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„Miss Margaret!“, Atemlos und völlig aufgelöst stand Mary im Treppenhaus.
„Was ist passiert?“ eine dunkle Vorahnung kroch in Margaret empor.
„Ein Feuer in der Fabrik, es hat gebrannt“, erwiderte Mary schluchzend.
„Um Gottes Willen! Wurde jemand verletzt?“ sie hielt sich die Hände vor den Mund: „Geht es John gut?“
Sie erkannte an Marys Gesichtsausdruck, dass es John keineswegs gut ging.
„Mary, nun sag doch etwas, ist Mr. Thornton etwas geschehen?“, Margaret schrie die Worte fast aus.
„Dr. Donaldson ist gerade bei ihm. Er hat versucht, jemanden aus dem Feuer zu bergen. Dabei ist einer der Deckenbalken eingestürzt und hat ihn am Kopf verletzt.“
Margaret stieß einen spitzen Schreckensschrei aus.
„Ich muss zu ihm!“ in Windeseile hatte sich Margaret angezogen und verließ gemeinsam mit Mary das Haus. Sie rannten fast den Weg nach Marlborough Mills.

Sie hatte gerade das Wohnhaus betreten, als ihr Mrs. Thornton auf der Treppe entgegen kam.
„Wie geht es ihm?“, fragte Margaret völlig außer Atem, die Tränen liefen in Strömen über ihr Gesicht.
„Margaret, beruhigen Sie sich, es ist nicht so schlimm, wie es aussieht. Er hat eine Gehirnerschütterung, dazu einige Platzwunden und Brandverletzungen und eine leichte Rauchvergiftung. Also nichts, was mit ein paar Tagen Bettruhe und guter Pflege nicht wieder in Ordnung käme“, redete Mrs. Thornton auf sie ein.
„Wo ist er?“, erwiderte Margaret.
„Margaret, er schläft, Sie könnten im Moment ohnehin nichts für ihn tun.“
„Bitte! Ich muss ihn sehen!“, flehte Margaret.
Mrs. Thornton sah ihre zukünftige Schwiegertochter einige Momente an und nickte schließlich: „Also gut, die zweite Tür rechts.“
Kaum hatte Mrs. Thornton zu Ende gesprochen, war Margaret auch schon oben an der Treppe. Vorsichtig drückte sie die Türklinke hinab und schlüpfte fast geräuschlos in das Zimmer. Die einzige Lichtquelle kam von einer Kerze, die auf einem Tisch in der Nähe des Bettes stand. Der restliche Raum lag in Dunkelheit und man konnte nur vage Umrisse einiger Möbel erkennen. Sie trat näher an das Bett und musste einen Schrei unterdrücken. Wie leblos lag John in den weißen Laken. Um seinen Kopf war ein dicker Verband gewickelt. Sein Gesicht war leichenblass unter den zahlreichen Schürfwunden. Sie nahm vorsichtig seine Hand, hob sie an ihre Lippen und hauchte einen Kuss auf seine Handfläche, bevor sie ihr Gesicht in seine Hand schmiegte. „Oh John“, flüsterte sie und stumme Tränen liefen über ihr Gesicht. „Bitte verlass mich nicht, Du bist mein Leben, ich liebