer Fahrt war es besser und für eine eventuelle Ansiedlung sowieso. Eine Ausweitung der Geschäfte der BOK auf diese Inseln vor Kanton würde großen Nutzen bringen, völlig unabhängig nun von jeglichen persönlichen Interessen von Clennam & Sons.

An Ostern selbst spielten sich keine großen Feiern ab. Es gab hier keine christliche Kirche, für einen Ostergottesdienst hätte man am Abend vorher nach Macao übersetzen müssen und bei aller Religiosität und Bekenntnis zur christlichen Konfession hatte Arthur das nicht auf sich nehmen wollen. Daher hielt er es der Einfachheit halber so wie an Weihnachten, er setzte sich hin und las den Abschnitt vom Tod Jesu und dessen Auferstehung aus der Bibel vor.

Die Chinesen waren erneut verwirrt, wieso ließ Gott seinen Sohn unter elenden Qualen sterben und rettete ihn nicht? Und wie konnte der Tote am dritten Tag auferstehen und sich seinen Jüngern zeigen? Das klang alles sehr sonderbar in chinesischen Ohren.

Es war gut, dass Ostern nicht zu spät im Jahr war, die Vorzeichen standen also gut für das Vorhaben, Arthurs Geburtstag in Shanghai begehen zu können. Er grinste nicht schlecht, als Baxter ihm mitteilte, dass die Knighthood  ihr Schiff für die Rückreise sein würde. Ja, es war fast ein Jahr her und dieser Klipper befand sich somit wieder in chinesischen Gewässern, da er derzeit nur zwischen Ostafrika und China kreuzte.

Auch auf der Knighthood war man freudig überrascht, den gleichen Passagier wieder an Bord zu haben, auf der gleichen Passage wie bereits im vergangenen Jahr.

Sie frotzelten über die Vorkommnisse von damals und hofften, dieses Mal nach Shanghai zu kommen ohne bei einem Sturm auf die Küste von Formosa aufzulaufen. Méi riss verängstigt die Augen auf, als sie die Männer so sprechen hörte. Sie hatte nicht gewusst, dass Arthur beinahe auf der letzten Reiseetappe damals noch Schiffbruch erlitten hätte. Das hatte er ihr wohlweislich verschwiegen.

Was Arthur während der Rückreise auffiel, war die Tatsache, dass er nicht wusste, wann Méis Geburtstag war. Er war Ende Mai des vorigen Jahres in Shanghai angekommen, und einige Tage später war Méi bereits zu ihnen gekommen. Bedeutete das, dass ihr Geburtstag nun auch bald bevorstand? Oder hatte sie ihren Geburtstag etwa gar nicht gefeiert? Er beschloss, sie darauf anzusprechen.

Als sie bei frischem Wind, aber ansonsten sonnigem Wetter an Deck einen Spaziergang machten, brachte er die Sprache darauf: „Hast du mir eigentlich deinen Geburtstag verheimlicht? Ich weiß nur, dass du im Jahr 1805 geboren bist, im Jahr der Schlange. Aber wann? In welchem Monat, an welchem Tag?“

„Müssen du das wissen?“

„Müssen nicht, aber ich würde es gerne. Du weißt ja nun auch, wann mein Geburtstag ist.“

„Ich waren an meine letzte Geburtstag nicht in Xujiahu Qu. Waren in Chuansha.“

„So etwas habe ich mir schon gedacht. Es tut mir sehr leid, dass ich diesen Tag nicht mit dir haben feiern können.“

„Méi… ich sehen, dass sein anwesend in dieses Jahr.“

„Das wäre schön. Wann ist es?“

„Sein in Monat September, Jiu Yuè, wie sagen Chinesen.“

„Gut, ich werde darauf zurückkommen, ganz sicher.“

Sie lächelte und strich sich ihr schwarzes Haar, das ganz vom Wind zerzaust wurde, aus der Stirn: „Ich wissen, dass du das nix werden vergessen. Du nix vergessen solche Dinge.“

„So ist es. Wollen wir hineingehen? Der Wind ist ziemlich unangenehm, hoffentlich gibt es keinen Sturm.“

Méi nickte und trippelte mit den ihr wegen der Lotosfüße so typischen kurzen Schrittchen unter Deck.  

Doch es kam so schlimm nicht, auch wenn in der Nacht alle drei recht seekrank wurden wegen der aufgepeitschten See. Méi kramte in einer ihrer Schachteln und förderte eine Wurzel zutage, die sie den anderen beiden zum Kauen reichte. Das linderte die schlimmste Übelkeit ein wenig, trotzdem war es Arthur unendlich peinlich, dass er sich so schwach vor Méi und Cha-Dong präsentieren musste. Da es den beiden jedoch kaum besser erging, hielt sich seine Verlegenheit ein wenig in Grenzen.

Das Schiff kam alles in allem sehr gut durch das kleine Sturmtief, ohne Beschädigungen oder anderweitige Verluste. Sie lagen nach wie vor auch gut in der Zeit, der frische Wind sorgte sogar für überdurchschnittliches rasches Vorankommen und so legten sie am letzten Tag des Monats April in Shanghai an.

Es war beinahe schon sommerlich warm, zum Glück fehlte zu diesem Zeitpunkt die unerträgliche Schwüle noch, es war eine besser zu ertragende trockene Wärme, die aber vermutlich nicht mehr lange anhalten würde. Mit dem ersten schweren Sommermonsun, den man in Kürze erwartete, würde das drückend-heiße Wetter dann wieder beginnen.

Arthur hatte also noch zwei Tage Zeit, seinen Geburtstag vorzubereiten. Darüber war er recht froh, auch wenn er keine pompöse Feier plante, so wollte er doch den Boys Gelegenheit geben, dafür das Haus herzurichten und in der Küche für entsprechende Vorräte zu sorgen.

Cha-Li war völlig außer sich vor Freude, als die drei Reisenden am Haus in Xujiahu Qu ankamen. So eine überschwängliche Begrüßung hatten sie wahrlich nicht erwartet, auch wenn damit zu rechnen gewesen war, dass sich Cha-Dongs Bruder sehr freuen würde.

Er schrie jedoch sofort das ganze Haus aus Leibeskräften zusammen: „Aaaaaaaiiiiiihhh! Laoyé! Da sie sind! Gekommen endlich! Kommen raus, schnell! Begrüßen Shaoyé und Qiè und Cha-Li Bruder!“

Es war ganz und gar nicht zu überhören, Arthur grinste breit und klopfte dem wackeren Boy kräftig auf die Schulter: „Ja, es freut mich sehr, dich wohlauf zu sehen, Cha-Li, nachdem Vater mir geschrieben hatte, dass du im Winter sehr krank gewesen warst.“

„Alles wieder gut, Shaoyé. Und mächtig freuen, dass alle sind da wieder. Ah, da kommen Laoyé zu begrüßen alle.“

Arthur drehte sich um und sah in das lächelnde Gesicht seines Vaters: „Dad! Wie bin ich froh, dich zu sehen.“

„Und ich bin mehr als froh, euch zu sehen, dich vor allem natürlich. Es waren lange, einsame Monate ohne euch im Haus. Es war mir manchmal so vorgekommen, als hätte ich nur geträumt, dass du aus England angereist warst, hier gelebt und neues Leben hier hereingebracht hast. Es war mir manchmal nach eurer Abreise in den Süden, als hätte das alles gar nicht stattgefunden und ich hätte meinen Sohn tatsächlich auf hoher See verloren. Doch nun weiß ich, dass ich mir das alles nicht eingebildet habe, das tut sehr gut. Wie geht es euch dreien?“

„Lass uns ins Haus gehen, Vater, gemeinsam Tee trinken und wir werden dir berichten.“

„Ja, das machen wir. Kommt herein, ihr Lieben!“

 

End Notes:

 

Vier Bilder für dieses Kapitel zum Thema "Maulbeerbäume" im Forum.

Kapitel dreiundvierzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig
Cha-Dong – Näheres unter Kapitel einundzwanzig
Cha-Li – Näheres unter Kapitel zwanzig
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig

Weiterhin Dong-Wa, Clifford Baxter, chinesische Arbeiter, Rikscha-Fahrer, andere Chinesen

Erwähnung findet ein chinesischer Arzt

Orte: Im nunmehr gekauften Haus am Peak, im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu, in der Clennam’schen Seidenherstellung, am Ufer des Flusses Huangpu

Glossar: ./.

Verdeutlichungen: Der Fluss Huangpu ist etwas mehr als 500 m breit (in Shanghai) und ca. 100 km lang. Der Yangtse ist an seiner Mündung (Nähe Shanghai/Huangpu) ca. 10 km breit und ist der drittlängste Fluss der Welt, nach dem Nil und dem Amazonas, mit 6300 km Länge.

 

So ähnlich wie das erste Jahr in China vergangen war, verging auch Arthurs zweites Jahr dort.

Er und sein Vater hatten Land dazugekauft und die Maulbeerbaum-Plantage vergrößert. Dann hatte man nach und nach begonnen, den Betrieb zu modernisieren. Alte, baufällige Gebäude wurden abgerissen und durch neuere, stabilere und massivere Bauten ersetzt.

Er arbeitete täglich hart mit, nur im Winter, wenn es keine Seidenkokons gab, zog er mit seiner kleinen Entourage nach Kanton, wo er im zweiten Winter das Haus am Peak von Dong-Wa kaufte. Clifford Baxter gehörte dort fast schon zu seiner Familie dazu und die Männer nannten sich mittlerweile freundschaftlich beim Vornamen.

Mr. Baxter machte sich gehörig Sorgen, da die BOK mehr und mehr Opium über Bengalen nach China einführte. Das war den Chinesen gar nicht recht, sie sahen dieser Entwicklung mit großem Misstrauen entgegen. Es schien die Chinesen im Handel mit England sehr zu benachteiligen, denn die chinesische Handelsbilanz hatte sich in den letzten Jahren bereits erheblich verschlechtert. Baxter vermutete, dass man deswegen in absehbarer Zeit bestimmt in großen Streit geraten würde und natürlich hatte er auch Angst um seine Arbeitsstelle.

So gingen fünf Jahre und mehr ins Land, zweimal hatte auch Gabriel Clennam den Winter in Kanton verbracht, und Arthur dachte schon, es würde alles ewig so weitergehen.

Als es in das Jahr 1832 ging, in China das Jahr des Tigers, schlug das Unglück zu. Cha-Dong und Cha-Li schoben sich später gegenseitig die Schuld zu, dass der jeweils andere am Neujahrstag irgendein Ritual nicht ganz ordnungsgemäß durchgeführt haben musste.

Es begann damit, dass das Pony in Xujiahu Qu einging, es starb an einer Kolik und konnte nicht gerettet werden. Dann wurde Gabriel Clennam krank, er bekam ein undefinierbares Fieber und seine Genesung war lange Zeit mehr als ungewiss. Glücklicherweise erholte er sich wieder, dies jedoch erst, nachdem Méi nach einem chinesischen Arzt in Chuansha hatte schicken lassen. Doch am Schlimmsten traf es Arthur während des Sommermonsuns, er hatte nicht lange davor seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert.

Wenn man in Shanghai weilte, ging Méi unabänderlich einmal im Monat nach Chuansha. Davon ließ sie sich auch nach vielen gemeinsamen Jahren mit Arthur nicht abbringen. Nur wenn sie sich im Süden aufhielten, machte sie eine Ausnahme von dieser unglaublich strengen Regelung.

Sie war während einer Schönwetter-Phase aufgebrochen, es hatte seit Wochen nicht geregnet, was sehr ungewöhnlich für Shanghai war. Und ihre Rückkehr hatte sie ebenfalls bei trockenem, sehr warmem Wetter angetreten. Unterwegs jedoch, sie waren gerade dabei, den Huangpu zu überqueren, brach eines der schwersten Unwetter über die Region herein, das man in den letzten Jahren gesehen hatte.

Es traf die Fähre schwer, nicht nur endloser, kräftiger Regen, böiger Wind sowie Blitz und Donner brachen unvermittelt auf die Reisenden auf dem Fluss herein, nein, es wälzte sich plötzlich eine regelrechte Schlammlawine zusätzlich flussabwärts. Es musste einen großen Erdrutsch nicht weit von Shanghai gegeben haben und der Fluss nahm diese Schlamm- und Erdmassen nun auf und spülte sie mit hohem Tempo dem Yangtse entgegen. Niemand auf dem Huangpu hatte auch nur die geringste Chance. Man fand Tage später, nachdem die überaus heftigen Regenfälle aufgehört hatten, etliche Tote unzählige Meilen flussabwärts, nicht alles, dass sie bis in den Yangtse gespült worden waren.

Arthur hatte sich erst nichts gedacht, genau wusste er ohnehin nie, wann Méi zurückkommen würde, doch als ihm der starke Sturm beinahe das ganze Dach abdeckte und es fast überall ins Haus hineingeregnet hatte, begann er sich Sorgen zu machen.

Sie waren bei solch einem Unwetter ja von jeglicher Umwelt abgeschnitten, man konnte das Haus nicht verlassen und niemand wagte sich hinaus. Arthur hoffte, dass Méi nach Chuansha zurückgekehrt war, um Schutz vor diesem massiven Monsun zu suchen. Deswegen war er nur ganz leicht beunruhigt, als sie schon mehrere Tage überfällig war.

Als der Regen jedoch nachließ, trudelten die ersten Nachrichten vom Unglück auf dem Fluss ein.

Cha-Dong war so niedergeschlagen, dass er sich nicht traute, dem jungen Herrn davon zu berichten. Man würde hoffen und beten müssen, dass Pflaumenblüte nicht zu den Opfern gehören würde.

Doch Arthur merkte, dass etwas mit Cha-Dong nicht stimmte und stellte ihn zur Rede: „Was ist los? Du denkst doch nicht, du könntest etwas vor mir verheimlichen, oder? Du läufst den ganzen Tag schon mit einer Trauermiene durchs Haus.“

„Wollen Shaoyé nix machen unruhig wegen Qiè.“

„Wegen Méi? Weißt du etwas? Du rückst sofort raus mit der Sprache, sonst vergesse ich, dass ich dir und deinem Bruder vor sechs Jahren bei meiner Ankunft versprochen hatte, euch nicht zu schlagen und immer gut zu euch zu sein!“

„Ah, bitte nix schlagen Cha-Dong! Sagen. Sein schlimme Sache gewesen am Fluss. Fähre weg durch Monsun und Erdrutsch.“

Arthur wurde blass und stammelte: „Bitte? Was sagst du da? Das… das glaube ich nicht. Ich… ich muss sofort dorthin! Und ausgerechnet jetzt haben wir kein Pony mehr! Ruf mir eine Rikscha, aber schnell!“

„Werden müssen warten, Shaoyé. Nix wissen jetzt. Vielleicht Qiè noch in Chuansha.“

„Cha-Dong, sie sollte schon vor fast einer Woche zurück sein. Vater! Vater…“, er stürzte zum Arbeitszimmer und riss dort die Tür hart auf ohne angeklopft zu haben, „Dad, weißt du etwas von einem Erdrutsch?“

Gabriel Clennam hatte diesen Moment gefürchtet, seit er ein paar Stunden zuvor von der Naturkatastrophe gehört hatte.

Er stand auf und kam auf Arthur zu: „Die Maulbeerplantage ist zwar betroffen, aber es ist nur wenig Restschlamm, sonst ist den Bäumen nichts geschehen.“

Arthur schrie zornig: „Ich rede nicht von der verdammten Plantage! Ich rede davon, dass Méi in dieses Unglück verwickelt sein muss! Ich spüre es. Ich weiß es…“, er brach erschöpft ab, sank auf die Knie und brach in Tränen aus.

„Langsam, langsam. Noch wissen wir gar nichts. Aber da nun der Regen nachgelassen hat, werden wir Nachforschungen anstellen. Sicher ist sie angesichts des schlechten Wetters in Chuansha geblieben. Sie ist doch klug und vernünftig.“

Arthur schüttelte verzweifelt den Kopf: „Sie wird nicht wiederkommen.“

Gabriel Clennam stellte sich neben seinen niedergeschlagenen Sohn und strich ihm kurz über sein braunes Haar: „Du wirst sie suchen gehen, nicht wahr?“

Arthur nickte unter Weinen: „Natürlich, ich brauche Gewissheit. Und ich werde sie finden, meine schöne, bezaubernde Pflaumenblüte. Unter welchen Umständen auch immer. Ich bringe sie noch einmal nach Hause, ein allerletztes Mal!“

Am Ufer des Huangpu bot sich allen, die nach dem Aussetzen des Monsuns gekommen waren, ein Anblick des Grauens. Alles war von der Schlammlawine in eine grau-braune Pampe getaucht worden, die gesamte Uferzone mit jeglicher Vegetation. Der Fluss selbst floss noch immer als gelb-braune, erheblich über die Ufer getretene Brühe dahin. Es würde schwer sein, bei dem Hochwasser die Opfer des Fährunglückes zu finden.

Man vermutete, dass die meisten sehr weit weggespült sein mussten. Es kamen besagte Berichte, dass Leichen auf dem halben Weg zum Yangtse angespült worden wären.

Er suchte, inzwischen gemeinsam mit vielen anderen, die ebenfalls Angehörige oder Freunde vermissten. Die Fähre über den Huangpu war immer übervoll, man transportierte meist mehr Menschen, als zulässig war. Es wurden also viele Personen vermisst.

Zwei Tage dauerte es, dann wurde Méi nicht weit von Shanghai gefunden. Sie war komischerweise eines der wenigen Opfer der Katastrophe, die nicht weit weggetrieben worden waren. Als hätte sie selbst im Tod von diesem Ort partout nicht weggewollt. Arthur erkannte sie zunächst nur dadurch, dass er das Jade-Armband an ihrem Handgelenk erblickte. Ansonsten war sie bis zur Unkenntlichkeit mit Schlamm bedeckt und auch ein wenig aufgequollen vom Wasser.

Wie betäubt, ohne Schmerz zu fühlen, trug er sie so wie sie war zu einer Rikscha und fuhr mit ihr nach Xujiahu Qu.

Mechanisch hob er sie vom Gefährt auf und trug sie ins Haus hinein. Cha-Li stand stumm und fassungslos an der Eingangstür, Cha-Dong dahinter in der Halle. Arthur brachte die tote Méi ins Bad, entkleidete sie so gut es ging, denn sie war sehr starr, und wusch sie dann sorgfältig, eine Prozedur, die Stunden dauerte, wegen des klebrigen, lehmigen Schlammes.

Er aß nichts, er trank nichts, er schlief nicht, er spürte nichts. Bis ihre Haare gewaschen waren, was eine unglaubliche Anstrengung war, und Arthur der Toten endlich den dunkelblauen, mit Schlangen und Hähnen bestickten Qipao anziehen konnte, war fast ein ganzer Tag vergangen.

Dann brach er bewusstlos neben der Leiche Méis zusammen.

 

End Notes:

 

Zei Bilder zur Verdeutlichung der Örtlichkeiten im Forum!

Kapitel vierundvierzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Méi-Hua – Näheres unter Kapitel sechsundzwanzig

Weiterhin der Koch im Hause Clennam und Vikar McBride.

Erwähnung finden Cha-Li, Cha-Dong und ein Sargmacher

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: ./.

 

Er erwachte in seinem Bett und nach ein paar Sekunden der Desorientierung fiel ihm die ganze Tragödie wieder ein und er schrie panisch auf: „Neeeiiin! Wo ist sie? Wo ist Méi?“

Die ruhige Stimme seines Vaters ertönte, den er im Halbdunkel des Raumes gar nicht wahrgenommen hatte: „Ganz ruhig, mein Junge. Sie ist da. Wir haben sie in der Halle aufgebahrt. Der Sargmacher hat sie in einen wunderschönen weißen Sarg gelegt. Die Chas haben am anderen Ende der Halle den Trauer- und Opferaltar eingerichtet.“

„Vater…“, Arthurs Stimme versagte ihm den Dienst.

„Sprich nicht, du bist nicht in der Lage dazu. Lass mich reden. Es tut mir unendlich leid, dass du Méi verloren hast. Ein furchtbarer Verlust, in erster Linie für dich, aber auch für uns alle. Ich fürchte, ich werde dir leider noch mehr Schmerz zufügen müssen und ich tue es besser gleich, damit du alles hinter dir hast: Sie werden Méi mitnehmen nach Chuansha und sie dort beerdigen. Selbst wenn wir eine eigene Grabstätte hier hätten, was derzeit nicht der Fall ist, würde es nicht erlaubt werden, sie hier zu bestatten.“

Arthur nickte stumm, aber halbwegs gefasst, auch wenn er dabei nur stur einen imaginären Punkt an der Decke fixierte.

„Du hast es gehört und auch verstanden, Arthur? Du weißt, was das bedeutet?“

Arthur presste ein leises „Natürlich“ heraus.

„Gut. Du hast den Rest von heute und morgen den ganzen Tag Zeit, dann wird sie abgeholt.“

Ein weiteres Nicken seines Sohnes zeigte Gabriel Clennam an, dass Arthur tatsächlich den Sinn all seiner Worte erfasst hatte. Aber er machte sich Sorgen, denn er vermutete, dass sein Sohn das zwar vom Kopf her alles verstanden hatte, es aber im Herzen noch nicht angekommen war. Das konnte noch zu Schwierigkeiten – welcher Art auch immer - führen.

Er stand auf und trat an das Bett seines Sohnes: „Ich gehe nun und lass dich einen Moment alleine. Aber du solltest an dich denken und versuchen etwas zu essen. Das wäre sehr wichtig für dich selbst. Wenn etwas sein sollte, dann komme bitte zu mir. Ich bin für dich da.“

Arthur konnte abermals nur nicken, dann ging sein Vater.

Wieso das? Wieso hatte der Tod ihn gewaltsam von Méi getrennt? Ja, er hatte gewusst, dass die Verbindung nicht für die Ewigkeit gemacht war, aber dass es auf diese harte, endgültige, nicht wieder rückgängig zu machende Art geschehen war, machte ihn verrückt. Er war zornig auf Méi, die mit ihrer pflichtbewussten Art, immer nach Chuansha zu gehen, das alles heraufbeschworen hatte, er war zornig auf deren Institution dort, die keinen Deut nachgegeben hatte in dieser Frage, er war zornig auf den Fährmann, der trotz des aufkommenden Sturms losgefahren war, er war zornig auf das Wetter überhaupt und auf ganz China!

Und am meisten zürnte er sich selbst, weil er nicht klar und deutlich genug darauf bestanden hatte, dass Méi immer bei ihm im Haus blieb.

Vorsichtig stand er auf und tastete sich aus seinem Zimmer heraus, er fühlte sich noch immer recht schwindelig und er sollte wirklich bald etwas essen, vor allem auch trinken, sein Vater hatte Recht. In der Halle schloss er die Augen, weil er nicht fähig war, sich sogleich den Sarg mit der Toten anzusehen. Ganz langsam öffnete er seine Augen und erblickte das Arrangement. Wenn er den Nerv dazu gehabt hätte, hätte er nun gesagt, dass es sehr gelungen in seinen Augen war, aber er schaute nur in das schneeweiße Gesicht der Toten.

Schritt für Schritt ging er auf den Sarg zu, dort angekommen beugte er sich zu Méi hinunter und hauchte ihr einen letzten Kuss auf ihre kalkweißen, eiskalten Lippen. Dann schossen ihm die ersten Tränen in die Augen und er wandte sich rasch ab.

Wie in Trance kam er in den Salon, wo sein Vater beim Tee saß. Dieser blickte ihn voller Sorge an, denn Arthur kam wie ein Untoter zur Tür herein, mit sehr langsamen, eckigen Bewegungen, einem bleichen Gesicht, starrem Blick, aber geröteten Augen.

„Setz dich hin und trink erstmal einen Tee. Bist du bei ihr gewesen?“

„Ja.“

Mehr sagte er nicht, er nahm jedoch die Teetasse entgegen und rührte geistesabwesend mit dem Löffel darin.

Mr. Clennam wartete geduldig ab. Über kurz oder lang würde Arthur etwas sagen, das wusste er.

Es war gespenstisch still im Haus, man hörte nur das Ticken der Uhr auf der Anrichte. Nicht einmal das sonst immer gedämpft zu hörende Geplappere der Boys und des Kochs war zu vernehmen.

Das war das Erste, was Arthur komischerweise auffiel, daher fragte er danach: „Wo sind die Boys? Ich höre sie gar nicht.“

Seine Stimme klang hohl und ihm selbst äußerst fremd.

„Cha-Dong ist unterwegs nach Chuansha, wie du dir denken kannst und Cha-Li hat es nach dem Einrichten der Halle nicht mehr im Haus gehalten. Er ist wohl zum Tempel gegangen, nehme ich an.“

Wieder herrschte für etliche Minuten fast unerträgliches Schweigen, nur durch das Ticken der Uhr und das gelegentliche Absetzen einer Teetasse auf dem Untersetzer unterbrochen.

Gerade als Arthur zu einem weiteren Satz ansetzen wollte, klopfte es leise an die Tür und der Koch, der als einziger Hausangesteller zugegen war, steckte seinen Kopf demütig herein und teilte auf Chinesisch mit, dass der anglikanische Vikar gekommen sei.

Mr. Clennam antwortete, dass man ihn hereinbringen solle. Es war nach vielen Jahren des Aufenthaltes nicht mehr der Vikar, der Arthur zu Anfang hier ein wenig beigestanden hatte, sondern mittlerweile ein anderer Pfarrer. Aber es war ihm hoch anzurechnen, dass er vorbeischaute.

Vikar McBride kam herein und reichte Vater und Sohn die Hand zur Begrüßung: „Ich hoffe, ich komme nicht allzu ungelegen, aber ich dachte mir, dass Sie vielleicht ein klein wenig Beistand und Trost gebrauchen könnten. Schlechte Nachrichten sprechen sich leider schnell herum.“

„Nehmen Sie Platz, Vikar, und trinken Sie eine Tasse Tee mit uns.“

„Danke, zu freundlich, Mr. Clennam. Dieser Tage hat man keinen leichten Stand hier in China, obwohl es in unserer Gegend um Shanghai noch erträglich ist, aber unsere Landsleute im Süden haben ja sehr unter den chinesischen Machenschaften zu leiden. Waren Sie im letzten Winter wieder in Kanton?“

„Ja, ich war mit meinem Sohn dort, zum zweiten Mal. Es wird schwer sein, das Haus dort zu halten. Selbst der vor einigen Jahren noch sehr freundliche und Geschäften mit den Engländern nicht abgeneigte Dong-Wa hat bereits härtere Bandagen angelegt. Er fordert das Haus nun ständig zurück, unter erheblichen Verlusten für meinen Sohn und mich, natürlich.“

„Ja, es wird vielleicht zu einem Krieg kommen. Was wir zwar nicht hoffen wollen, was aber momentan leider als unvermeidlich angesehen wird. Vieles zerrinnt uns in der Hand. Ich wünschte, wir hätten erfreulichere Themen, über die wir uns unterhalten könnten, aber ich fürchte, dass wir heute kaum über erbauliche Dinge sprechen werden.“

„Das sehe ich ebenso, Vikar.“

„Und nun zu Ihnen, mein Sohn“, er wandte sich an Arthur und drückte dessen Unterarm leicht mit seiner Hand, „es tut mir sehr leid für den persönlichen Verlust, den Sie erlitten haben. Ich habe verstanden, dass Sie und… diese Frau… also dass Sie seit langem miteinander hier gelebt haben. Umso schmerzlicher muss der heutige Tag für Sie sein, Mr. Arthur.“

„Danke.“

Mehr brachte Arthur nicht hervor.

„Mir wurde gesagt, dass mein Vorgänger im Amt hier in Shanghai recht liberale Ansichten gehabt hat, und ich bin da nicht ganz auf seiner Linie, um ehrlich zu sein, aber ich bin als ein Mann Gottes kein Unmensch und kann Ihre Trauer, Ihren Schmerz daher nachvollziehen. Ich sah beim Hereinkommen, dass man für die Verstorbene bereits einen chinesischen Hausaltar hergerichtet hat. Wenn Sie es beide als nicht allzu ungewöhnlich ansehen, würde ich diesen gerne nutzen, um ein kurzes Gebet für Sie und Ihren Vater zu sprechen. Würden Sie mich nach draußen begleiten, bitte?“

Arthur stand auf und schaute auf den erheblich kleineren Vikar hinunter: „Für Méi würden Sie kein Gebet sprechen, Vikar?“

„Mein Sohn, Sie ist nicht unseren Glaubens. Es wäre nicht Recht. Glauben Sie mir, es ist schon ungewöhnlich, dass ich überhaupt an einem chinesischen Hausaltar bete, dieses Angebot habe ich wahrlich noch niemals unterbreitet.“

„Vikar, nicht ich und nicht mein Vater brauchen Ihre Gebete – sie braucht sie! Und wenn sie tausendmal keine Christin war, sie war ein Mensch wie Sie und ich. Und sie hat in jeder Religion, auf jede Weise Respekt verdient, das jedenfalls ist meine Meinung.“

„Ich verstehe, dass Sie aufgebracht sind. Der Schmerz ist zu neu und frisch und übermannt Sie ständig noch. Fassen Sie sich ein wenig und dann werden wir zum Gebet gehen. Sie werden sehen, dass es Ihnen gut tut.“

Mr. Clennam war ebenfalls aufgestanden und hatte Arthur beruhigend eine Hand auf seine Schulter gelegt: „Ich denke, dass das kein schlechter Gedanke ist und es wird uns ein bisschen Trost an diesem unheilvollen Tag sein. Ich danke Ihnen, Vikar, dass Sie so entgegenkommend sind.“

Arthur funkelte seinen Vater böse an, sagte aber nichts mehr. Stumm fügte er sich in die Entscheidung der beiden älteren Männer und folgte ihnen in die Halle.

Dort hörte er sich blechern sagen: „Vikar, sagen Sie mir nur, warum Gott das zulässt.“

Vikar McBride drehte sich zu ihm um und antwortete: „Ich denke, wenn Sie intensiv nachdenken, wissen Sie die Antwort. Nichts geschieht ohne Grund. Und das, mein Sohn, sowohl im christlichen Glauben als auch im Buddhismus oder Daoismus. Und da können Sie mir nun nicht Engstirnigkeit vorwerfen.“

Arthur nickte mit schmerzvoll verzogenem Gesicht: „Ja. Man hat mir Méi genommen, weil mir Gott es ersparen wollte, dass ich mich irgendwann von ihr trennen hätte müssen. Er hat mir die Entscheidung, ja sogar die Aktion an sich, abgenommen. Sehr weise und vorausschauend.“

„So wie Sie es sagen, klingt es sehr verbittert und zynisch, aber Sie haben im Großen und Ganzen Recht. Sehen Sie es als Gnade Gottes an. Sie wussten, dass es keine Verbindung für die Ewigkeit war. Sie wussten, dass Sie irgendwann einmal die Trennung hätten herbeiführen müssen. All das hat Gott Ihnen gewissermaßen durch sein Eingreifen erspart. Ich würde nun in Ihrer augenblicklichen Situation nicht so weit gehen, zu sagen, dass er Ihnen einen Gefallen getan hat, aber wenn Sie alles konsequent bis zum Ende durchdenken, läuft es eigentlich darauf hinaus.“

Arthur liefen bereits jetzt die Tränen in Sturzbächen an beiden Wangen herunter. Er kniete vor dem Altar und barg sein Gesicht in seinen Händen. Dann hörte er Vikar McBride ein Gebet sprechen:

„Lieber Gott, wir bitten dich, sei bei allen, die der Verblichenen sehr nahe standen und den tragischen Tod nicht verstehen können. Sei ein guter Vater für die Verstorbene und gib ihr ein neues Daheim. Schenke uns allen deinen Segen und lass uns in diesen schweren Tagen nicht alleine. Segne uns und hilf dabei, nicht nur unseren Schmerz zu lindern, sondern mache den Schmerz der Welt etwas erträglicher. Wir haben dir dafür unseren liebsten Engel geschenkt. Amen.“

Das war absolut unerwartet und Arthur wagte es, ungläubig über die soeben vernommenen Worte, den Kopf ein wenig zu heben.

Dann gelang es ihm trotz seines Weinens ein „Dankeschön, Vikar“ herauszupressen.

Sie beteten dann noch gemeinsam das Vaterunser, danach verabschiedete sich Vikar McBride von den beiden Herren. Am Sarg blieb er sogar kurz stehen und neigte seinen Kopf, bevor er das Haus verließ.

 

End Notes:

 

Ein Bild dazu gibt es im Archiv

Kapitel fünfundvierzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Clifford Baxter – Näheres unter Kapitel vierzig

Erwähnung finden Cha-Dong, Cha-Li, Méi-Hua, Martin Brown, Sanfte Jade und Yí-Yuè

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: ./.
 

 

Ein Haus trauerte in China ganze siebenundzwanzig Monate um einen Verstorbenen.

Als Méi von Xujiahu Qu nach Chuansha überführt wurde, war Arthur nicht im Haus zugegen. Er war dazu nicht fähig gewesen und hatte einen Spaziergang unternommen. Das letzte, was er gemacht hatte, bevor er zu dem Gang nach draußen aufgebrochen war, war die Platte, die ihm der Steinmetz kurz zuvor gebracht hatte, am Altar niederzulegen. Sie würde mit dem Sarg nach Chuansha gehen und ihre Grabstätte zieren.

Darauf waren die chinesischen Schriftzeichen für Schlange und Hahn zu sehen und darunter stand in Englisch: Ich denke an dich.

Er hatte sich trotzdem so weit wie möglich in Weiß gekleidet, auch wenn er der Beisetzung nicht persönlich beiwohnte. Aus dem Haus Clennam begleitete nur Cha-Dong die Tote auf ihrem letzten Weg. Alles andere wäre völlig unpassend gewesen.

Arthur ging am Fluss entlang, an eben diesem Gewässer, das ihm Méi genommen hatte. Er war sich absolut unschlüssig über seine Gefühle. Sollte er dem Fluss verzeihen oder ihn verfluchen? Sollte er sich in das Unabänderliche fügen oder in tiefsten Depressionen versinken? Sechseinhalb Jahre zuvor hatte er seinen Freund Martin Brown ebenfalls durch einen gewaltsamen Tod verloren, ebenso hatte dies mit Wasser, mit viel Wasser, zu tun gehabt.

War das Wasser sein Schicksal? Deswegen auch das große Pech mit seiner langen Überfahrt damals von England nach China?

Er traute dem nassen Element nicht mehr über den Weg und das traf ihn sehr, da er doch so gerne darin schwamm und sich darin erfrischte.

Und ob man nächsten Winter nach Kanton würde fahren können, war bei der politischen Lage mehr als ungewiss. Überdies – was sollte er auch dort, nun, wo Méi nicht mehr war.

Zurück im Haus, das nun keine Spur mehr von der Tragödie aufwies, nur der Hausaltar blieb noch für längere Zeit erhalten, setzte er sich an den Schreibtisch und verfasste einen Brief an Clifford Baxter in Heung Gong Tsai. Arthur schrieb sich alles, wirklich alles von der Seele, auch wenn es teilweise wirr klang, es war ihm egal, denn als er das Schreiben zuklappte und versiegelte, fühlte er sich zum ersten Mal seit etlichen Tagen etwas leichter.

Zwei Monate später traf Clifford Baxter mit all seinem Hab und Gut in Shanghai ein. Er befand sich in keinem guten Zustand und war heilfroh, dass er aus Kanton herausgekommen war, bevor man die Repressalien auf die Engländer noch weiter verschärfte. 

Aufatmend ließ er sich bei Arthur im Haus auf ein Sofa fallen und seufzte: „Ich sage dir, Arthur, es ist der blanke Horror. Ich bin so froh, dass ich meine nackte Existenz gerettet habe. Sie haben alle Engländer in eine Art Ghetto gezwungen, schrecklich. Man darf sich nicht mehr frei bewegen und vorerst musste die BOK das Büro dort schließen. Es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, dass dies auch in Shanghai passieren wird.“

„Wie bist du hierher gekommen? Sie kontrollieren dort doch auch die Häfen, oder?“

„Besser, du weißt es nicht. Ein paar wohlmeinende Fischer haben mich als Chinesen verkleidet und nach Macao rausgeschmuggelt. Ich kam an Bord einer portugiesischen Brigg unter, die zwischen Macao und Nagasaki in Japan verkehrt und zum Glück in Shanghai einen Zwischenstopp einlegte.“

Arthur lächelte eines der wenigen schmalen Lächeln, die er seit dem Tode Méis gelächelt hatte: „Du bist ja ein ganz gerissener Kerl, Cliff. Gut gemacht.“

„Danke. Doch nun zu dir. Du kannst von Glück sagen, dass mich dein Brief noch erreicht hat, es war unglaublich knapp. Wie geht es dir, mein Freund?“

Arthur schüttelte leicht den Kopf: „Wie soll es schon gehen. Ich lebe. Ich stehe jeden Morgen auf, gehe zur Arbeit, atme ein und aus, unzählige Male am Tag, gehe wieder nach Hause, esse, trinke, schlafe – und das nicht immer gut. Das ist alles.“

„Das hört sich ein wenig besorgniserregend in meinen Ohren an.“

„Muss es nicht. Es geht schon. Es ist schön, dass du da bist, wirklich.“

„Ich fürchte, ich werde dir hier nun fürchterlich auf den Pelz rücken. Ich habe weder eine Arbeit noch ein großes Vermögen. Ein bisschen was habe ich mitnehmen können, ich weiß aber nicht, für wie lange es reichen wird.“

„Wir bekommen das schon geregelt. Ich weiß zwar nicht, wie lange wir hier von der Krise noch verschont bleiben, aber im Haus ist Platz und wir können ja mal sehen, wie du dich beim Seidekochen so machst.“

„Das hört sich genau nach dem an, was ich schon immer machen wollte“

Und über diese Antwort von Clifford Baxter musste Arthur sogar fast ein wenig lachen.

„Falls ich dir nun zu nahe treten sollte mit meiner Fragerei, sag es einfach, aber – wäre es für dich nicht auch langsam Zeit, dich nach einer Ehefrau umzusehen? Du hast die Dreißig überschritten und bist kein junger Hüpfer mehr.“

„Lieber Cliff, wo bitte sollte ich hier eine Ehefrau her bekommen? Ein Ding der Unmöglichkeit. Dafür müsste ich zurück nach England, und das kann und will ich in diesen ungewissen Zeiten meinem Vater nicht zumuten. Ich kann ihn hier nicht allein lassen. Nein, vorerst kann ich hier nicht weg. Und Chinesinnen heiratet man nicht – du kennst die Regel.“

„Natürlich. Daran hatte ich nun gar nicht gedacht. Wirst du nicht einsam sein, so ganz ohne Gefährtin?“

„Für mich kommt vorerst keine Bindung mehr in Frage. Ich… ich fühle mich nicht danach. Und vor allem werde ich mich mit aller Konsequenz an die Einhaltung der siebenundzwanzig Monate Trauerzeit halten. Auch wenn das nun eine chinesische Sitte ist, ich habe sie mir selbst auferlegt.“

„Ich bewundere dich für deine Haltung. Aber es sind ja nur noch gut zwei Jahre, denn fast drei Monate dieser Zeit sind ja bereits um.“

„Ja, das ist richtig. Und lass uns hoffen, dass der Winter hier oben nicht allzu streng wird, da wir die milden Wintermonate in Kanton gewohnt sind.“

„Dann fang’ doch bitte schon mal an Fürbitten zu halten, Arthur!“

Arthur Clennam war deutlich von dem Verlust gezeichnet. Fast seine ganze Unbeschwertheit und Leichtigkeit hatte er dadurch eingebüßt. War es nach dem Tod von Martin Brown nur ein kurzer, heftiger Schmerz gewesen, der bald danach verschwunden und verblasst war, so erholte er sich von der Tragödie mit Méi erheblich langsamer und einige seiner früheren Charakterzüge kamen fast gar nicht mehr zum Vorschein.

Sein Hang zu Abenteuern war ein für allemal verschwunden, seine Spontaneität nur noch in Fragmenten vorhanden. Sein Humor war verblieben, aber er war nicht mehr durch jede Kleinigkeit zum Lachen zu bringen und er schenkte sich selbst und anderen nur noch selten ein breites Lächeln.

Seinen himmelblauen Augen – Himmelssterne hatte Méi sie einst genannt – haftete stets etwas Melancholisches an, es war, als würde er durch andere Menschen hindurchsehen, in eine Welt dahinter blicken.

Er war deutlich in sich gekehrter und nicht mehr so mitteilsam wie früher. Aber er verzweifelte nicht an sich und der Welt, trotz des herben Schicksalsschlages. Es gelang ihm auf wundersame Art und Weise, in allem und jedem die guten Dinge zu sehen und zu erkennen, und das war eine Gabe, für die sein Vater Gott auf Knien dankte. Es hätte sich auch ins Gegenteil verkehren können, nämlich dass Arthur sich völlig dem Leben verschloss, nur noch mit sich selbst haderte und nichts Positives mehr sah. Doch dem war zum Glück nicht so.

Einmal pro Jahr besuchte Arthur Méis Grab in Chuansha, stets in Begleitung Cha-Dongs. Während Cha-Dong Opfergaben bereitete, legte Arthur immer Zweige mit Blüten des Pflaumenbaumes auf die von ihm in Auftrag gegebene weiße Grabplatte. Die Schlange und der Hahn… sie waren brutal voneinander getrennt worden.

Im Herbst des Jahres 1834 war die Trauerzeit offiziell vorüber. Eine letzte daoistische Zeremonie wurde abgehalten und dann entfernte man den Hausaltar. Arthur kam die Halle ohne den Schrein plötzlich ganz fremd vor. Er wickelte sich einen ganzen Tag und eine Nacht lang in seinen dunkelblauen Cheongsam, den er im ersten Jahr von Méi erhalten hatte, und vergoss noch einmal viele Tränen.  

Einige Tage später zwinkerte er Clifford Baxter halb verschwörerisch, halb komisch verzweifelt zu und sagte: „Vielleicht probiere ich es noch einmal mit einer Qiè. Ich werde so schnell wohl nicht weg von diesem verflixten Land kommen und es ist besser, als ständig ein kaltes, verwaistes Bett zu haben.“

„Das ist nicht dein Ernst, Arthur! Das hätte ich jetzt nicht erwartet. Alles, nur das nicht!“

„Es hat keine Eile. Ich sage es nur, damit du dich nicht wunderst, sollte es dann tatsächlich mal soweit sein.“

„Ich glaube, aufgrund der gegenwärtigen Eiszeit zwischen China und England wird es nicht mehr so einfach sein wie vor einigen Jahren noch, eine Konkubine zu finden.“

„Ich bin nicht sonderlich anspruchsvoll. Ich erwarte keine zweite Méi. Ich möchte nur einen Menschen neben mir in der Nacht haben, der mir meine kalten Füße und mein kaltes Herz ein klein wenig wärmen kann. Mehr verlange ich nicht“, er hielt inne und lauschte, seufzte, und rief dann laut, „dein Lauschen ist völlig unangebracht wie auch umsonst, Cha-Li, du brauchst Sanfte Jade nicht zu fragen! Ich will sie nicht, basta!“

„Sanfte Jade?“

„Oh, das war damals die zweite Dame, die mir die Cha-Brüder vorgestellt hatten. Aber sie war mir einen Deut zu perfekt. Sie war sehr – künstlich, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Ja, ich kann es mir denken. Also gehst du selbst dir eine aussuchen?“

„Wenn das so einfach wäre. Man findet diese Damen ja nicht auf der Straße. Ich fürchte, ich muss zu einer Vermittlung, wie das hier so üblich ist. Ich wünschte, es würde sich anders lösen lassen.“

Am Weihnachtstag des Jahres 1834, zweieinhalb Jahre nach dem Tod von Pflaumenblüte, kam Yí-Yuè in das Haus Clennam.

End Notes:

 

Ein Bild zu diesem Kapitel im Forum.

Kapitel sechsundvierzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Yí-Yuè – Silberner Mond, Edelprostituierte/Konkubine
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Clifford Baxter – Näheres unter Kapitel vierzig

Weiterhin Cha-Dong und eine chinesische Mittelsdame

Erwähnung finden Méi-Hua und weitere chinesische Vermittlerinnen.

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu und im Haus der Mittelsdame in Shanghai

Glossar: Xiansheng - siehe Kapitel fünfunddreißig
Xinzhuang - heute Minhang, ein Stadtbezirk Shanghais

 

Arthur hatte sich wochenlang mit der Frage herumgeplagt, ob er sich überhaupt noch einmal eine chinesische Konkubine ins Haus holen sollte, es war ihm lange Zeit ein unbequemer Gedanke gewesen, doch wann immer er in einer Art stummem Dialog Méi mit dieser Frage konfrontierte, meinte er ihre Antwort laut und deutlich zu hören: „Arthur müssen sich nehmen eine Qiè! Ganz unbedingt! Méi nicht wollen, dass Arthur liegen alleine in großes Bett.“

Bis er allerdings diese Stimme Méis in seinem Kopf wirklich akzeptiert hatte, dauerte es eine ganze Weile.

Nachdem er also mit Clifford und mit seinem Vater darüber gesprochen hatte, nahm die Sache konkrete Formen an.

Er wollte keine Frau, die ihn an Méi erinnerte. Das allein war schon nicht einfach, da chinesische Edel-Prostituierte sich alle sehr ähnlich waren. Sie waren eigentlich alle durch die Bank weg ausnehmend schön, jung, hoch gebildet, wohlerzogen und bis zu einen gewissen Grad unterwürfig.

Als er mit dem Anliegen, eine ganz andere Konkubine aufnehmen zu wollen, bei der ersten Vermittlerin vorsprach, schüttelte diese nur den Kopf und sagte ihm sofort, dass es eine solche Frau nicht gäbe.

Arthur war es egal, dann würde er eben nicht mit dieser Vermittlerin ins Geschäft kommen. Es gab noch viele andere, die sich ein Zubrot damit verdienten, Konkubinen an die reiche europäische Klientel zu vermitteln.

Bei der zweiten Anlaufstelle war man bemüht, seinen Vorstellungen ein gewisses Verständnis entgegenzubringen, aber es scheiterte letztendlich daran, dass man dort trotzdem immer wieder versuchte, ihm den gängigen Typus unterzujubeln.

Die dritte Vermittlerin wusste bereits, welchen außergewöhnlichen Wunsch Clennam Xiansheng hegte, derlei Dinge sprachen sich herum wie ein Lauffeuer. Die Dame ahnte bereits, dass sie das Geld einstreichen würde, sie war findig und wusste eine Stelle, nicht einmal sehr weit von Xujiahu Qu, wo man sich diesbezüglich hinwenden konnte. Sie bedeutete Arthur, in zwei Tagen wieder zu ihr zu kommen.

In der Zwischenzeit hatte sie nach Xinzhuang schicken lassen, um dort Yí-Yuè, was Silberner Mond bedeutete, zu verständigen.

Sie war wirklich nicht das, was Chinesen in erster Linie als Idealbild einer Qiè bezeichnen würden. Sie war ein gutes Stück größer als die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen, außerdem hatte man – aus welchen Gründen auch immer – bei ihr früher versäumt, die Füße zu wickeln, so dass sie normal ausgebildete Füße und keine verkrüppelten Lotos-Füßchen hatte.

Ihre Haare waren auch nicht ganz schwarz, insbesondere bei Sonneneinstrahlung fiel auf, dass ein mahagoni-ähnlicher Ton darauf lag, äußerst ungewöhnlich. Und – sie war keine sehr junge Konkubine mehr, die Vermittlerin wusste Arthurs Alter nicht genau, aber sie schätzte, dass er jünger sein musste als Yí-Yuè.

Aus all diesen Gründen war sie keine sehr beliebte, keine sehr oft vermittelte oder mit großer Erfahrung gesegnete Qiè, trotz ihres fortgeschrittenen Alters. Sie hatte den weitaus größeren Teil ihres Lebens in Xinzhuang verbracht, hatte dort im Haus geholfen und sich nützlich gemacht. Nebenbei hatte sie ihre Bildung vervollkommnet, sie sprach Japanisch und gut Englisch, genau genommen sogar besser als Méi, und musizierte exzellent.

Die Vermittlerin teilte Yí-Yuè mit, aus welchem Grund man ausgerechnet nach ihr geschickt hatte. Sie sagte ihr alles über Clennam Xiansheng, was bekannt war, und das war erschreckend vieles. Sie wusste von der Seidenmanufaktur, von den winterlichen Aufenthalten in Kanton, von Arthurs langer und inniger Beziehung zu Méi-Hua und natürlich alles über deren tragischen Tod. Sie wusste, dass es derzeit ein reines Männerhaus war, da draußen in Xujiahu Qu, wo Vater, Sohn, ein Freund des Sohnes, zwei Boys und ein Koch zusammen wohnten, und auch, dass dessen Schwelle seit zweieinhalb Jahren keine Frau mehr überschritten hatte. Es war eine einmalige Chance für die bereits langsam vor sich hinwelkende Yí-Yuè.

Als Arthur kam und ihr vorgestellt wurde, war er sehr überrascht. Einen winzigen Augenblick lang war er geneigt, sie abzulehnen, zu wenig hatte sie in seinen Augen mit einer Konkubine gemein, doch kehrte sich seine Meinung fast ebenso schnell ins Gegenteil. Das war doch eigentlich genau das, was er gewollt hatte! Nämlich, dass sie eben nicht dem gängigen Ideal ihres Berufsstandes entsprach, dass sie völlig anders war als alle anderen chinesischen Prostituierten, dass sie nicht so überirdisch perfekt wie beispielsweise Sanfte Jade war. Und an Méi erinnerte sie ihn auch überhaupt nicht, was noch eine große Sorge von ihm gewesen war.

Er begrüßte sie daher ausgesucht höflich, zuerst in Chinesisch, dann in Englisch: „Miss Yí-Yuè, ich bin sehr erfreut, dass Sie den Weg hierher auf sich genommen haben, vielen Dank.“

Als er ihre Stimme zum ersten Mal hörte, bekam er eine Gänsehaut, etwas, was ihm so noch nie passiert war, denn sie hörte sich nicht so piepsig und schrill an, sie war mehr wie eine sanfte Meeresbrise, die ihn umschmeichelte: „Shaoyé, die Freude ist sehr auf meiner Seite.“

Der Satz war so gut wie perfekt gewesen! Arthur staunte.

Er holte tief Luft und hörte sich dann selbst sagen: „Wenn die Damen einverstanden sind, würde ich nun gerne das Geschäftliche aushandeln.“

Das war seiner Zustimmung gleichzusetzen und er zog sich für ein paar Minuten mit der Vermittlerin zurück. Auch der Preis war deutlich niedriger als der von Méi, was aber Arthur völlig egal war, darum ging es ihm selbstverständlich nicht.

Das Geschäft mit der Vermittlerin war abgeschlossen, Arthurs Chinesisch-Kenntnisse waren zum Glück gerade so ausreichend, um nicht vollends über den Tisch gezogen zu werden. Er fragte noch nach dem Ort, wohin Yí-Yuè sich monatlich hin zurückziehen werde, und hoffte insgeheim, dass es nicht jenseits des Flusses liegen würde, doch er war noch weitaus überraschter zu hören, dass man darauf bei Yí-Yuè keinen gesteigerten Wert legte. Entweder war die Einrichtung um einiges liberaler als die von Méi, oder sie war dort tatsächlich nur von geringem Wert, so dass man bei ihr nicht sonderlich darauf achtete. Arthur war ein wenig verwirrt.

Yí musste es ihm angesehen haben, als er wieder zu ihr trat: „Gab es Probleme? Ich hoffe nix wegen mir.“

Er schmunzelte, ganz perfekt war ihr Englisch also doch nicht!

So beeilte er sich zu antworten: „Nein, ganz und gar nicht. Und wegen Ihnen ganz bestimmt nicht. Wenn Sie möchten, können wir fahren, mein Wagen steht vor dem Haus.“

„Fahren? Wagen? Keine Rikscha?“

„Nein, ich habe einen Wagen mit einem Maulesel, der ist zwar ab und zu ein wenig störrisch, ich wünschte, ich hätte das Pony aus dem Kloster Huzhou noch. Leider ist es vor ein paar Jahren eingegangen und der Maulesel war das einzige Zugtier, das ich hier bekommen konnte. Und ich möchte nicht unhöflich sein, Yí, aber wir Christen feiern heute Weihnachten und deswegen möchte ich gerne langsam den Heimweg antreten.“

„Natürlich, Shaoyé. Gern.“

Unterwegs fragte er sie ein klein wenig aus: „Ich weiß, wie wichtig euch Chinesen die Astrologie ist, und von daher darf ich Ihnen schon einmal mitteilen, dass mein chinesisches Sternzeichen der Hahn ist.“

Sie rechnete blitzschnell und konnte daher flugs antworten: „Dann sind Shaoyé nun wohl zweiunddreißig Jahre alt.“

Er war total verblüfft: „Wie… woher wissen Sie das so schnell, Yí?“

Sie lächelte und sagte: „Sternzeichen kommen erst wieder nach zwölf Jahren. Shayoé sehen leider nicht mehr ganz aus wie Zwanzig. Aber dürfen nicht böse sein, weil ich es gerechnet habe.“

„Ich bin Ihnen doch nicht böse! Ach, vielleicht doch ein wenig, weil Sie sagten, dass ich nicht mehr ganz wie Zwanzig aussehe.“

Sie kicherte nicht und redete sich nicht heraus, wie das vielleicht nun bei einer jüngeren Chinesin der Fall gewesen wäre, sondern schaute ihn offen an und meinte: „Ich sage Wahrheit, weil das gut ist.“

Arthur spürte, dass er es richtig gemacht hatte, er hatte anscheinend einen weiteren Glücksgriff getan.

„Und wie ist nun Ihr Sternzeichen, Yí?“

„Wenn ich das sage, werden Shaoyé ebenso schnell gerechnen und dann wissen, wie alt ich bin.“

„Ja, das steht zu vermuten. Gleiches Recht für alle.“

„Ich bin Drache. Und damit Shaoyé nicht mühsam muss gerechnen, ich sage es: Bin ich drei Jahre voraus!“

Arthur fand das interessant, Méi war drei Jahre jünger als er gewesen und Yí nun war drei Jahre älter. Also - der Drache und der Hahn…

Sie waren am Haus in Xujiahu Qu angekommen und wurden bereits vom Eingang her neugierig beäugt, denn Cha-Dong stand schon dort. Arthur war klar, dass er Yí am kritischsten gegenüberstehen würde, er war auch der Einzige im Haus gewesen, der drei Tage lang nicht mit ihm gesprochen hatte, nachdem er allen die Entscheidung mitgeteilt hatte, dass er wieder mit einer Konkubine zusammenleben wollte. Arthur hatte Cha-Dongs Schweigen tolerant zur Kenntnis genommen, Méi war schließlich damals seine Vermittlung gewesen.

Cha-Dong wusste, er durfte nicht unhöflich gegenüber der neuen Qiè sein, sonst würde er sich bald auf der Straße wieder finden, also fügte er sich seufzend in die neuen Umstände. Aber er würde ein wachsames Auge auf die Neue haben, so viel war er sich selbst und der toten Méi schuldig.

So begrüßte er die Ankommenden zwar ausgesucht höflich, aber wesentlich zurückhaltender als es eigentlich seine Art war. Yí merkte davon nichts, da sie Cha-Dong ja nicht kannte. Aber Arthur bekam es sehr wohl mit und nahm sich vor, zu gegebener Zeit mit dem Boy ein Wörtchen zu reden.

Als sie im Haus drinnen waren, klopfte Arthur an die Tür des Arbeitszimmers, worin sich sein Vater derzeit befand, und bat darum, Yí-Yuè vorstellen zu dürfen. Und er hatte dabei ganz massive Erinnerungen an die gleiche Szene, als er Méi-Hua einst vorgestellt hatte. Die Situationen ähnelten einander ganz ungeheuer. Er wählte, ob bewusst oder unbewusst, das war ihm nicht so ganz klar, sogar fast die gleichen Worte wie damals:

„Dad? Hast du, bevor wir Weihnachten feiern, einen Moment für mich Zeit?“

„Sicher doch. Was liegt denn an?“

„Wir werden ab heute weibliche Gesellschaft haben, wenn es Recht ist. Ich habe Silberner Mond gleich mit hierher gebracht. Darf sie hereinkommen und sich vorstellen?“

„Natürlich, ich freue mich.“

Er winkte Yí heran, die in der Tat ein wenig nervös zu sein schien, daher schenkte Arthur ihr ein aufmunterndes Lächeln.

„Miss Yí-Yuè, wie gut dass mein Chinesisch das noch hergibt und ich in der Lage dazu bin, Ihren Namen richtig zu übersetzen. Wie ich höre, werden Sie uns von nun an mit Ihrer Anwesenheit hier erfreuen?“

„Guten Tag, Laoyé. Danke für freundliches Willkommen. Wenn gestatten, ich werde gute Qiè für Shaoyé sein.“

„Sie sprechen unsere Sprache ausgezeichnet. Und wenn Sie möchten, dann können wir auch gleich zum Weihnachtsdinner gehen, denn ich höre, dass Cha-Li gerade den Gong dafür schlägt. Alles weitere können wir gerne nach dem Essen besprechen, Miss Yí.“

Vor dem Dinner wurde sie noch Clifford Baxter vorgestellt, der sie nett begrüßte, aber eindeutig einen kantonesischen Dialekt sprach, sobald er ein paar Worte in Chinesisch mit ihr wechselte.

Ihr Benehmen war beim Essen soweit untadelig, aber sie meisterte das erste große Dinner längst nicht so souverän wie Méi es getan hatte, da sie viel zu nervös war und viel zu lange schon nicht mehr in den Diensten eines Europäers gestanden hatte. Ihre Hände zitterten stets ein wenig, was beim Löffeln der Suppe sehr hinderlich war.

„Wir haben einige Jahre lang Weihnachten immer im Süden Chinas verbracht, was wir nun bereits zum dritten Mal in Folge nicht mehr können, wegen der politischen Unruhen. Unser Haus in Kanton haben wir leider auch verloren. Also haben wir uns in den letzten Jahren im kalten Shanghai zu einer Männergesellschaft zusammengerottet und warten immer sehnsüchtig darauf, dass es Frühling wird.“

Mr. Clennam gab diese Erklärung in Richtung Yí ab, die verstehend nickte und höflich erwiderte: „Und Seide im Winter auch nicht gemacht wird, so Tage hier sehr lange sind.“

„Ja, genauso verhält es sich. Ich hoffe, Sie stoßen sich nicht zu sehr an den christlichen Ritualen, die sich Ihnen nun gleich eröffnen werden, da das Weihnachtsfest für uns von großer Bedeutung ist.“

„Ich werde zuhören mit Interesse.“´

Sie setzte sich nach dem Essen mit den Männern in den Salon und lauschte ganz einfach den biblischen Geschichten, die jeder von den Herren reihum passageweise vorlas. Als Arthur am Lesen war, fiel ihr ebenfalls seine sehr weiche, und zugleich doch kraftvoll männliche Stimme auf. Er war wirklich ein überdurchschnittlich gut aussehender Mann, und sie war froh, dass sie an keinen alten, fettwanstigen oder sonst wie unattraktiven Dienstherren geraten war. Das war nämlich üblicherweise die Art von Kunden, die für eine Qiè wie sie übrig blieben. Die schönen, jungen Herren nahmen sich natürlich immer auch eine schöne, junge Qiè. Dass sie an diesen jungen Herrn geraten war, war für sie ein kaum fassbarer Glücksfall.

 

End Notes:

 

Drei Bilder in Anlehnung an dieses Kapitel im Forum!

Kapitel siebenundvierzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Yí-Yuè – Näheres unter Kapitel sechsundvierzig

Erwähnung finden Gabriel Clennam, Clifford Baxter, Tan-Fu und Méi-Hua

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: Guan Ying - chinesische Göttin (Buddhismus) für Barmherzigkeit und Güte, kann unserer Jungfrau Maria in etwa gleichgesetzt werden

 

Da Arthur nicht damit gerechnet hatte, dass er am Weihnachtstag bereits wieder eine Frau im Haus haben würde, gab es für Yí kein großes Geschenk. Er hatte in aller Eile in den Stoffvorräten gewühlt und einen Ballen qualitativ hochwertiger Seide in Apfelgrün hervorgezogen. Diese Farbe würde er sehr gerne an Yí sehen, sie sollte sich einen Qipao daraus machen lassen. Diesen Stoff gab er nun Yí, nachdem er seinem Vater eine neue Schreibgarnitur mit einer neumodischen Feder, die aus Stahl mit einem Holzgriff gefertigt war, denn seit kurzem kamen die Federkiele mehr und mehr aus der Mode, überreicht und Cliff eine Kiste Zigarren in die Hand gedrückt hatte.

„Bitte, nehmen Sie das, Yí. Es ist ein Stück von unserer besten Seide und ich finde, diese Farbe müsste Ihnen wunderbar stehen, wenn Sie das daraus gefertigte Kleidungsstück erst einmal tragen.“

Sie schaute ihn mehr als überrascht an, offensichtlich hatte sie mit so etwas gar nicht gerechnet: „Oh… oh… das ist wunderbare Farbe und wunderbare Seide. Wirklich für mich?“

„Ja, oder sehen Sie sonst noch eine Dame hier, Yí?“

Sie lächelte: „Shayoé treiben ein wenig Scherz mit mir. Natürlich ist keine andere Dame hier, meine Augen sind gut.“

„Das habe ich nicht bezweifelt. Und ich würde es bevorzugen, wenn Sie Arthur zu mir sagen würden, bitte.“

„Das recht schwer auszusprechen für Chinesen. Aber ich versuche… Aa… Arthur.“

„Bestens. Es ist Sitte, dass man sich bei uns Christen etwas zu Weihnachten schenkt, ähnlich, wie es ihr Chinesen an Neujahr handhabt. Und die Seide ist mein Geschenk an Sie. Frohe Weihnachten, Yí.“

„Auch wünsche ich das an alle hier. Danke, für Freundlichkeit und Großzügigkeit.“

Arthur zeigte Yí das Haus, den Innenhof, den man im Winter nicht nutzte, den Salon, das Arbeitszimmer, die Flure, die Küche, die Schlafzimmer und den Raum, der als Badezimmer fungierte:

„Diese Wanne hat mir Tan-Fu gebaut, mir war der alte Holzzuber zu klein, darin konnte man nämlich kein Bad zu zweit nehmen.“

Die genaue Bedeutung seiner Worte sickerte erst einen Augenblick später bei ihr durch, sie riss ihre schrägen Augen so weit auf wie es nur ging, starrte ihn an und wurde tatsächlich rot!

Er fand es sehr erfrischend, dass es auch anderen Leuten ähnlich wie ihm erging.

Noch klarer wurden die Dinge im Schlafzimmer. Es wurde schnell deutlich, dass es diesmal fürs Erste eher umgekehrte Verhältnisse sein würden: Er würde mehr der Lehrmeister sein und sie mehr die Schülerin.

Sie war überaus befangen, seit Jahren hatte sie ihren Beruf nicht mehr ausgeübt, sie hatte schreckliche Angst davor, sich zu blamieren und weggeschickt zu werden. Weg aus diesem schönen Haus, weg von den freundlichen Leuten hier und vor allem – weg von diesem prachtvollen Mann!

„Yí, ich flöße Ihnen doch nicht etwa Angst ein? Das würde mich sehr betrüben.“

Sie drehte sich zu Arthur um und schüttelte leicht den Kopf: „Möchte sein ehrlich, wie auf Fahrt hierher schon gesagt. Nicht Angst, aber… ich… ich war sehr lange allein, ohne Gönner.“

„Verstehe. Auch ich habe schon viele, viele Monate lang keine Frau mehr im Bett gehabt. Das haben wir also miteinander gemein. Es gibt für mich genauso viel Grund aufgeregt zu sein wie für dich. Wenn es dir hilft, würde ich vorschlagen, dass wir uns einfach in das Bett legen, noch ein wenig plaudern und die Dinge nicht überstürzen, ja?“

„Ja. Das klingen gut.“

„Schön.“

Er legte sich auf das Bett und zog die Decke hoch, es war kalt im Raum, obwohl ein Kohleofen brannte. Yí kroch neben ihn, und er spürte wie sie zitterte.

Er nahm ihre Hand: „Zitterst du vor Kälte oder vor Nervosität?“

„Vor alles, Arthur.“

„Wieder eine ehrliche Antwort, ich schätze das.“

„Dürfen ich etwas fragen?“

„Aber sicher doch.“

„Warum fahren Arthur einen Wagen mit Maulesel? Sehr ungewöhnlich.“

„Ich bin recht froh drum. Weißt du, ich sehe Rikschas nicht als ideales Transportmittel an, weil es eine Schinderei für die Fahrer ist. Und ich möchte nicht, dass ein Mensch sich so furchtbar abrackert, nur um mich von einem Ort zum anderen zu bringen, wenn es Alternativen dazu gibt. Wenn ich nicht mit dem Wägelchen fahre, laufe ich sehr viel. Ja, ich gehe gerne zu Fuß.“

„Kann ich begleiten Arthur bei Laufen?“

„Wie? Nein, ich laufe sehr lange und sehr weit, das würde dir zuviel werden.“

„Warum?“

„Weil… weil… es war bei… bei deiner Vorgängerin so. Sie konnte nicht sehr weit laufen, leider.“

Er war regelrecht ins Stottern geraten, da er mit einer Konversation über solche Themen absolut nicht gerechnet hatte.

Sie setzte sich ein klein wenig auf und sah ihn an: „Hatte andere Qiè Lotosfüße?“

„Ja. Es war anfangs ein großer Schock für mich, diese absichtlichen Verstümmelungen zu begreifen und damit umzugehen.“

„Meine Füße nicht gewickelt sind.“

„Nicht? Das… das finde ich ganz wundervoll! Dann könntest du ja tatsächlich mit mir spazieren gehen? Gleich morgen, wenn das Wetter es erlaubt? Ja?“

Er setzte einen so bettelnden Blick auf, dass ihr plötzlich sehr warm wurde, trotz der Kälte im Zimmer. Außerdem spürte sie nun auch seine Körperwärme neben sich sehr deutlich.  

Sie nickte und fand sich urplötzlich in seinen Armen wieder. Er drückte sie sanft, aber mit Nachdruck auf die Matratze, streifte mit seinen Lippen erst ihre Stirn, dann ihre Nase und presste schlussendlich seinen Mund auf ihren.

Etliche Zeit später hörte sie ihn noch murmeln: „Yí – ich bin sehr froh.“

Dann schlief sie kurz nach ihm erschöpft ein, der Tag war mehr als aufregend gewesen – und das wohl für sie beide!

Sie erwachte am Morgen alleine in dem großen Bett im Kang-Stil und fragte sich sogleich, wo Arthur sein könnte. Ohne ihn wurde es schnell kalt im Bett. Dann hörte sie seine einzigartige Stimme ganz in der Nähe und wurde neugierig. Sie warf sich schnell einen Qipao und eine grob gewebte Jacke über, öffnete die Tür und ging seiner Stimme nach. Yí vermutete, dass er in dem Raum war, den er ihr am Vortag als das Bad vorgestellt hatte. Und genau hinter dieser Tür hörte sie ihn nun auch deutlich rumoren. Sie klopfte zaghaft.

Arthur summte zufrieden vor sich hin, als er sich eine Ladung Seifenschaum zum Rasieren auf die Wangen schmierte. Dann war ihm, als hätte es leise an der Tür geklopft. Sicher war er sich nicht, deswegen ging er selbst zur Tür und machte diese auf.

Yí stand davor und stieß einen unterdrückten Schrei aus: „Aayyy! Erschrecken mich sehr mit diesen Wolken in Gesicht! Was ist das?“

Er musste lachen: „Aber nicht doch, das ist Seifenschaum, ich bin kein Gespenst! Komm rein, ich zeige es dir.“

Er zog sie am Ärmel ihrer dicken Jacke in den Raum, wo es warm war. Sie legte die Jacke schnell ab und hatte nun nur noch ihren Qipao an. Dann schaute sie fasziniert zu wie Arthur sich rasierte.

Als er fertig war, verblieb noch ein Rest des Schaums an seinen Ohren, seinem Hals und in der Nähe seiner Nase.

„Arthur macht das noch weg?“

Er nickte: „Gleich. Komm her, zu mir, bitte.“

Sie näherte sich ihm. Er stand an der großen Wanne, die mit warmem, dampfendem Wasser gefüllt war. Mit einem Ruck zog er sich das Hemd über den Kopf und schlüpfte ziemlich ungeniert aus der Hose, was sie tief erröten ließ, dann glitt er in das Wasser.

„Möchtest du mit mir baden, Yí?“

Sie wurde noch röter, wenn das überhaupt möglich war, doch sie nickte tapfer.

Äußerst verschämt zog sie den Qipao aus und wollte ganz schnell zu ihm ins Wasser, da hielten sie seine Worte auf: „Warte! Lass dich ansehen, bitte!“

Sie ließ es zu, aber es war ihr sehr unangenehm.

„Du bist wirklich schön. Zwar groß für eine Qiè, aber das macht mir nichts aus, im Gegenteil, ich finde, es hat seinen Reiz. Und nun komm ins Wasser, damit du nicht noch anfängst zu frieren.“

Yí ließ sich erleichtert ins Wasser gleiten und empfand es als puren Luxus. Ein Bad gemeinsam mit einem Mann zu genießen – wie wundervoll!

Sie wuschen sich gegenseitig mit dem Schwamm, wobei sie ihm den restlichen Seifenschaum aus dem Gesicht wischte.

So ausgelassen und fröhlich war Yí seit Jahren nicht mehr gewesen.

Als Arthur aber begann, sich ihr persönlich sehr intensiv zu widmen und sich ihrem Lustzentrum wie selbstverständlich zuwandte, zuckte sie zurück: „Jù! Was da machen?“

Er küsste sie zart und antwortete: „Yí, du bist in meinem Haus, in meiner Obhut. Dir wird nichts Schlimmes geschehen, leg’ dich zurück und lass es zu. Du wirst es mögen, da bin ich mir ganz sicher.“

Mit noch immer hochrotem Kopf schlich Yí kurz darauf aus dem Bad zurück ins Schlafzimmer, um sich für das Frühstück anzuziehen. Oh, Guan Ying – du Göttin der Barmherzigkeit und der Gnade, danke für die Aufnahme in dieses Haus und in das Bett dieses Mannes!

End Notes:

 

Zwei Bilder dazu im Forum

Kapitel achtundvierzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Yí-Yuè – Näheres unter Kapitel sechsundvierzig
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig

Erwähnung finden Clifford Baxter, Méi-Hua und ein Rikscha-Fahrer

Orte: Unterwegs in Xujiahu Qu und im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: ./.

 

Arthur zog sich seinen Mantel über und Handschuhe an seine Hände, denn es war zwar trocken, aber kalt draußen, dabei rief er nach Yí: „Bist du fertig? Und auch dick genug angezogen? Möchtest du noch eine Jacke von mir haben?“

Sie steckte den Kopf aus der Zimmertür und antwortete schnell: „Haben fast alles. Sehr kalt draußen?“

Arthur nickte zur Bestätigung.

„Meine Sachen kommen erst morgen. Brauche ich etwas für Kopf und Hände.“

Er trat den Weg zurück in das Schlafzimmer an: „Öffne bitte die Kommode, ich glaube dort sind gestrickte Handschuhe. Und eine nicht sehr schöne, aber warme Mütze müsste auch da sein.“

Yí fand das Gesuchte und versuchte, die Handschuhe, die mit Fingern gestrickt waren, über ihre zarten Hände zu ziehen. Hier in China kannte man nur Fäustlinge, sie brauchte daher eine Weile, um ihre Finger darin unterzubringen. Beim zweiten Handschuh kam Arthur hinzu und half ihr dabei, eine Geste, die sie völlig aus dem Konzept brachte.

Dann zog er ihr die grob gestrickte Mütze über das Haar, erst behutsam, nach ein paar Sekunden etwas forscher und schließlich stopfte er ihr mit sichtlichem Vergnügen die rötlich-schwarzen Haare darunter: „Fertig! Und nun lass uns einen sehr langen Spaziergang machen. So lange, wie wir es in der Kälte aushalten.“

Sie marschierten zuerst schweigend nebeneinander her, endlich begann er die Unterhaltung: „Sie haben dir sicher von Méi-Hua erzählt, nehme ich an.“

Yí nickte: „Ein wenig, ja.“

Arthur lächelte schwach: „Also alles. Hätte ich mir denken können. Nicht böse sein, Yí, aber ihr Chinesen seid ein neugieriges Völkchen. Möchtest du meine Erzählung der Geschichte hören?“

Sie war erstaunt über dieses Angebot und sagte dies auch, denn sie hatte verstanden, dass wohl Ehrlichkeit die Beziehung zwischen ihm und ihr prägen würde: „Würde ich gerne hören, bin ich überrascht, dass Arthur mir es bereits heute, nach nur einem gemeinsamen Tag, erzählen möchte.“

„Ja, da beginne ich gleich mit etwas sehr Wichtigem: Vertrauen war das Wort, dass für Méi und mich von großer Bedeutung war. Und ich denke, bei uns wird das Wort Ehrlichkeit eine sehr große Rolle spielen. Beide Worte hängen zusammen, ohne Vertrauen keine Ehrlichkeit und ohne Ehrlichkeit kein Vertrauen. Und das macht mich sehr zuversichtlich, was dich und mich betrifft. Ich glaube, dass wir gut harmonieren, wenn auch vermutlich auf andere Art und Weise wie Méi und ich harmoniert haben. Was die Sache wiederum recht spannend macht. Ich weiß nicht, was man dir über sie und mich erzählt hat, aber es ist eigentlich nichts Spektakuläres. Sie war im Jahr der Schlange geboren, war drei Jahre jünger als ich und sie hat mir sehr viel beigebracht. Nicht nur Chinesisch…“, er hielt inne und schaute Yí an, um zu sehen, wie sie reagierte. Sie hatte eine sehr rasche Auffassungsgabe, das hatte er sofort bemerkt.

Yí wusste sogleich, auf was er anspielte: „Arthur will sagen, dass er ein sehr unerfahrener junger Mann ist gewesen, als angekommen in China?“

Er blieb stehen, nickte, schaute sich um, zog Yí nahe zu sich und flüsterte in ihr Ohr: „Genauso ist es. Ich war völlig grün hinter den Ohren, aber – das bleibt unter uns, ja?“

Nun kicherte sie zum allerersten Mal: „Geheimnis bei mir ist sicher.“

„Gut. Zwischenfrage eins: Bist du froh, bei mir zu sein?“

„Antwort auf Zwischenfrage eins: Bin ich.“

„Sehr schön. Dann schließt sich daran Zwischenfrage zwei nahtlos an: Darf ich dich hier draußen küssen?“

„Antwort auf Zwischenfrage zwei: Arthur darf, aber nur, wenn keiner sieht zu.“

„Ich schwöre, dass ich seit fast einer halben Stunde keine Menschenseele mehr gesehen habe.“

„Oh nein, Arthur soll immer ehrlich sein!“

„Es war ein Versuch. Schade. Du hast den Rikscha-Fahrer vor wenigen Minuten also doch gesehen.“

„Sagte schon, habe gute Augen.“

„Offensichtlich. Ich muss sagen, dass mir der Spaziergang mit dir sehr viel Spaß macht. Da ich dich jetzt nicht küssen darf, komme ich zurück zum ursprünglichen Thema: Méi musste sich auf Weisung ihrer Ausbildungsstätte einmal pro Monat dorthin zurückziehen. Eine Ausnahme davon hatten wir nach langem Hin und Her nur für unsere Winter-Aufenthalte in Kanton erhalten. Letztendlich hat diese sture Regelung sie das Leben gekostet. Sie… sie ist auf dem Weg von dort zurück zu… zu uns nach Hause umgekommen. Die Schlammlawine auf dem Huangpu hat sie in den Tod gerissen.“

„Es war schon schrecklich allein davon zu hören. Müssen gewesen sein noch viel schrecklicher, betroffen zu sein von großem Unglück. Ich fühlen sehr mit Arthur, auch heute noch.“

Er schüttelte den Kopf, die fröhliche Stimmung war inzwischen ein wenig von Wehmut und Schmerz überlagert: „Das ist sehr lieb von dir. Nur – ich möchte so etwas keinesfalls noch einmal erleben. Davor, also vor der Sache mit Méi, bevor ich überhaupt nach China gekommen bin, hatte ich bereits einen guten Freund auf der Reise hierher verloren. Ich habe keine große Lust mehr darauf, alle, die mir etwas bedeuten, an den Tod zu verlieren. Mehr könnte ich nicht ertragen.“

„Das ich verstehe gut. Zwischenfrage eins: Hat Arthur seit dem Rikscha-Fahrer eine weitere Person gesehen?“

Arthur blickte sie verwundert an, dann antwortete er: „Antwort auf Zwischenfrage eins: Ich habe niemanden mehr gesehen, wundere mich aber über diese Frage, denn ich kann den Sinn nicht ga…“, er hielt abrupt inne und verstand, „ah, Zwischenfrage drei: Darf ich dich jetzt küssen?“

Yí nickte, und kaum hatte sie ihren Kopf zustimmend geneigt, da hatte er auch schon hungrig von ihrem Mund Besitz ergriffen.

Sie kehrten durchgefroren, aber recht beschwingt ins Haus zurück, zogen hastig die dicken Sachen aus und gingen sofort zum Tee.

Mr. Clennam blickte den beiden entgegen: „Darf ich erwähnen, dass ihr sehr lange unterwegs gewesen seid? Habt ihr denn nicht gefroren?“

Arthur tauschte einen raschen Blick mit Yí, errötete etwas und gab dann Antwort: „Doch, ein wenig.“

„Es freut mich, dass du jemanden gefunden hast, der deine Vorliebe für ausgedehnte Spaziergänge mit dir teilt. Wo ist Clifford?“

„Ich habe ihn heute noch nicht gesehen, Dad. Erst habe ich… ähm, ziemlich lange gebadet und eine Weile nach dem Frühstück sind Yí und ich bereits nach draußen aufgebrochen. War er zum Lunch nicht bei dir? Dann ist er vielleicht im Club, wenn man das geschrumpfte Häuflein Engländer überhaupt noch so nennen kann.“

Gabriel Clennam nickte bedächtig und merkte dann trocken an: „Dass du dein Bad heute morgen ausgiebig genossen hast, war nicht ganz zu überhören.“

Arthur fiel der Teelöffel vor Entsetzen aus der Hand, nun ging das wieder los! Dass dieses Haus aber auch nur über diese blöden, filigranen Holztüren verfügte, war wirklich ein Fluch. Es war besser, darauf nichts zu entgegnen, also biss er sich verlegen auf die Lippen und rührte weiter in seiner Tasse, nachdem er den Löffel schnell wieder aufgehoben hatte.

Doch er hatte nicht mit Yí gerechnet, die überraschend auf das Thema ansprang: „Entschuldigen, Laoyé, war ich schuld, oder?“

Gabriel Clennam konnte sich das Lachen jetzt kaum noch verkneifen und sagte: „Das will ich doch sehr hoffen, Yí. Ich bin ja froh, dass in dieses Haus wieder ein wenig Leben eingekehrt ist. Mir ist es lieber, ich höre diese Laute und Geräusche, als unterdrücktes Weinen und unfeine Verwünschungen, oder schlimmer noch – als beständiges Schweigen und unheimliche Stille.“

„Das verstehe ich, Laoyé. Ich wirklich sehr froh, können sein bei Ihnen allen.“

„Wir sind alle froh, dass wieder eine fröhlichere Zeit angebrochen ist. Wie nimmst du deinen Tee, Yí?“

Nach dem Tee zog Arthur Yí mit sich ins Arbeitszimmer und packte die Tuschsachen aus. Dann malte er – inzwischen recht schwungvoll und gekonnt – das Schriftzeichen für ‚Ehrlichkeit’ auf ein Papier. Als es getrocknet war, ergriff er das Blatt, nahm Yí am Ärmel ihres Qipao und geleitete sie ins Schlafzimmer. Dort hängte er das Bild über dem Bett auf.

Sie freute sich, fragte aber mit dem ihr eigenen Scharfsinn nach: „Es gab das andere Schriftzeichen, das für ‚Vertrauen’, auch?“

Arthur bejahte ihre Frage durch ein kurzes Nicken und ergänzte dann: „Das Papier mit diesem Zeichen liegt… es liegt bei Méi im Sarg.“

Da trat Yí auf ihn zu, zum ersten Mal völlig aus eigenem Antrieb, und schmiegte sich mitfühlend an seine breite Brust: „Arthur werden noch sehr lange an sie denken, das ist gut.“

„Stört es dich, wenn ich darüber rede und ab und zu an sie denke?“

„Nein. Nix stören mich. Hilft Arthur ja, wenn er darüber kann reden.“

„Yí?“

„Ja?“

„Gehen wir zu Bett?“

„Ja. Gerne. Sehr gerne sogar.“

Er musste schmunzeln: „Du hörst dich bereits ganz anders an als gestern Abend.“

„Oh, ich weiß jetzt wie schön es ist, mit schönem Mann zu teilen Bett!“

Und nun lachte er lauthals auf, seit langer, langer Zeit mal wieder.

 

 

Kapitel neunundvierzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Yí-Yuè – Näheres unter Kapitel sechsundvierzig
Clifford Baxter – Näheres unter Kapitel vierzig

Erwähnung finden Cha-Li, Cha-Dong, Méi-Hua und Gabriel Clennam

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: Jìyuàn – chinesisch: Bordell

 

„Wo war Clifford? Arthur das wissen?“

Arthur zog seine Stirn kraus und seufzte: „Er ist in letzter Zeit nicht sehr oft zu Hause. Ich habe den begründeten Verdacht, dass er ein Bordell aufsucht.“

„Oh, nix gut in Jìyuàn. Besser er nehmen auch eine Qiè.“

„Wem sagst du das, Yí. Aber leider hat Clifford nicht so viel Geld, er kann sich keine Konkubine leisten.“

Yí setzte sich auf: „Aber ich nicht sehr teuer, oder?“

„Das vielleicht nicht, aber darauf achte ich auch nicht. Mir waren viele andere Kriterien wesentlich wichtiger als der Preis.“

„Schön das hören. Kann Clifford dann nix bezahlen günstige Qiè?“

„Ich weiß es nicht, Yí. Du bist ein seltener Glücksfall, so jemanden wie dich gibt es wohl nicht sehr oft in diesem Geschäft. Und es wird außerdem immer schwieriger für uns Engländer, hier in China zurecht zu kommen, wir haben kaum noch Privilegien, wie du weißt sieht es im Süden schon ganz schlecht für die Briten aus.“

„Ja, habe ich gehört. Schade. China nix gut mit England, England nix gut mit China. Überlege ich, vielleicht kann holen Qiè für Clifford, die nix ist so teuer.“

Arthur schaute sie an: „Es wäre eine Möglichkeit, aber sie darf nicht hässlich sein.“

Yí wandte sich schmollend ab von ihm: „Arthur damit sagen wollen, ich hässlich bin?“

„Nein! Jù! Um Himmels willen! Ich... ich meinte nur, dass manchmal die Mädchen, die nicht so teuer sind auch nicht ganz so hübsch sind. Du nicht, du bist eine wundervolle Ausnahme, ein Juwel unter den preisgünstigen Angeboten… aua… nicht, Yí! Ah, bist du gemein, mich so zu kneifen. Das wird sicher einen blauen Fleck geben. Da habe ich mir was eingehandelt mit dir! Ich dachte, du wärst anschmiegsam und sanftmütig und nun entpuppt sich der Drache tatsächlich als Drache, du liebe Zeit!“

Sie funkelten sich gegenseitig für ein paar Sekunden böse an, dann konnte er das nicht länger durchhalten und brach in wieherndes Gelächter aus, so laut, dass Yí ihm eine Hand auf den Mund legen musste: „Nix sein so laut! Sonst morgen Laoyé wieder machen Späße mit uns bei Frühstück.“

Er gluckste noch einige Male unterdrückt und hatte Mühe, sich wieder zu fassen, doch schließlich stimmte er zu: „Natürlich. Du hast Recht, wir sind zu laut. Ich werde die Türen mit Bambusmatten polstern und innen und außen zusätzlich mit Brettern vernageln lassen. Aber du bringst mich wirklich dazu, mich zu vergessen. Ich habe dich total falsch eingeschätzt an unserem ersten Tag. Du hast ein unterschwelliges Temperament, das, wenn es erst einmal hervorbricht, nur noch schwer einzudämmen ist. Und soll ich dir noch was sagen? Mir gefällt das… es fordert mich heraus, denn manchmal erinnert es mich ein wenig an mich selbst. Ein bisschen schüchtern zu Anfang, aber später das komplette Gegenteil. Man muss nur erst einmal richtig gezündet haben.“

Sie blickte ihn erneut sehr schelmisch an und er ahnte, dass gleich wieder etwas Provokantes kommen würde: „Arthur jetzt fertig mit große Monolog? Nix mehr reden, nur noch schöne Dinge tun in Bett!“

Er ließ sich grinsend in die Kissen fallen und jammerte theatralisch: „Weh mir! Mir schwant Fürchterliches, ich armer Mann!“

Clifford Baxter trommelte mit den Fingern einer Hand nervös auf dem Mauerwerk des Hauses herum: „Natürlich ist es nicht Recht, dass die BOK gezielt Opium nach China einführt und damit die Chinesen absichtlich süchtig macht und schwächt! Aber das große Kaiserreich macht uns den Handel ja nicht unbedingt leicht. Großbritannien möchte doch nur, dass der Handel nicht so strengen Regularien unterliegt und mehr Häfen in China dafür freigegeben werden. Du weißt, wie schwer es geworden ist, die Waren aus Shanghai herauszubringen. Ein Wunder, dass die chinesischen Beamten den Riegel noch nicht ganz vorgeschoben haben. Es kann ja kaum noch ein Schiff aus England nach China fahren und Güter hier laden. Überdies sind bereits innenpolitische Unruhen ausgebrochen, der Kaiser hat nicht überall im Land breite Unterstützung. Ich weiß auch nicht, wohin das alles noch führen soll! Und dass ich so untätig hier herumsitzen muss, keine Arbeit habe, die mich ausfüllt, macht die Lage auch nicht unbedingt besser.“

Arthur versuchte, seinen Freund zu beruhigen: „Komm, Cliff, hier ist es gerade Winter und wir können, außer ein paar baulichen Maßnahmen vorzunehmen, nichts in der Seidenmanufaktur tun.

Und was das andere Thema betrifft: Schwierige Angelegenheit. Ich bin nicht unbedingt dagegen, dass England, oder vielmehr Großbritannien, seine kolonialen Bestrebungen ausweitet, aber ich bin dagegen, dies mit unlauteren Mitteln zu tun. Und ich finde, das mit dem Opium ist eindeutig ein unlauteres Mittel.“

„Weißt du ein besseres?“

„Das nun nicht gerade, was aber nicht heißt, dass es das nicht gäbe. Alle sollten sich mal zusammensetzen und verhandeln, meiner Meinung nach.“

Die beiden Herren standen an einem Fenster zum Innenhof und rauchten eine Zigarre. Derlei Luxusgüter gab es nur noch selten, und sie hatten für die Kiste zu Weihnachten im Club renovieren helfen, vor allem Arbeiten, die man den Chinesen nicht übertragen wollte, oder diese sich teils auch geweigert hatten, sie auszuführen.

Cha-Li und Cha-Dong waren noch immer in Diensten der Clennams, sie wurden großzügig entlohnt und kümmerten sich zum Glück recht wenig um Politik. Wie es im Frühjahr dann mit den Arbeitern in der Seidenherstellung aussah, stand auf einem anderen Blatt und musste abgewartet werden.

„Bist du froh, wieder eine Frau im Haus zu haben? Sie ist so grundverschieden von Méi, dass ich zuerst dachte, es würde nicht hinhauen mit euch beiden.“

„Ich bin schon sehr froh, ja. Du weißt ja, dass ich mich sehr schwer getan habe mit der Entscheidung. Ich habe mir nicht vorstellen können, dass es eine weitere passende Konkubine für mich geben könnte. Vor allem keine, die sich mit Méi würde messen können. Ich dachte für sehr lange Zeit, dass ich erst später, zu Hause in England, mein Glück in einer Ehe finden und sich vorher nichts mehr dergleichen abspielen würde. Falsch gedacht. Es war schon fast unheimlich, da ich die Kriterien so unglaublich hoch angesetzt hatte, so ungewöhnliche Wünsche geäußert hatte, wahrscheinlich, weil ich insgeheim gar keine neue Konkubine wollte. Deswegen waren die Anforderungen an eine solche auch so kurios. Es war eigentlich nur wenig wahrscheinlich, dass sich eine passende Dame finden würde… und dann kam Yí, fast wie ein Wunder. Wo wir aber gerade bei diesem Thema sind, lieber Freund: Wie steht es denn mit dir?“

Clifford Baxter tat so, als wüsste er nicht, von was Arthur da sprach: „Mit mir? In welcher Hinsicht denn?“

„Tu nicht so! Du hast genau verstanden, auf was ich anspiele.“

„Habe ich das? Vielleicht, vielleicht auch nicht.“

„Geheimniskrämer! Aber ich weiß es doch, du Schwerenöter!“

„Iiich? Du musst mich mit jemandem verwechseln. Ich kann mir nicht einmal annähernd vorstellen, von was du da gerade sprichst.“

„Cliff, natürlich geht es mich nichts an, deswegen entschuldige, wenn ich dir nun zu nahe treten sollte, aber – chinesische Bordelle sind kein Ort für einen Gentleman wie dich.“

„Ah, das meinst du. Du hast deine Augen und Ohren wirklich überall. Ja, du hast Recht, aber nachdem du deine Suche nach einer neuen Konkubine begonnen hattest, damit erfolgreich warst und dann auch noch so glücklich mit Yí hierher gekommen bist, wollte ich mich auch ein wenig… nun ja… austoben.“

„Hast du jemals darüber nachgedacht, dir ebenfalls jemanden ins Haus zu holen? Wäre das nicht eine viel angenehmere Lösung?“

„Du beliebst zu scherzen! Erstens reichen meine finanziellen Mittel dafür sicher nicht aus und zweitens ist das nicht mein Haus, sondern das deines Vaters und ich wäre niemals so impertinent, noch mehr Privilegien für mich zu beanspruchen. Ich stehe ohnehin schon sehr tief in eurer Schuld, Arthur.“

„Ich würde mit Vater darüber reden, gemeinsam mit dir. Yí meinte nämlich, dass sie eine nette Dame für dich an der Hand hätte. Offensichtlich eine Mitgenossin von ihr aus dem Haus in Xinzhuang. Was hältst du davon?“

Clifford Baxter schaute ihn an, als hätte er einen chinesischen Dämon vor Augen: „Das geht nicht! Sie wird zu teuer sein und außerdem – was, wenn sie mir nicht gefällt? Und… du hast mit Yí darüber gesprochen? Meine Güte! Habt ihr nichts Besseres zu tun?“

Arthur musste schmunzeln: „Anscheinend nicht. Also – es wäre völlig unverbindlich, wenn sie dir nicht gefällt, geht sie wieder zurück nach Xinzhuang. Und sie wird dich nicht arm machen, soviel ist sicher. Kaum mehr, als du im Bordell auf Dauer ausgeben würdest.“

„Sofern dein Vater einverstanden ist… also gut, ich schaue sie mir mal an. Großer Gott, zu was ihr mich hier bringt, unglaublich!“

„Dann sage ich doch gleich Yí Bescheid, damit man nach Xinzhuang schickt. Großartig, Cliff, das freut mich.“

„Soll ich dir mal was sagen, Arthur? Seit ich dich kenne, sinke ich immer weiter in einen moralischen Abgrund! Du verleitest mich zu Dingen, die ich früher strikt abgelehnt hätte, du hast einen denkbar schlechten Einfluss auf mich!“

„Sollten wir vorher noch zu Vikar McBride zum Beichten gehen?“

„Arthur – scher dich zum Teufel! Wir Anglikaner müssen nicht zum Beichten gehen!“

„Umso besser!“

„Ich gebe dir eine Minute Vorsprung, also renn schon mal los! Wenn ich dich einhole, dann gibt es eine schöne Rauferei, das schwör ich dir!“

Arthur lachte und sprintete los.

Nach ziemlich genau einer Minute jagte Clifford Baxter ihm nach. An einer Weggabelung hatte er ihn eingeholt, packte ihn am Kragen und boxte ihn - halb gespielt, halb ernst - in die Magengrube.

„Gnade! Gnade! Ich gebe zu, ich bin die Schlechtigkeit in Person und verfolge mit meinem Dasein nur einen einzigen Zweck, nämlich den, Mr. Clifford Baxter vom Pfad der Tugend abzubringen.“

„Es sei dir Gnade gewährt!“

„Danke, mein Herr.“

„Ich glaube, es ist Zeit für den Tee. Los, wer zuerst am Tisch sitzt, bekommt am Wochenende noch eine Zigarre!“

Diesmal verlor er gegen Arthur, der sich nur wenige Sekunden vor ihm atemlos auf einen Stuhl im Salon des Hauses warf.

Kapitel fünfzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Yí-Yuè – Näheres unter Kapitel sechsundvierzig
Clifford Baxter – Näheres unter Kapitel vierzig
Tián-Lù – Süßer Tau, Edelprostituierte/Konkubine

Erwähnung findet außerdem ein Boy im Haus der Konkubinen

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu und im Haus der Konkubinen in Xinzhuang

Glossar:
Ni hao - siehe Kapitel dreiundzwanzig
Xiansheng - siehe Kapitel fünfunddreißig

 

Auf Anregung Arthurs verfasste Yí ein Schreiben, das eilends nach Xinzhuang geschickt wurde. Da dieser Ort nicht sehr weit von Xujiahu Qu entfernt war, bekam man noch am gleichen Tag, gegen Abend, eine Nachricht zurück.

Yí öffnete das Schreiben und las es rasch durch, dann reichte sie es Arthur und Cliff, die aber beide nicht so gut Chinesisch lesen konnten, Clifford vor allem nicht, da er schriftlich noch sehr am Kantonesischen klebte.

Daher fragte Arthur: „Und?“

Yís Gesichtsausdruck war schwer zu deuten. Es konnte alles heißen. Nachdem sie die beiden Männer einen Augenblick lang hatte zappeln lassen, sagte sie endlich: „Tián-Lù  nix kommen.“

Arthur und Clifford schauten sich beide betroffen an und fragten zeitgleich wie aus einem Munde: „Aber wieso?“

Jetzt lächelte Yí auch noch, was beide völlig aus dem Konzept brachte. Waren die Weiber völlig übergeschnappt? Stand vielleicht Vollmond an und machte Yí und ihre Genossin so übermütig? Wollten sie sich einen Scherz mit Clifford erlauben?

„Weil sich hat böse verstaucht Fuß und nix kann laufen oder bewegen. Sie muss ruhen und bleiben in Xinzhuang.“

„Aha. Schade. Wird sie später kommen können?“

„Nein.“

„Yí, wenn du weiterhin so geheimnisvoll tust, dann ist das Baden mit mir für mindestens vier Wochen gestrichen!“

Arthur wurde energisch, tat jedoch nur streng, es war natürlich mehr im Spaß.

Yí lächelte erneut, was Arthur nun beinahe zur Verzweiflung trieb! Weiber!

„Sie schreiben, wir kommen zu ihr, morgen. Nach Xinzhuang!“

„Was?“

Wieder erscholl dieses Wort aus beiden Männermündern gleichzeitig.

„Arthur, wir fahren können mit Maulesel dorthin. Das ist nix weit, geht schnell.“

„Ja, natürlich! Das… das ist eine wundervolle Idee! Wir machen einen kleinen Ausflug, das hatten wir schon sehr lange nicht mehr. Ich bin begeistert!“

Er lachte fröhlich und zog Yí in seine Arme, die sich aber ein wenig herauswand, da Clifford neben ihnen stand.

„Du bist ein raffiniertes Frauenzimmer, Yí! Du verstehst es ganz wunderbar, einen zappeln zu lassen, nicht schlecht!“

Am kommenden Morgen rüsteten sie sich zu dritt für den Aufbruch nach Xinzhuang. Sie packten warmen Tee und Essen ein, schirrten den Maulesel an, der sich gegen die ganze Prozedur arg sperrte, doch schließlich war es gelungen und sie fuhren dick eingepackt zum Tor hinaus.

Unterwegs fragte Arthur nach: „Sag, wer bekommt die Vermittlungsprovision für Süßer Tau, falls der Handel zustande kommt? Du?“

Yí nickte nicht ohne Stolz.

Arthur warf Clifford einen viel sagenden Blick zu und schmunzelte: „Habe ich mir bereits gedacht. Du bist raffiniert, schlau und geschäftstüchtig. Ein Wolf im Schafspelz, ganz sicher. Aber ich möchte dich gar nicht anders, denn so wie du bist, finde ich dich ganz zauberhaft!“

Und mit diesen Worten schenkte er Yí einen Blick aus seinen himmelblauen Augen, der förmlich Bände sprach.

Clifford Baxter war ein wenig nervös. Es kam nicht alle Tage vor, dass man in ein unbekanntes Dorf, ein unbekanntes Haus fuhr, um sich eine… na, eine Prostituierte eben anzuschauen. Er fand das alles völlig absurd, beinahe surreal. Und doch war es so.

Unterwegs machten sie einmal Halt, weil es sehr kalt auf dem offenen Wägelchen geworden war und das Maultier außerdem getränkt werden musste. Den kurzen Aufenthalt nutzen sie daher auch, um etwas zu sich zu nehmen, vor allem Tee, der nun doch schon recht kalt geworden war, obwohl man die Kanne in viele dicke Tücher eingewickelt hatte.

Das Haus am Zielort war genauso, wie es sich die beiden Männer vorgestellt hatten. Abgelegen, aber sehr idyllisch gelegen, von weitläufigen Gärten umgeben, sauber und nett, aber nicht übermäßig edel oder luxuriös.

Yí hieß die beiden einen Moment warten und ging hinein, um den Besuch anzumelden.

Nach ein paar Minuten steckte sie den Kopf zur Tür raus und winkte Arthur und Clifford herein: „Kommen jetzt. Tián-Lù wartet.“

Auf einem Diwan in einem sehr großen Raum, fast schon ein Saal, wohl eine Art Gemeinschaftsraum, lag eine zierliche, schlanke Chinesin und lächelte ihnen entgegen. Bei Näherkommen sah man ihren einzigen, winzigkleinen Makel, von dem Arthur annahm, dass er sich im Preis bemerkbar machen würde: Sie hatte an der rechten Augenbraue eine Narbe, nicht sehr groß, nicht sehr auffällig, aber die Augenbraue war dadurch optisch in zwei Hälften getrennt. Ansonsten war sie aber bildschön.

Yí begann mit der Vorstellung: „Das ist Tián-Lù. Und das sind Clennam Xiansheng und das Baxter Xiansheng. Baxter Xiansheng ist gekommen zu sehen Tián-Lù.“

„Ni hao“, hauchte Süßer Tau.

„Ni hao, Miss Tián-Lù”, antwortete Arthur und neigte den Kopf.

„Verßeihen sehr, weil müssen liegen, aber Schmerßen in Fuß arg.“

„Deswegen suchen wir Sie hier auf, da Sie die Reise nach Xujiahu Qu nicht antreten konnten. Ich würde mir gerne von Yí-Yuè die Umgebung zeigen lassen und lasse Ihnen Mr. Baxter für ein paar Minuten zur Gesellschaft zurück.“

Arthur und Yí verließen den Raum und ließen die beiden allein. Sie waren jedoch nicht ganz ohne Aufsicht, da an der Tür, ein gutes Stück weit weg jedoch von Clifford und Süßer Tau, ein Boy ein wachsames Auge auf die Vorgänge im Raum hatte.

„Ni hao, Miss“, Clifford Baxter war die Kehle wie zugeschnürt, mehr als das brachte er zuerst nicht heraus.

„Schön Baxter Xiansheng konnten kommen, obwohl so kalt.“

„Ja, wir haben ziemlich gefroren auf der Fahrt hierher.“

„Wollen wärmen Hände? Dort ist Kohlebecken“, sie deutete auf eine große Messingschale, worin Kohle vor sich hinglühte.

„Danke, sehr freundlich, aber wenn Sie gestatten, bleibe ich lieber hier und… und… wie geht es Ihrem Fuß?“

„Besser. Nix so schlimm, nur nix dürfen laufen.“

„Wie ist das passiert?“

„In Garten, war etwas dunkel, nix sehen große Stein, fallen drüber.“

„Ich verstehe. Sehr bedauerlich. Wird der Fuß behandelt?“

Sie nickte: „Ja, bekommen etwas gegen Schmerßen und gewickelt in saure Tücher.“

Clifford Baxter fand ihr leichtes Lispeln sehr niedlich und fragte sich, ob das nur im Englischen so war, oder auch im Chinesischen, traute sich aber wegen seines miserablen Hochchinesischs nicht, sie in ihrer Sprache etwas zu fragen.

„Wann wird es voraussichtlich geheilt sein?“

„Vielleicht ich in einer Woche wieder ein wenig laufen. Aber ich nix gut laufen sowieso wegen Lotosfüße.“

„Oh, natürlich. Wie dumm von mir. Das hatte ich nicht bedacht, da Silberner Mond keine gewickelten Füße hat.“

„Weiß. Ist viel anders Yí-Yuè. So großes Glück gefunden hat gutes Haus und Shayoé.“

Sie seufzte und blickte in eine andere Richtung.

Clifford dachte nach, räusperte sich dann und fragte: „Miss Tián-Lù, wünschen Sie sich auch so eine vorteilhafte Stellung wie sie Yí-Yuè gefunden hat?“

Nun schaute sie ihn wieder an: „Schwer, weil auch nix bin so schön wegen Narbe. Männer das oft sehen als schlechtes Sseichen, leider.“

„Ich würde mich auch nicht unbedingt zu den schönen Menschen dieser Welt zählen, Miss. Was ist schon Schönheit? So schnell vergänglich und eigentlich von keiner großen Bedeutung. Und Sie sind trotz dieser kleinen Unebenheit unglaublich schön, wenn ich das sagen darf.“

„Es sein Kapital für Qiè. Ohne Schönheit keine gute Stellung, kein gutes Einkommen. Aber danke, dass sagen so nette Sachen zu mir.“

„Das sage ich nicht nur, das meine ich auch. Darf ich in einer Woche wiederkommen und Sie abholen? Nach Xujiahu Qu bringen?“

„Sie mich wollen? Wirklich?“

„Wissen Sie, Süßer Tau, was mich völlig schwach hat werden lassen?“

Sie richtete sich neugierig ein wenig höher auf und strahlte ihn an: „Sagen bitte, Shaoyé!“

„Ihr zauberhaftes Lispeln. Und die Gewissheit, dass Sie auch mit dieser kleinen Entstellung ein wunderschönes, niedliches und überaus liebenswertes Geschöpf sind.“

„Werden müssen verhandeln Preis dann.“

Clifford Baxter nickte: „Ja, eine Sache, der ich leider nicht so viel abgewinnen kann, aber für Sie gehe ich auch gerne über mein Limit.“

„Und Yí-Yuè bekommen Geld für Vermittlung.“

„Oh ja, das hat sie sehr geschickt eingefädelt. Mein Freund ist sehr erstaunt, was er sich da mit ihr eingehandelt hat.“

Tián-Lù kicherte: „Oh, sie ist sehr, sehr klug. Nix große Schönheit, nix große Erfahrung, aber ganz schlau.“

„Wir sind uns einig, liebe Tián-Lù?“

„Ja. Ich mich freuen sehr. Wünschen ich können weg hier schneller. Aber Fuß so schlecht.“

„Geduld, lange wird es nicht dauern. Und wenn es in einer Woche noch nicht sonderlich besser ist, dann komme ich und hole Sie - und wenn ich Sie bis nach Hause tragen muss!“

Sie schaute ihn bewundernd an und kicherte dann erneut.

Arthur war nicht sonderlich überrascht, als er die Entscheidung von Clifford mitgeteilt bekam: „Ich dachte es mir sogleich. Sie ist wirklich ganz reizend. Und diese kleine Narbe stört niemanden von uns, dich auch nicht, habe ich Recht?“

Mr. Baxter nickte: „So ist es. Und der Preis war überaus vorteilhaft. Ich war sehr erstaunt. Für sie hätte ich sogar noch mehr ausgegeben. Aber da ich ja noch nicht weiß, was die gute Yí von mir verlangt, lasse ich die letzten Notgroschen mal lieber im Säckel. Nicht, dass ich nach der Provisionszahlung ein armer Mann bin!“

„Ja, besser so. Frau Luna traue ich mittlerweile alles zu. Natürlich nicht im negativen Sinne, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Frau Luna ist gut. Ein schöner Kosename für Silberner Mond, finde ich, er passt richtig gut zu ihr.“

„Das finde ich auch. Und nun schnell nach Hause, bevor uns unterwegs die Dunkelheit überrascht.“

 

Kapitel einundfünfzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam - Näheres unter Kapitel eins
Yí-Yuè – Näheres unter Kapitel sechsundvierzig
Clifford Baxter – Näheres unter Kapitel vierzig
Tián-Lù – Näheres unter Kapitel fünfzig
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig

Weiterhin Cha-Dong und Cha-Li

Erwähnung finden Rafaela Campos-Fuentes und Flora Casby

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: ./.

 

Eine Woche lang war mit Clifford Baxter nicht viel anzufangen. Er war gereizt, nervös und nur selten in der Stimmung, sich mit Arthur, Yí und Mr. Clennam zu unterhalten oder mit ihnen zu spielen sobald die üblichen Brett- oder Kartenspiele ausgepackt wurden.

Man hatte schon terminlich vereinbart, wann man nach Xinzhuang fahren würde und nun war es nur noch ein Tag bis zu diesem Termin.

Als man beim Dinner zusammen saß, klopfte es und ein ziemlich verstimmter Cha-Dong steckte seinen Kopf zur Tür herein: „Gekommen Rikscha mit Qiè für Baxter Xiansheng.“

Alle sprangen in heller Aufregung vom Esstisch auf - vor allem Clifford mit dem ungläubigsten Gesichtsausdruck seit Menschengedenken - und liefen nach draußen vor die Tür.

Sogar Mr. Clennam kam hinter den jungen Leuten her, gerade noch rechtzeitig, um Zeuge zu werden wie Mr. Baxter vor dem Tor eine zierliche Chinesin aus der Rikscha in seine Arme hob und sie langsam zum Hauseingang trug.

Arthur verbeugte sich knapp und entbot seinen Willkommensgruß: „Wir sind auf das Äußerste überrascht, Sie bereits heute bei uns begrüßen zu dürfen, und zwar auch auf das Angenehmste, möchte ich hinzufügen.“

Mr. Clennam lächelte schmal und ergänzte noch: „Kommen Sie nur herein, Miss. Mein Haus steht Ihnen offen, es hat sich in den letzten Jahren beinahe zu einer Art Gästehaus gewandelt, auch wenn wir nun bald Kapazitätsprobleme haben werden.“

Und zu Clifford gewandt sagte er: „Es wäre mir nur lieb, wenn wir das Dinner schnellstmöglich fortsetzen könnten, damit das Essen nicht kalt wird. Also am besten direkt durch ins Esszimmer, ihr beiden.“

Clifford setzte Tián-Lu in der Tat erst auf einem Stuhl am Tisch ab, während Cha-Li eilends ein weiteres Gedeck auflegte.

Bevor Arthur sich wieder hinsetzte sagte er: „Ich denke, wegen des aufgetragenen Dinners ist eine sehr rasche, wenig formelle Vorstellung angebracht: Vater, dies ist also Tián-Lù, die von nun an bei uns leben wird, um Mr. Baxter Gesellschaft zu leisten. Tián-Lù, das ist mein Vater, Gabriel Clennam, und uns alle kennen Sie ja bereits. Wir haben zwei Boys, hier ist Cha-Li, und am Empfang das war Cha-Dong. Darüber hinaus beschäftigen wir noch einen Koch.“

Die durchgefrorene junge Frau nickte kurz: „Danke für Vorstellung. Wollte nicht stören bei Essen, Verßeihung.“

Clifford schaute sie liebevoll an - da war das Lispeln wieder - und hing ihr eine Decke um, da sie vor Kälte zitterte: „Bitte. Sie müssen sofort eine heiße Suppe essen, da bestehe ich drauf. Und auch sonst, greifen Sie nur zu.“

„Wir hatten nicht mit Ihnen gerechnet, wollten morgen nach Xinzhuang aufbrechen, um Sie abzuholen.“

Es war keine direkte Frage, die Arthur ihr da gestellt hatte, aber sie fühlte sich dennoch befleißigt, darauf zu antworten: „Fuß viel besser. Wollte ich machen große Überraschung für Shaoyé, meinen Baxter Xiansheng.“

Dieser griff kurz nach ihrem Handgelenk und strahlte sie an. Dann nahm sie den Löffel auf und fing an, ihre Suppe zu essen.

Man saß nachher noch am warmen Kohleofen zusammen und spielte ein wenig, Yí spielte nicht mit, sondern musizierte leise im Hintergrund. Clifford und Tián beteiligten sich am Wei Qi, aber es wurde rasch klar, dass die beiden nicht mehr sehr lange ein Teil der Abendgesellschaft sein würden.

Sie zogen sich bald zurück, und hinterließen Vater und Sohn, die noch eine Partie Schach zusammen angingen, mit Yí als musikalischer Umrahmung.

„Das Haus ist nun ganz schön voll geworden.“

„Ja, Dad. Aber wie du immer so schön sagst, lieber ein wenig Leben im Haus, als ständige Grabesstille.“

„Sicher. Aber mehr können wir nicht verkraften, das würden auch die Bediensteten nicht mehr schaffen und noch jemanden einzustellen – du weißt das – ist völlig unmöglich.“

„Natürlich weiß ich das.“

„Sie ist ein sehr niedliches Geschöpf, auch wenn sie diesen Schönheitsfehler hat. Ich muss sagen, ihr habt anscheinend alle einen Hang zu ungewöhnlichen Frauen.“

Arthur musste an Rafaela Campos-Fuentes denken, die in seiner Vorstellung mittlerweile ganz sicher verheiratet und mit einer Schar Kinder gesegnet war, und gab nickend seine Zustimmung: „Völlig richtig. Von daher denke ich heute auch nicht mehr, dass mein Glück in einer Ehe mit Flora Casby gelegen hätte.“

„Nicht?“

Gabriel Clennam sah seinen Sohn prüfend an.

„Sicher nicht, Dad. Allerdings gebe ich zu, dass ich mir ab und zu einmal eine ruhige, häusliche und wohlerzogene englische junge Frau als Ehegattin wünsche. Also… später einmal, meine ich. Und dann denke ich wiederum, dass mich das vielleicht bald langweilen würde. Ach, was rede ich da für einen Unsinn! Vater, hör einfach nicht drauf.“

„Warum sollte ich nicht drauf hören? Ich schätze deine Ansichten. Wenn du meine Meinung hören willst: Lass dich nicht von Äußerlichkeiten täuschen! Selbst wenn eine kommen sollte, die hübsch, wohlerzogen und aus guter Familie stammt – schau’ lieber zweimal hin! Es ist nicht alles Gold was glänzt, mein Junge. Du siehst es doch hier, an diesen chinesischen Frauen. Die Besten sind nicht immer die Hübschesten, und wir haben hierfür die herausragendsten Beispiele. Du bist selbst sehr ruhig, von gelassenem Wesen, dich bringt nur selten etwas aus dem Gleichgewicht - der Chinese würde sagen, in dir fließen Yin und Yan gleichmäßig – du brauchst eine Frau, die anders ist, die aus der üblichen Masse heraussticht. Bitte versprich mir, dass du an diese Worte von mir denken wirst, wenn du später einmal in England auf Brautschau gehst, ja?“

Arthur war sehr erstaunt über die ungewöhnliche Ansprache seines Vaters, aber er versprach es ihm: „Selbstverständlich. Ich würde nie leichtfertig eine solche Wahl treffen. Das ist eine Sache, die wohlüberlegt sein muss. Nur schade, dass du seit vielen Jahren nicht mehr in der Heimat warst, sonst hättest du mir sicher eine Empfehlung aussprechen können.“

„Eine Empfehlung? Das kann ich leider nicht. Aber ich denke, du wirst die Richtige zu gegebener Zeit schon finden. Nein, ich denke es nicht nur, ich weiß es!“

„Danke Vater. Ah, vor lauter Reden hast du nicht aufgepasst! Schachmatt!“

„Verflixt noch mal! Wie lange habe ich schon nicht mehr gegen dich verloren?“

„Ziemlich lange her, aber heute warst du eindeutig zu sehr abgelenkt. Dad, ich gehe zu Bett, gute Nacht.“

„Gute Nacht, Arthur, gute Nacht Yí!“

Clifford hatte seine Konkubine in das Gästezimmer getragen und sie dort direkt auf dem Bett abgesetzt. Er schaute etwas unsicher drein, wusste nicht, wie er die Sache anfangen sollte.

Daher versuchte er es mit leichter Konversation: „Der Fuß ist wirklich besser? Nicht, dass du zu früh aus dem Haus gegangen bist.“

„Nicht gegangen, ich wurde gefahren in Rikscha.“

„Ja, aber…“, er unterbrach sich und lächelte verlegen, „ich bin etwas in Sorge um deine Gesundheit, Tián.“

„Freuen mich zu hören das. Baxter Xiansheng…“, jetzt unterbrach er sie: „Wir pflegen hier im Hause fast alle einen recht lockeren Umgangston, und ich brenne darauf zu hören, wie du meinen Namen sagst, bitte!“

Tián nickte: „Clifford, ich bin gekommen hierher schon heute, weil… weil ich wollten hier sein bald.“

Er war gerührt über ihr süßes Geständnis: „Du wolltest zu mir? Ganz schnell? Wirklich?“

Ein weiteres Nicken von ihr, doch zu einem Bejahen durch Worte kam es nicht mehr, denn da lag sie bereits in seinen Armen und empfing einen glühenden Kuss von ihm.

Doch er löste sich rasch von ihr, rückte ein klein wenig ab und sagte in energischem Ton: „Bevor das nun endet, wie es enden soll, möchte ich erst deinen Fuß sehen. Und wenn wir schon dabei sind, eigentlich beide Füße, denn diese unglaubliche Schweinerei mit den Lotosfüßen muss ich mir mit eigenen Augen ansehen.“

Tián zog ihre Schuhe und Strümpfe aus und streckte die Füßchen aufs Bett.

Er murmelte nur betroffen: „Oh mein Gott…“, dann nahm er sie fest in seine starken Arme.

Arthur wusste, dass Clifford immer recht früh aufstand, oft, als sie beide noch alleine gewesen waren, bevor die Frauen ins Haus gekommen waren, hatten sie gemeinsam gefrühstückt und sich unterhalten.

Daher stahl Arthur sich an diesem Morgen aus dem Bett, deckte Yí fest zu, damit sie nicht fror, und schlich sich ins Esszimmer. Er hatte die Geräusche richtig gedeutet, denn Cliff hatte sich gerade mit der ersten Tasse Tee niedergesetzt.

„Morgen. Bevor ich das Bad für die nächste Stunde besetzt halte, und dafür bitte ich schon im Voraus um Verzeihung, wollte ich neugierig sein und ein Männergespräch mit dir führen. Also, alles in Ordnung mit Tián und dir?“

Clifford Baxter grinste: „Beantwortet es deine Frage, wenn ich dir nun sage, dass ich sehr gerne auch mal das Bad für eine Stunde besetzen möchte? In gleichem Sinne, wie du das tust?“

Arthur ließ einen kurzen Lacher hören: „Ha! Das beantwortet meine Frage voll und ganz. Du brauchst gar nichts mehr zu sagen, keine Details bitte.“

„Sicher doch. Aber ich möchte, dass du weißt, dass Yí und du mir sehr geholfen habt. Die Kleine ist ein Juwel, absolut entzückend. Danke!“

„Keine Ursache. Trink in Ruhe deinen Tee, ich wecke Yí für das Bad.“

„Viel Vergnügen!“

„Das habe ich gerade überhört. Bis später, Cliff!“

Kapitel zweiundfünfzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam – Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Clifford Baxter – Näheres unter Kapitel vierzig

Weiterhin Yí-Yuè und Tián-Lù

Erwähnung finden Mrs. Clennam, König Georg IV. von England, König William IV. von England, Lord Peel, Lord Melbourne, der Herzog von Wellington, Königin Victoria von England und Méi-Hua

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu

Glossar: ./.

 

„Arthur? Deine Mutter hat einen ihrer spärlichen Briefe geschrieben. Möchtest du ihn lesen?“

„Gerne, aber sei nicht so streng mit ihr, Vater, vielleicht sind einige ihrer Briefe ja einfach nur nicht bis hierher gekommen. Was schreibt sie so?“

„Du hast wirklich für alles eine Entschuldigung parat, du bist zu gut für diese Welt. Komm her, dann gebe ich dir den Brief.“

Arthur ließ sich das Schriftstück von seinem Vater aushändigen und vertiefte sich ins Lesen. Es kamen nie Fragen oder Berichte über private Angelegenheiten. Mrs. Clennam schrieb nur über geschäftliche Dinge, über andere Leute oder über das, was allgemein in der Heimat vor sich ging. Sie fragte nicht einmal, wie es ihrem Gatten und ihrem Sohn ging. Arthur fand, dass es auch Blödsinn war, bis man den Brief erhalten hatte und die Antwort bei ihr war, würden mindestens eineinhalb Jahre, vermutlich mehr, vergehen. Und dann war das alles ja total hinfällig.

Alles, was Arthur also zu lesen bekam, waren einige Zahlen aus den Büchern der Tuchwarenhandlung, ein Metier, das Arthur eigentlich sehr schätzte, aber es las sich in einem Brief seiner Mutter doch sehr spröde und unpersönlich, und letztlich noch ihr Lamento über den in ihren Augen völlig unfähigen König William IV., der Bruder des vor sechs Jahren verstorbenen König George IV.: Er sei vulgär und hätte auch als König seine derben Seemanns-Manieren nicht abgelegt, was ihm den Beinamen Sailor King einbrachte. Sein neuester, völlig misslungener Coup war - laut Arthurs Mutter - der Versuch gewesen, Ende 1834 eine Regierung mit Lord Peel und dem Herzog von Wellington gegen die Mehrheit des Unterhauses durchzusetzen, was darin resultierte, dass er Anfang 1835 sich dem Unterhaus beugen und einer Regierung unter Lord Melbourne, bis dahin Innenminister, als Premierminister zustimmen musste.

Dazu kam, dass König George IV. mit seiner Prunk- und Verschwendungssucht im einen Extrem gelegen hatte, sein Nachfolger William nun genau zum anderen Extrem tendierte, er würde wohl liebend gerne das Prunkbett seines verstorbenen königlichen Bruders auf Schloss Windsor durch eine einfache Hängematte ersetzen. Das konnte doch alles letztendlich nicht gut für England sein, diese Instabilität, Inkonsequenz und das Fallen von einem Extrem in das nächste. 

Seufzend legte Arthur den Brief zur Seite. Was sollte man dazu sagen? Wahrscheinlich würde William IV. aber kurzen Prozess mit den Chinesen machen, er war ein erfahrener Seemann, schon in jungen Jahren zum Konteradmiral ernannt - bereits lange vor Arthurs Geburt! - und dann unter der Regentschaft seines Bruders zum Großadmiral des Britischen Empires. Vermutlich würde er schon bald einen Flottenverband der Kriegsmarine in das Südchinesische Meer beordern und dann dort gehörig aufräumen.

Und Krieg zwischen England und China war eigentlich das, was Arthur und die Clennams allgemein gar nicht gebrauchen konnten.

„Vater, was machen wir hier, wenn England China den Krieg erklärt?“

„Arthur, ich weiß es nicht. Ich hoffe noch immer, dass es dazu nicht kommen wird.

„König William ist ein fanatischer Seemann. Er wird sich begierig darauf stürzen, es den Chinesen mit Hilfe einer Flotte von Kriegsschiffen zu zeigen. Ich habe wirklich große Sorge, dass man es zu einem Krieg wird kommen lassen.“

„Die Sorge ist nicht ganz unberechtigt, wir müssen eben beten, dass die Dinge nicht eskalieren.“

„Ja. Hoffentlich ist Gott auf diesem Ohr nicht taub. Wäre es nicht besser, wir würden nach England zurückkehren?“

„Erst, wenn es ganz schlimm kommt, Arthur. Noch ist es in Shanghai halbwegs erträglich, wenn auch das Leben nicht mehr ganz so bequem und unbeschwert ist wie noch bei deiner Ankunft vor zehn Jahren.“

Arthur strich sich die Haare aus der Stirn: „Wie die Zeit vergeht. Zehn Jahre bin ich nun schon hier, es ist unglaublich.“

„Ja, mir ist auch, als wäre es erst gestern gewesen, dass du hier in der Halle standest und ich zuerst gedacht hatte, es wäre ein Fremder.“

„So vieles hat sich aber in dieser Zeit ereignet. Es muss also tatsächlich schon diese beträchtliche Zeitspanne dazwischen liegen.“

„Das fürchte ich auch. Die Zahlen aus dem Geschäft zu Hause sehen auch nicht mehr so gut aus wie früher. Ich kann mir nicht so recht erklären, an was das liegt. Die Wirtschaftslage in England ist ja nicht unbedingt schlecht zu nennen. Und Stoffe, aus denen Kleider gemacht werden, braucht man immer. Wenn natürlich William IV. weiter seinen Kurs der Schlichtheit und des Verzichts fährt, dann zieht der Hof unweigerlich mit und wir werden das zu spüren bekommen.“

„Du meinst wirklich, das würde sich derartig auswirken?“

Mr. Clennam machte ein abwehrende Geste: „Hoffentlich nicht.“

Arthur lächelte trotz der nicht ganz so ermutigenden Aussichten und ergänzte noch: „Oder wir sollten tatsächlich auf Wagenbau umsatteln?“

„So weit käme es noch! Wie viel Seide ist eigentlich zum Transport fertig?“

„Es wären 200 Ballen Bourette-, 300 Ballen Schappe-, und ebenso viel Maulbeerseide. Fragt sich nur, ob sich ein Schiff findet, das dies alles mitnehmen kann.“

„Wir müssen uns erkundigen. Ich war sehr froh, dass wir uns das letzte Mal bei unseren Freunden aus Portugal draufhängen konnten und deren Karavelle Desafinado mitnutzen durften. Alles ist so furchtbar kompliziert geworden und ich muss sagen, ohne dich an meiner Seite hätte ich das nicht hinbekommen und wahrscheinlich schon längst aufgegeben.“

„Nein Vater, so darfst du nicht denken. Du hättest auch ohne mein Zutun eine Lösung gefunden, dessen bin ich mir sicher.“

„Ja, typisch Arthur: Immer positiv denken, auch wenn’s schwer fällt. Bewundernswert. Gut, sehen wir zu, dass wir die Seide aus diesem gottverdammten Land hier heraus bringen. Fährst du zu den Handelskompanien und klärst das?“

„Selbstverständlich. Ich bin sehr zuversichtlich, dass ich mit guten Nachrichten zurückkehren werde.“

Arthur traute seinen Ohren nicht, als Clifford Baxter ihm in einem langen, vertraulichen Gespräch einige unglaubliche Neuigkeiten mitteilte: „Was? Bist du des Wahnsinns? Das glaube ich nicht! Cliff, du weißt nicht, was du da sagst, du weißt nicht, was auf euch zukommt! Du bist verrückt, ganz ehrlich.“

„Nun, ich bin lieber verrückt, als weiter hier vor mich hin zu vegetieren, ohne klares Ziel, ohne Aufgabe, mit immer geringer werdenden Mitteln, auf Kosten anderer teilweise schon lebend.“

Arthur versuchte, Clifford von seinem Vorhaben abzubringen: „Die Reise zurück nach England ist lebensgefährlich, schon für einen gestandenen Mann! Und du willst ein solches ungewisses Abenteuer der armen Tián zumuten?“

„Alles ist besser, als hier zu bleiben. Arthur, ich verstehe nicht, wie dein Vater und du nur so eisern daran festhalten könnt. Wir haben es uns wirklich sehr gut überlegt und ich werde von diesem Plan nicht mehr abrücken. Ich kehre zurück nach England und nehme Tián mit! Dort werde ich sie heiraten und eine Familie gründen. Es wird Zeit für mich, ich bin – wie du weißt – ja sogar ein Jahr älter als du.“

„Ihr seid beide völlig übergeschnappt! Kein Mensch wird euch in England unterstützen, ich bin zwar sicher, dass du eine Stelle bekommen wirst, aber deine chinesische Frau wird einsam und alleine im Haus sitzen und die Kinder hüten, ohne Anteil am gesellschaftlichen Leben zu haben. Und dir wird es in deiner Freizeit genauso gehen.“

„Arthur, sie kann mit ihren kaputten Füßen ohnehin keinen Ball und keine Gesellschaft besuchen. Wir sind zufrieden mit dem, was wir haben. Für uns ist nämlich die Hauptsache, dass wir einander haben und wir offiziell sogar ein Ehepaar sein werden. Das ist, was mir wichtig ist.“

Arthur schüttelte noch immer ungläubig den Kopf: „Das Erste, was mir im Zusammenhang mit dem Wort ‚Konkubine’ eingetrichtert worden ist, war die Regel, dass man diese Frauen unter gar keinen Umständen heiraten sollte. Alles ist möglich, nur keine Heirat.“

„Ja, hier in China mag das so sein. Aber in England gelten andere Regeln und ich werde Tián dort zu meiner Frau machen, so viel ist sicher.“

„Ja, wenn ihr überhaupt lebend dort ankommt.“

„Arthur, wo bleibt dein unerschütterlicher Optimismus?“

„Der ist vor fast dreizehn Jahren zwischen Casablanca und Batavia auf der Strecke geblieben, zumindest hinsichtlich abenteuerlicher Seefahrten.“

„Es wird gut gehen, ich weiß es.“

„Ich merke, dass ich euch nicht davon abbringen kann. Alles, was mir noch bleibt, ist euch in meine Gebete einzuschließen.“

„Danke. Es tut mir sehr leid, dass ich dich und deinen lieben Dad hier im Stich lasse. Aber ich denke, es ist besser jetzt zu reagieren, bevor es vollkommen zu spät ist.“

Arthur Clennam war sichtlich erschüttert von dem ihm Offenbarten und wagte einen letzten Versuch: „Cliff, vielleicht lohnt es sich doch zu warten. Wir haben eine neue Königin, ich weiß, sie ist noch sehr jung, während einige sich über sie lustig machen und ihr nichts zutrauen, sie als eine von den Lords geführte Marionette einschätzen, so sehen aber einige andere sie als Hoffnungsträgerin für England. Wenn der alte, rumpelige William IV. es nicht zustande gebracht hat, China den Krieg zu erklären, wie käme dann eine erst achtzehnjährige Königin darauf?“

„Egal, wir fahren!“

„Dein letztes Wort?“

„Ja, mein allerletztes Wort.“

An einem der ersten wärmeren Tage im Frühjahr des Jahres 1838 nahm man Abschied von Clifford Baxter und Tián-Lù in Shanghai. Während Yí sich tapfer hielt und ihre Emotionen recht gut zu verbergen wusste, war Tián in Tränen aufgelöst und nur schwer zu beruhigen, vor allem, da sie ja im Gegensatz zu Yí, einer ungewissen Zukunft entgegensegelte.

Arthur betete inständig, dass die beiden heil in England ankommen würden. Mr. Baxter stammte auch nicht aus London, sondern ursprünglich aus dem Norden Englands, wohin er nun fürs Erste hin zurückkehren wollte.

Es war nach der Abreise des Paares sehr ruhig im Haus geworden. Arthurs Vater saß manchmal stundenlang in seinem Arbeitszimmer ohne sich zu regen. Arthur begann, sich Sorgen um ihn zu machen, er ging stramm auf die Siebzig zu, und ihn plagten immer mehr größere und kleinere Wehwehchen. Einiges konnte durch die Gabe chinesischer Arzneien gemildert werden, einige Gebrechen waren in der Tat auf das Alter zurückzuführen und würden nicht heilbar sein.

Es wurde Arthur plötzlich klar, dass sein Vater England nie mehr wieder sehen würde. Und Arthur wusste auch, dass er über kurz oder lang sich dann von Yí würde trennen müssen. Sechs Jahre lang hatte er mit Méi-Hua zusammengelebt, dann war er zweieinhalb Jahre lang alleine gewesen und nun war Yí schon mehr als vier Jahre bei ihm.

Arthur war depressiv, etwas, unter dem er nur selten zu leiden hatte, aber diese Gedanken machten ihn nun mal schwermütig und traurig. Sein Aufenthalt hier, sein Leben in China ging auf die Zielgerade, er spürte es deutlich.

 

Kapitel dreiundfünfzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Gabriel Clennam- Näheres unter den Kapiteln eins und zwanzig
Mr. DeGroot – ein älterer Herr aus Holland

Weiterhin Cha-Li, Cha-Dong und Yí-Yuè

Erwähnung finden ein Anwalt, der kaiserliche Beamte Lin Zexu, Admiral George Elliott, dessen Vetter Charles Elliott, Mrs. Clennam, Vikar McBride, Clifford Baxter, Tián-Lù und Méi-Hua

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu und bei Mr. DeGroot irgendwo in Shanghai

Glossar: ./.

 

Als sich im Winter 1838/39 der Gesundheitszustand seines Vaters mehr und mehr verschlechterte, er immer öfter wirr sprach, auch wenn er noch sehr oft klare Momente hatte, begann Arthur mit etlichen organisatorischen Dingen. Er ließ sich von seinem Vater eine Generalvollmacht ausstellen. Dann suchte er einen Anwalt auf, was schon nicht mehr so einfach war, doch schließlich fand er noch einen älteren Engländer, der diesen Beruf ausübte. Dort ließ er die Seidenmanufaktur, die nach wie vor nicht schlecht lief, als Legat seines Vaters an die Britische Ostindien-Kompanie übertragen.

Das Haus in Xujiahu Qu ließ er trotz erheblichen Protestes seitens des Anwaltes an Yí-Yuè überschreiben, die es zu einer Einrichtung für bedürftige und besondere Konkubinen machen sollte, nämlich für solche, die keine Fürsprecher hatten oder schwer vermittelbar oder zu krank oder sonst wie unfähig zum Arbeiten waren.

In Kanton ließ im März 1839 der kaiserliche Spitzenbeamte Lin Zexu dreihundertfünfzig in den Opiumhandel verstrickte Ausländer internieren, beschlagnahmte im Zuge dessen zigtausende Tonnen an Opium und ließ dieses im Juni des gleichen Jahres in einer beispielhaften Aktion ins Meer spülen. Per kaiserliches Edikt wurde der Opiumhandel zudem offiziell verboten.

Das englische Unterhaus verzichtete indessen auf eine offizielle Kriegserklärung, schickte jedoch Admiral George Elliott mit sechzehn Kriegschiffen, bestückt mit vierhundertfünfzig Kanonen und viertausend Mann Besatzung Richtung China.

Während der Flottenverband in England los segelte, besetzte der Vetter des Admirals, der englische Superintendent für den Handel mit China, Charles Elliott, im August eine Insel in der Nähe von Macao als Operationsbasis für die zu erwartenden Auseinandersetzungen.

Der einzige besiedelte Ort auf besagter Insel hieß Heung Gong Tsai!

Als von Lin Zexu diese Unmengen an Opium in das Südchinesische Meer gespült wurden, erlag in Shanghai Gabriel Clennam einem Schlaganfall. Er litt nicht sehr lange, kämpfte nur kurz und erfolglos gegen den Tod.

Auf dem Sterbebett drückte er Arthur seine Taschenuhr in die Hand, und während Cha-Li dem Sterbenden Luft zufächelte, hauchte er mit folgenden Worten sein Leben aus: „Deine Mutter, Arthur… deine Mutter, bring es wieder in Ordnung… bring alles wieder in Ordnung!“

Arthur war sichtlich verwirrt, was hatte ihm sein Vater denn damit andeuten wollen?

Cha-Li errichtete weinend einen Hausaltar und da Vikar McBride nicht mehr zugegen war, wie auch die gesamte anglikanische Kirche derzeit keinen offiziellen Vertreter in Shanghai hatte, sprach Arthur ein christliches Gebet, danach bahrte man den Toten an genau der gleichen Stelle auf, wo sieben Jahre zuvor Méi-Hua in ihrem Sarg gelegen hatte. Cha-Dong kam herbei, der schon seit dem Weggang von Clifford Baxter und Tián-Lù nicht mehr im Hause beschäftigt war, zwischenzeitlich in seinem Dorf geheiratet hatte und Vater von Zwillingen geworden war, und war sehr erschüttert über den Tod des Laoyé.

Gabriel Clennam wurde in einer ansprechenden Grabstätte, fast ein kleines Mausoleum, die Arthur und die beiden Chas in der Nähe des Hauses eingerichtet hatten, beigesetzt, während ein heftiger Monsunregen auf Xujiahu Qu nieder rauschte, so dass zu diesem traurigen Anlass nur wenige Leute anwesend waren.

Yí wusste, was dies letztendlich für sie bedeutete: Den endgültigen Abschied von Arthur Clennam! Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis er abreisen würde. Die Lage in Kanton hatte sich dramatisch zugespitzt und mit dem Tod seines Vaters hielt ihn wahrlich nichts mehr in China. Vor allem war er begierig zu erfahren, welche Bedeutung die letzten Worte seines Vaters hatten, und um dies herauszufinden, musste er zurück nach England, nach London, zu seiner Mutter.

In der Deckelklappe der Taschenuhr hatte er nämlich einen Fetzen Stoff gefunden, auf welchem geschrieben stand: „Vergiss nicht!“

Überaus geheimnisvoll.

Sie schliefen beide wenig in den Tagen nach Gabriel Clennams Tod, entweder redete sich vor allem Arthur die Seele aus dem Leib oder er tobte sich anderweitig emotional und zuweilen auch körperlich aus. Er war regelrecht versessen auf alles, was sich im Bett abspielte, ja kurzzeitig sogar fast besessen von ständigen Intimitäten mit Yí in dieser Zeit. Er konnte nicht genug von dieser Körperlichkeit bekommen. Es ließ ihn in eine Art Rauschzustand gelangen, der den Schmerz, die Trauer und die Ungewissheit, die Unsicherheit, die Angst vor der Zukunft überlagerte.

Er hatte wirklich große Bedenken, ja regelrecht Angst vor der Rückreise, da er wusste, wohin das alles führen konnte. Deswegen bemühte er sich, einen Reiseweg zu finden, der ihn nicht fast ein Jahr lang an ein Schiff binden würde, einen Weg, der nicht rund um das Kap der Guten Hoffnung führen würde. Jeden, den er dazu befragte, schüttelte nur ablehnend den Kopf. Bis er an einen alten Holländer verwiesen wurde, der angeblich seine Hinreise nach China anders gestaltet hatte.

Arthur war sehr neugierig und suchte ihn auf: „Goedemorgen, Menheer DeGroot. Ich bin Arthur Clennam, von Clennam & Sons. Man hat mich an Sie verwiesen, da Sie der einzige Europäer in Shanghai zu sein scheinen, der auf einem anderen Weg als dem Seeweg um das Kap der Guten Hoffnung hierher gekommen ist. Ist dies richtig?"

„Das ist richtig, Mr. Clennam. Ich kenne Ihre Seidenstoffe, wunderbare Arbeit, ganz vorzüglich.“

„Vielen Dank. Mein Vater ist vor kurzem leider verstorben und ich müsste nun zurück in die Heimat. Da ich auf meiner Reise nach Shanghai vor vielen Jahren teils sehr unerfreuliche Erlebnisse auf See hatte, möchte ich die Passage auf Schiffen so gering wie möglich halten und vielleicht auch Zeit einsparen. Wieder fast ein ganzes Jahr unterwegs zu sein, erscheint mir einfach zu lange und zu große Zeitverschwendung.“

Der Holländer nickte: „Das kann ich verstehen. Ich kann Ihnen gerne sagen, welche Alternativen es gibt, um ehrlich zu sein, es gibt nur zwei und eine davon ist sicher ebenso indiskutabel, denke ich.“

„Gut, ich höre.“

„Der Weg zurück komplett über Land, über die alte Seidenstrasse. Ich denke nicht, dass Sie das auf sich nehmen wollen, da ist ihnen das Schippern rund um Afrika wahrscheinlich sogar lieber.“

„Oh, allerdings!“

Arthur war entsetzt bei dem Gedanken, monatelang im Sattel auf Mauleseln, Pferden und Kamelen zubringen zu müssen, durch Wüsten und menschenleere Gegenden zu schaukeln, ungewiss, wann und ob man auf einen Brunnen treffen würde, von schrecklichen Dingen wie Sandstürmen, glühender Hitze und beißender Kälte einmal völlig abgesehen.

„Das dachte ich mir bereits. Bleibt nur der Weg, den ich eingeschlagen hatte: Sie werden mit dem Schiff voraussichtlich über die Insel Ceylon (Anm.: heute Sri Lanka) an die östliche Spitze Afrikas gelangen. Von dort aus fahren sie in das Rote Meer am Sinai vorbei bis zu der ägyptischen Stadt As Suways (Anm.: wir kennen es als Sues). Dort werden sie von Karawanen über Land nach Al Qahirah (Anm.: Kairo) gebracht, von dort aus kann man auf Dhaus den Nil hinab und über den kürzlich wieder errichteten alt-ägyptischen Mamouhdieh Kanal bis nach Al Iskandariyah (Anm.: Alexandria) gelangen. Dort besteigen Sie ein Schiff über das Mittelmeer, das Sie auf das europäische Festland bringt. Genua oder Marseille, würde ich vermuten.“

„Menheer DeGroot, das klingt nicht minder abenteuerlich, als eine Reise rund um ganz Afrika.“

„Nun, es klingt schlimmer als es ist. Es gibt inzwischen sogar Pläne, dass man einen Durchstich, einen Kanal, vom Mittelmeer in das Rote Meer vornehmen möchte, nach derzeitiger Lage der Dinge wohl zwischen As Suways und Bur’Said (Anm.: Port Said), es wäre eine gerade und kurze Strecke. Aber bis das soweit ist, vergehen sicher noch sehr viele Jahre. Dies wäre natürlich eine enorme Verkürzung der Strecke für die Schiffe, es würde sehr viel Zeit und Geld sparen.“

Arthur war sehr skeptisch. Er würde ein gutes Stück über Land müssen, vom Roten Meer nach Al Qahirah. Andererseits – es war deutlich besser als der lange Seeweg.

Er fragte nach: „Wie viel Zeit würde mir diese Route ersparen?“

„Sie werden höchstens vier bis fünf Monate bis nach As Suways benötigen. Das Problem ist, dass man die malayische Halbinsel und Sumatra umschiffen muss, da diese Länder dem direkten Weg nach Ceylon leider ein bisschen im Weg sind. Das dauert ein wenig. Der Landweg nach Al Quahirah ist gar nicht so weit. Mit einer guten Karawane in einer Woche zu bewältigen. Allerspätestens nach einem weiteren Monat sollten Sie komplett vom Roten Meer ans Mittelmeer gelangt sein. Die Überfahrt nach Marseille wird dann nochmals in etwa sechs Wochen in Anspruch nehmen.“

Arthur rechnete, das waren ja nicht einmal acht Monate, er würde höchstwahrscheinlich zwei Monate, unter Umständen auch mehr, an Zeit einsparen. Würde das die Anstrengung lohnen? Er hoffte es sehr. Zu dumm, dass man diesen komischen Kanal da noch nicht gebaut hatte.

„Ich danke Ihnen für die ausführlichen Informationen und Ihre Ausführungen. Sie haben mir damit sehr weitergeholfen. Nun bleibt zu hoffen, dass ich diese ebenfalls sehr abenteuerliche Reise auch überstehe.“

„Ach, wenn ich alter Mann das geschafft habe, dann stellt das für Sie kein großes Problem dar, Mr. Clennam. Es freut mich, dass ich Ihnen habe helfen können.“

Noch am gleichen Tag begann ein sehr nachdenklicher Arthur Clennam im Haus in Xujiahu Qu seine Truhen und Sachen zu packen. Er war sehr schweigsam und brachte Yí dadurch fast ständig zum Weinen.

 

End Notes:

 

Es gibt zu fast jedem geposteten Kapitel immer entsprechende Bilder im Forum!

Kapitel vierundfünfzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Yí-Yuè – Näheres unter Kapitel sechsundvierzig

Weiterhin Bootsman und restliche Besatzung der Marjorie

Erwähnung finden Mrs. Clennam, Gabriel Clennam, Clifford Baxter, Tián-Lù, Charles Elliott, Flora Casby, Rafaela Campos-Fuentes, die Muschelsammlerin von Sao Tomé, spanische Mädchen und die Bevölkerung von Colombo/Ceylon

Orte: Im Hause Clennam in Shanghai/Xujiahu Qu, auf hoher See zwischen Shanghai und Hainan und zwischen Hainan und Ceylon an Bord des Klippers Marjorie, in Sanya auf Hainan und in Colombo auf Ceylon.


Glossar:
Stone – englische Gewichtseinheit, ein Stone entspricht bei uns ca. sechs Kilogramm

 

Yí war bereits über vierzig Jahre alt, nicht, dass das Arthur irgendetwas ausgemacht hätte, aber Asiatinnen verfielen rascher im Alter. Sie waren in ihrer Jugend und als junge Frauen meist von berückender Schönheit, doch diese verblasste mit zunehmendem Alter einfach viel schneller als dies bei Frauen in westlichen Ländern der Fall war.

Es war gut, dass sie nach wie vor oft und lange spazierenging, so blieb sie weiterhin recht schlank, auch wenn sich an Hüfte oder Po das ein oder andere kleine Pölsterchen eingeschlichen hatte.

Arthur ging es allerdings kaum anders, er hatte, seit er in China war, sicherlich ein oder auch eineinhalb Stone zugenommen. Dass er ebenfalls stramm auf die Vierzig zuschritt, war zusätzlich ein Faktor für die Gewichtszunahme. Vielleicht konnte er auf dem Schiff wie früher ein wenig aktiv mitarbeiten und so einige überflüssige Pfündchen loswerden.

Eine entsprechende Passage, ein Schiff nach Ägypten zu finden, war eine Sache für sich. Er musste auf gut Glück erst einmal nach Ceylon, vor dort aus würde es deutlich einfacher sein, eine große Dhau zu finden, die dorthin segeln würde. Also wartete er auf eine Nachricht aus dem Hafen, dass ein Segler mit Ziel Ceylon Shanghai verlassen würde.

Die letzten Tage und vor allem Nächte verbrachte er überwiegend damit, Yí zu trösten und ihr die Dinge wieder und wieder zu erläutern, sie ihr nahezubringen: „Süße Yí, du wusstest von Anfang an, dass es ein Ende haben würde, nicht wahr?“

„Wusste ich, ist aber sehr hart, wenn Abschied dann tatsächlich da.“

„Glaubst du denn, für mich wäre es weniger hart? Ich gehe mit sehr viel Schmerz im Herzen.“

„Ich bin dankbar sehr, dass ich kann bleiben in schönes Haus. Immer dann können denken an Arthur.“

„Ja. Das sollst du auch. Du wirst dich gut um die anderen Qiès kümmern, da bin ich mir sicher.“

„Ich geben große Mühe, wenn nicht immer werden traurig, weil Arthur weggegangen ist.“

„Yí, du sollst nicht so reden. Und bitte nicht wieder weinen. Ich kenne schon gar kein anderes Gesicht mehr von dir, seit Vater tot ist.“

Seine Worte hatten nur zum Ergebnis, dass sie umso mehr schluchzte: „Arthur… nicht fühlen so wie ich… so geschlagen nieder und getäubt.“

„Betäubt heißt das.“

Sie brauste auf: „Egal! Ich bin getäubt, getäubt, getäubt! Aber Arthur das nicht kümmert, er denkt nur an große Rückreise und wie er kommt nach… Ägü… na, dahin eben.“

„Ägypten.“

„Und immer weiß alles besser!“

„Sch! Beruhige dich doch. Ich möchte doch nur, dass du es richtig lernst.“

„Brauche jetzt nix mehr lernen! Aus! Wie sagen immer… finito!“

„Das ist Italienisch.“

Sie heulte auf: „Schon wieder verbessern mich, ach, Arthur ist grausam.“

Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sie die ganze Nacht fest im Arm zu halten und sie auf diese Art und Weise zu trösten.

„Schau, ich muss auch wegen des Zettels in der Taschenuhr nach Hause. Und ich muss Mutter sehen und ihr die Nachricht vom Tode ihres Gatten bringen. Was nicht sehr einfach für mich ist. Außerdem“, er hielt einen Moment inne, schluckte nervös und sprach dann aber so ruhig wie möglich weiter, „ich bin Ende Dreißig und ich bin der einzige Erbe der Firma. Somit ist es auch meine Pflicht, für… also für Nachkommen zu sorgen. Dafür brauche ich eine nette englische Frau.“

„Nur wegen machen Kind?“

„Kinder. Nicht nur, Yí, natürlich wünsche ich mir eine Frau an meiner Seite, die mein Leben auch anderweitig bereichert. Die mich liebt und die ich liebe.“

„Arthur heiraten aus Liebe dann?“

„Das hoffe ich sehr. Ich würde mich gerne in eine passende Frau verlieben und sie vor allem deswegen heiraten.“

„Lieben nix Yí?“

Viereinhalb Jahre lang war das nie ein Thema gewesen. Konkubinen wussten, dass es eigentlich völlig indiskutabel war, darüber mit dem Gönner zu sprechen.

Bei Clifford und Tián war er es gewesen, der diese Sache zur Sprache gebracht hatte, nicht sie.

Auch Meí hatte niemals das Wort benutzt. Sie hatte sich trotz aller innigen Verbundenheit mit Arthur da sehr strikt an die Regeln gehalten. Doch Yí war emotional völlig aufgelöst und daher überschritt sie diese Grenze.

Arthur wusste nicht genau, was er sagen und wie er sich verhalten sollte.

Aber sie hatten ganz zu Anfang das Prinzip der Ehrlichkeit vereinbart, und daran wollte er sich halten: „Doch, sehr sogar. Aber – es ist nicht das, was ich mit einer Ehefrau haben kann. Ich tue dir jetzt in diesem Moment ganz sicher sehr weh, denn ich sage nun, dass ich eine passende Frau aus meiner Heimat jederzeit einer chinesischen Qiè vorziehen würde – was den heiligen Stand der Ehe anlangt!“

Sie schrie auf und rollte sich von ihm weg.

Er hatte Mühe, sie zu bändigen und zur Vernunft zu bringen: „Yí! Ich sagte doch, ich muss dir wehtun, der Ehrlichkeit wegen. Das bedeutet nicht, dass du für mich weniger wert bist oder du nicht einen Platz in meinem Herzen hättest. Den hast du, keine Sorge. Bis ans Ende meiner Tage.“

„Arthur das schwören?“

„Aber sicher, ich schwöre es!“

Sie beruhigte sich langsam und kuschelte sich wieder an ihn.

Und er ergänzte: „Ich schätze auch, dass es für meine zukünftige Frau von nicht unerheblichem Interesse sein dürfte, was ich hier von meinen beiden Qiès gelernt habe.“

Sie schniefte an seiner Brust und murmelte: „Bekommt sie perfekten Bettgenossen.“

Er musste lächeln: „Na, wenn du das sagst.“

„Ich muss überprüfen! Sofort!“

„Nichts lieber als das. Welches Programm wünscht sich die Dame?“

Sie kicherte, was sich in ihrer Stimmlage nie kindisch oder schrill anhörte: „Ich darf mir wünschen?“

Er bekräftigte dies durch ein deutliches Nicken.

„Dann möchte haben großes Verwöhnprogramm Arthur Spezial für Yí.“

Arthur schmunzelte: „Dachte ich mir. Du raffiniertes Weibsstück, du!“

Und dann beeilte er sich, das Gewünschte zu liefern.

Er hielt den Zettel vom Hafen in der Hand und fing tatsächlich an zu zittern. Er würde am kommenden Tag mit dem Klipper Marjorie nach Ceylon auslaufen! Arthur begann - völlig untypisch für ihn - in den letzten Stunden in Shanghai regelrecht hektisch zu werden.

Yí hatte er nach Xinzhuang geschickt, in weiser Voraussicht, da sie ihm in Xujiahu Qu nur im Weg gestanden wäre. Sie sollte dort einigen Mädchen beim Packen und Umsiedeln nach Xujiahu Qu helfen.

Sie würde erst spät am Abend zurückkehren, dann blieb ihnen eine allerletzte gemeinsame Nacht.

Sie hatte Angst gehabt, er würde weg sein, ohne sich von ihr zu verabschieden, wenn sie aus dem Haus war, aber das brachte er nun wahrlich nicht übers Herz. Er würde sie ein letztes Mal in seinen Armen halten, in seinem Bett haben.

Am Tag der Besetzung Heung Gong Tsais durch Charles Elliott segelte Arthur Clennam in Shanghai an Bord der Marjorie los. Yí hatte sich sehr gefasst und ruhig von ihm verabschiedet, eigentlich in perfekter Konkubinen-Manier. Es war Arthur beinahe zu sachlich vonstatten gegangen, doch schließlich hatte er Tränen in ihren Augen schimmern sehen und als er sich vom Haus entfernt hatte, hatte er sich zwar nicht mehr umgedreht – es hätte ihm sonst das Herz gebrochen – aber er hatte sie dann sehr laut wehklagen gehört.

Er meldete sich sofort beim zuständigen Bootsmann und fragte, ob man ihn als Aushilfe beschäftigen würde.

Der Mann schaute Arthur an, als hätte dieser ihm einen völlig indiskutablen Vorschlag gemacht und nachdem er verstohlene Blicke auf die mittlerweile etwas behäbigere Figur des Passagiers geworfen hatte, sagte er: „Wo denken Sie hin, wir lassen unsere Passagiere doch nicht arbeiten hier. Und Sie sehen so elegant und weltmännisch aus, Mr. Clennam, dass ich - ehrlich gesagt - Ihnen eine handfeste Arbeit auch gar nicht zutraue.“

„Gut. Möchten Sie eine Kostprobe?“

„Lieber nicht, Sie sehen so untrainiert und… ähm, wohlständisch aus, dass das schwerlich gut gehen würde, verzeihen Sie meine Offenheit.“

Arthur sagte nichts mehr, er wollte sich schließlich nicht aufdrängen. Also begnügte er sich vorerst damit, seit vielen Jahren wieder eine Seereise zu genießen; er hatte sich zwar nicht direkt danach gesehnt, aber nun, wo er an Bord war und die Seeluft ihm um die Nase wehte, spürte er doch wie gut es ihm tat.

Da in Kanton kriegsähnliche Zustände herrschten, verzichtete man auf ein Anlegen dort. Stattdessen segelte die Marjorie weiter nach Sanya an der Südspitze der Halbinsel Hainan. Arthur konnte kaum glauben, dass dies noch zu China gehörte, denn es sah dort so aus, wie auf den Kokos-Inseln oder auf Sao Tomé: Palmen, blütenweiße Strände und türkisfarbenes Meer. Zum ersten Mal seit Jahren badete er recht unbeschwert im Indischen Ozean, genoss das Tropenparadies und fühlte sich so leicht wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Dennoch hatte er stets ein wachsames Auge auf Haifische. Es war der erste Tag seit dem Tod seines Vaters, an welchem er sich unbelastet, nicht mehr depressiv und wieder halbwegs fröhlich fühlte, denn inzwischen hatte er auch die Trennung von Yí einigermaßen überwunden.

Wochenlang herrschte extrem gutes Wetter, die Marjorie überquerte jedoch nie den Äquator, hielt sich stets in den nördlichen Tropen auf und schob sich durch exotische Inselwelten um Viet Nam, der Britischen Kronkolonie Straits Settlements (Anm.: heute Malaysia, Straits Settlements war vor allem rund um Georgetown und Penang) und Sumatra herum.

Nach zehn Wochen Fahrt erreichte man Colombo auf Ceylon. Dort herrschte sehr geschäftiges Treiben; ein großer Hafen und ein herrschaftliches Gebäude der BOK erinnerten daran, dass die Briten hier handelsmäßig das Sagen hatten und Tee, Gewürze, Hölzer und sonstige Waren in Unmengen dort umgeschlagen wurden.

Die Marjorie lud ebenfalls einiges an Sandelholz, das für Bauvorhaben in den ostafrikanischen Ländern bestimmt war. Im Hafen von Colombo sah Arthur auch zum ersten Mal die arabischen Handelsschiffe, so genannte Dhaus, auf einer davon würde er dann weitersegeln.

Angesichts der lärmenden Masse von Menschen der indischen Rasse, wieder etwas Neues für Arthur, zog er sich aber so weit wie möglich aus dem Trubel zurück. Colombo kam ihm außerdem sehr schmutzig, überfüllt und kaum sehenswert vor. Er sah zwar einige der einheimischen Frauen, reich geschmückt, mit prachtvollen Gewändern, aber er hatte so gar kein Interesse mehr an ihnen. Irgendwie träumte er inzwischen oft von einer blonden, englischen Rose… er konnte keine schwarzhaarigen oder brünetten Frauen mehr sehen. Sie hatten seither stets sein Leben geprägt, ob es Flora Casby in seinen Jugendjahren gewesen war, die schönen spanischen Mädchen in Vigo damals, nicht zu vergessen die rassige portugiesische Schönheit Rafaela aus Luanda, ja sogar die Muschelsammlerin am Strand von Sao Tomé, die erste Frau, der er sich – wenn auch eher unfreiwillig - nackt präsentiert hatte, und dann natürlich seine chinesischen Konkubinen – er hatte mittlerweile ein fast schmerzhaftes Verlangen nach einem völlig gegensätzlichen Typ.

 

End Notes:

 

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Kapitel fünfundfünfzig by doris anglophil
Author's Notes:

 

Personenverzeichnis:

Arthur Clennam – Näheres unter Kapitel eins
Mr. Meagles – Engländer auf der Rückreise
Mrs. Meagles – Gattin von Mr. Meagles
Pet Meagles – deren Tochter
Harriet, genannt Tattycoram – Ziehtochter der Meagles
Miss Wade – allein reisende Engländerin

Weiterhin ein Gesundheitsinspektor der Hafenbehörde von Marseille, die Besatzungen einer Dhau und der Brigantine Nuage d’Orient

Erwähnung finden Gabriel Clennam, Martin Brown und Méi-Hua

Orte: Auf hoher See zwischen Ceylon und Ägypten an Bord einer arabischen Dhau, in der ägyptischen Wüste zwischen As Suways und Al Qahirah, in einer koptischen Kirche in Al Qahirah, auf dem Nil und dem Mahmoudieh-Kanal zwischen Al Qahirah und Al Iskandariyah, auf hoher See zwischen Ägypten und Malta , zwischen Malta und Sardinien und zwischen Sardinien und Frankreich an Bord der Brigantine Nuage d’Orient, in La Valetta auf Malta, in Cagliari auf Sardinien und in Marseille, Frankreich.

Glossar: Kafiyah – arabisches Männerkopftuch

 

Nach dem Wechsel des Schiffes, von der Marjorie auf eine typische Dhau, waren lange Tage auf See angesagt, es war eine der langweiligsten und ruhigsten Überfahrten, die man sich denken konnte. Es gab keine Flauten, keine Stürme, es geschah wochenlang nichts!

Arthur machte das Nichtstun verrückt. Er langweilte sich zu Tode und war beinahe soweit sich einzureden, dass eine Afrika-Umrundung doch wesentlich abwechslungsreicher gewesen wäre. Er war sich selbst böse, dass er auf diese ungewöhnliche und kürzere Route bestanden hatte.

Zwischen Adan (Anm.: Aden im Jemen) und Tajoura (Anm.: heute in Djibouti) verließ man den Indischen Ozean und fuhr in das Rote Meer ein. In Tajoura gab es auch einen kurzen Landgang, da es Arthur aber kaum möglich war, sich irgendwie verständlich zu machen, verzichtete er darauf.

Er fühlte sich überdies gesundheitlich seit einiger Zeit nicht mehr ganz auf der Höhe, er schrieb das dem merkwürdigen Essen und den nicht sehr guten hygienischen Verhältnisse auf der Dhau zu.

Ab und zu plagte er sich nicht unerheblich mit Magen-Darm-Problemen herum. Er hoffte nur, dass er sich nicht die Ruhr oder eine ähnliche Krankheit eingefangen hatte.

Als sich das Rote Meer verengte und man den Sinai rechts liegen ließ, konnte Arthur zum ersten Mal richtige Wüste an der Küstenlinie bestaunen. Von weitem sah man nur ockergelben Sand, doch manches Mal, kurz vor Erreichen von As Suways, fiel der Blick auf hohe Wanderdünen, die sich jenseits des Wassers auftürmten.

Abenteuerlich wurde es mit dem Umstieg von der Dhau auf eine Karawane nach Al Qahirah. Es war nun kurz vor Weihnachten und Arthur hoffte, dass man die Stadt bis zum Weihnachtstag erreicht haben würde. Mit äußerst gemischten Gefühlen machte er sich mit seinem Kamel vertraut. Er hatte Angst vor diesem Wüstenschiff, da er schon auf einem Pferd keine gute Figur machte.

Doch als er sich an das leidige Geschaukel, vor allem beim Auf- und Absteigen, gewöhnt hatte, fand er Kamelreiten gar nicht so übel und sogar deutlich bequemer als auf einem Pferderücken sitzen zu müssen.

Über seine recht europäische Kleidung, die er nur noch teils anhatte, da enge Fräcke oder auch Gehröcke auf einem Ritt durch die Wüste nicht unbedingt geeignet waren, hatte er eine Art Kaftan gezogen, und sein Kopf wurde vor Sand und Sonne von einer Kafiyah, dem orientalischen Männerkopftuch, geschützt.

Die Karawane war erstaunlich gut ausgestattet, eine Tatsache, die Arthur wirklich positiv überraschte. Es wurde am Abend immer gekocht, wenn auch nur bescheidene und sehr gewöhnungsbedürftige Speisen, es gab genügend Trinkwasser, man hatte Zelte dabei und übernachtete auch einmal in einer kleinen Siedlung am Rande einer Oase.

Als die Pyramiden von Gizeh in der Ferne sichtbar wurden, und der Nil vor ihnen lag, konnte Arthur sein Glück kaum fassen! Da bis zum Ablegen der Fluss-Dhau auf dem Nil noch Zeit war, streifte er in der Nähe der Stadt herum und fand zufällig eine koptische Kirche, diese feierte ihr Weihnachtsfest jedoch erst später, weswegen Arthur einen zwar einsamen, aber eben auch ruhigen und besinnlichen Weihnachtstag verbrachte. Er zündete dort Kerzen an, für die Toten Martin, Méi und seinen Dad, dann betete er alleine und zurückgezogen, bevor er wieder in das grelle Sonnenlicht hinaustrat.

Nilabwärts zu fahren war so einfach nicht, da sich der Fluss mehr und mehr in diverse Kanäle verzweigte, je näher er seinem Delta am Mittelmeer kam. Es waren teilweise geschickte Manöver vonnöten, da manchmal der Wasserstand nicht ausreichend war, Sandbänke auftauchten, die da zuvor noch nie gewesen waren, oder die kleinen Dhaus einfach zu ungeschickt gesteuert wurden. Arthur hatte den Eindruck, als würden die ägyptischen Binnenschiffer mehr schlafen als aufmerksam das Boot zu lenken.

Nach tagelangen Mühen und schlängelndem Flusslauf ging es dann kurz vor der Nilinsel von Mahmoudiah in den Kanal Richtung Al Iskandaryiah. Das Land war hier grün und fruchtbar, es gab in dieser Gegend viele Bauern.

Der Kanal war recht gerade gestochen, nicht so mäandernd wie der untere Nil. Wenn er die Richtung änderte, dann eher abrupt, etwas eckig und eben künstlich angelegt.

Dieser Wasserweg kam in der Tat direkt am Mittelmeer heraus, leicht südwestlich der Stadt selbst. Nach einem halben Jahr Reisezeit war er am Mittelmeer angekommen, für ihn selbst nur schwer fassbar. Es war nun Anfang Februar 1840 und er würde zusehen müssen, dass er eines der europäischen Schiffe, die mit Ägypten oder anderen Ländern des osmanischen Reiches Handel trieben, sicherlich viele italienischen oder französischen Ursprungs, um eine Passage anging.

Nach zwei miserablen Nächten in einer mehr als bescheidenen Herberge am Hafen fand er die französische Brigantine Nuage d’Orient, eine Dreiviertelbrigg mit Fock- und Großmast, getakelt mit Gaffel- und Rahsegel, mit Ziel Marseille. Er blätterte nicht gerade wenig Geld in Form seiner letzten Silbermünzen hin und durfte mitsegeln.

Als er dann noch seine bescheidenen Französisch-Kenntnisse zusammenkratzte und fragte, ob er ein wenig mitarbeiten durfte und man ihm dies gestattete, blühte er ein wenig auf. Nach dem ersten Tag taten ihm zwar alle Knochen weh und er hatte Schmerzen in den Muskeln, aber er fühlte sich nicht mehr so unnütz und eingerostet.

Zwischen Ägypten und der britischen Kolonie Malta lief Arthur zu seiner Hochform auf. Es machte ihm ganz außerordentlich Spaß, wieder aktiv zur See fahren zu können. Und er hatte mit der kürzeren Reiseroute, auch wenn diese teils etwas sonderbar gewesen war, enorm viel Zeit gespart, das freute ihn.

Das Wetter war zwar nicht so sehr warm, es war Frühjahr und man befand sich nun wieder in gemäßigten Breiten, aber trotzdem tat ihm die harte körperliche Arbeit extrem gut. Er bräunte leicht, da die Sonne begann Kraft zu entwickeln, und seine Sommersprossen, die sich in den Tropen zwischen Sumatra und Ägypten gebildet hatten, verblassten nicht ganz.

Als er in Malta britischen Boden betrat, war er so glücklich wie schon seit Monaten nicht mehr. Er genoss es, mit den Leuten in seiner Sprache zu kommunizieren, er bekam Essen vorgesetzt, dass er seit fünfzehn Jahren nicht mehr gegessen hatte und strahlte regelrecht.

Er kleidete sich teilweise neu ein, kaufte frische Hemden und einen wundervollen Hut neuester Machart aus beigefarbenem edelstem Filz, der fein gekämmt und gearbeitet war, und sich viel bequemer trug als diese hohen, steifen Zylinder.

Nicht mehr zu halten war er, als er in einem Laden in La Valetta tatsächlich Stoffe von Clennam & Sons erspähte. Er fühlte sich mit einem Mal so weit weg von China und so nah der Heimat, obwohl noch ein gutes Stück Seereise und Landweg vor ihm lagen, dass er es selbst kaum glauben konnte, dass er fünfzehn Jahre in Asien verbracht hatte.

Der Sturm kam, als man die winzige Insel Pantelleria zur Linken und Sizilien zur Rechten passiert hatte und auf Sardinien zusteuerte.

Arthur stöhnte in böser Vorahnung auf, als dunkle Wolken heraufzogen, der Wind böig auffrischte und der Kapitän befahl, alle Segel bis auf eines einzuholen.   

Es ging ihm schlecht bis kurz vor Cagliari auf Sardinien. Ach, wenn doch die ganze Welt nur aus Land und nicht aus so viel Wasser bestünde! Wie furchtbar, dass er die Seekrankheit einfach nicht im Griff hatte, sie nicht besiegen konnte. Er hasste es. In besagtem sardischen Hafen teilte man ihm mit, dass er für mindestens einen Monat in Quarantäne in Marseille würde bleiben müssen, da er aus Ländern anreiste, die bekannt dafür waren, dass von dort unbekannte, schwere Krankheiten nach Europa eingeschleppt werden konnten.

Arthur verdrehte die Augen, als ihm dies gesagt wurde. Ach, das hatte ihm gerade noch gefehlt! Ein Gutteil der Zeit, die er nun über Ägypten eingespart hatte, ging ihm dadurch wieder verlustig. Er ärgerte sich. Machen konnte man gegen diese Verfügung jedoch wenig und er sah natürlich die Notwendigkeit dieser Maßnahme nach dem ersten Moment des Unverständnisses ein.

Es war sonnig und angenehm auf Sardinien nach dem überstandenen Frühjahrssturm. So dachte Arthur, dass er versuchen könnte, im Mittelmeer zu baden, etwas, das ihm in seiner Sammlung noch fehlte. Doch er merkte rasch, dass die Osterzeit - selbst wenn das Wetter schön war - einfach zum Schwimmen in diesen Breiten wohl weniger geeignet war. Er kam nicht einmal bis zu den Hüften ins Wasser und musste umdrehen, weil es einfach zu kalt war. Er klappert mit den Zähnen, zog sich eilends wieder an und kehrte leicht enttäuscht zur Nuage d’Orient zurück.

Kurz vor seinem achtunddreißigsten Geburtstag kam er wohlbehalten in Marseille an. Für Arthur war es ein überwältigendes Gefühl, seinen Fuß nach so langer Zeit wieder auf europäischen Boden zu setzen.

In Marseille herrschte sehr viel Betrieb im Hafen und er wurde auch gleich vom Gesundheitsinspektor der Hafenmeisterei begrüßt und in drei Sprachen über die Quarantäne-Maßnahmen instruiert. Dann führte man ihn gemeinsam mit weiteren Ankömmlingen von anderen Schiffen zu dem abgesperrten Bereich, neben ihm ging sehr selbstbewusst eine Frau, die er in gleichem Alter zu ihm einschätzte. Er nickte ihr höflich zu, da er nicht wusste, welcher Nationalität sie angehörte. Sie nickte knapp zurück, machte aber keinerlei Anstalten, sich auf eine Unterhaltung einzulassen. Offensichtlich, weil auch sie sich nicht sicher war, in welcher Sprache man reden sollte.

Der Quarantäne-Block war großzügig angelegt, mit Unterkünften, Speisesaal, und einer großen Außenanlage, von wo aus man einen Teil der Stadt und das Meer überblicken konnte.  

Hinter sich hörte er einen Mann englisch sprechen: „Ah, wir werden uns damit abfinden und uns arrangieren müssen, nicht wahr Tattycoram?“

Arthur drehte sich erfreut um und sah sich einem Mann von etwa Mitte Fünfzig gegenüber, umringt von drei Frauen, wovon eine ganz sicher seine Ehefrau zu sein schien. Die andere junge Frau war eine Farbige, offensichtlich ein Mischlingskind und die dritte Dame zauberte Arthur sogleich ein Lächeln auf die Lippen. Sie war groß, schlank, blond und durch und durch eine englische Rose vom Lande, das sah er sofort.

Er ging ein paar Schritte auf diese Leute zu, verbeugte sich und sagte: „Wie ich höre, kommen Sie aus England, meinem Heimatland. Mein Name ist Arthur Clennam, gerade hier in Marseille angekommen von einer sehr langen Reise aus Asien. Ich schätze, wir werden ein Weilchen hier gemeinsam interniert sein.“

„Ach, welch eine Freude, einen Landsmann hier zu treffen! Meine Familie und ich sind hocherfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin Robert Meagles, dies ist meine Gattin, unsere Tochter Pet und unsere Ziehtochter Tattycoram… ähm, Verzeihung Harriet eigentlich.“

„Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Mr. Meagles, Mrs. Meagles, Miss Meagles, Miss Harriet.“

Und er konnte seinen Blick kaum noch abwenden von der leicht kühlen Schönheit, die Pet Meagles repräsentierte.

Er lächelte noch immer versonnen, als sich ihm die andere Dame näherte, die er auf dem Weg in die Quartiere bereits gesehen hatte, und die ihn nun ebenfalls sehr selbstbewusst auf Englisch ansprach: „Sie sind also auch Engländer, das habe ich mir fast gedacht.“

„Um ehrlich zu sein, ich mir auch. Arthur Clennam, sehr erfreut.“

„Ich bin Miss Wade, angenehm.“

Er war froh, dass er etliche Engländer getroffen hatte, mit diesen zur Gesellschaft würden die Tage der Quarantäne sicher schnell vorübergehen. Dazu lag sein Geburtstag inmitten dieser Zeit. Arthur war zuversichtlich und recht guter Dinge. Und Pet Meagles! Was für ein zauberhaftes Wesen sie doch war!

 

Epilog 

Arthur Clennam war sich bei seiner Rückkehr nach England so sicher gewesen, dass er und Pet Meagles ein Ehepaar werden würden. Sie hatte zuerst all das für ihn verkörpert, was er sich in seinen Träumen von einem Eheleben in England zusammengesponnen hatte.

Und dann – kam alles ganz anders! Es passierten Dinge, die er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt hatte, Dinge, die er niemals für möglich gehalten hätte: Schöne Dinge, furchtbare Dinge.

Am Ende erschloss sich Arthur Clennam das Familiengeheimnis, dessen Existenz ihm ja durch die letzten Worte seines Vaters und die ihm vererbte Taschenuhr offenbart worden war, und er fand auch sein persönliches Liebesglück – jedoch nicht bei Pet Meagles!

Als er heiratete, war er vierzig Jahre alt und der glücklichste Mann der Welt, jedenfalls nach seinem Dafürhalten. Doch bis dahin hatte er noch einiges an Abenteuern in der Heimat zu durchleben – das jedoch sollte man bei Charles Dickens „Little Dorrit“ nachlesen oder sich in der gleichnamigen, mehrteiligen Verfilmung der BBC aus dem Jahr 2008 ansehen, deren wundervoller Arthur Clennam natürlich eindeutig Pate gestanden hat für diese Abenteuer-Geschichte von mir!

 

End Notes:

 

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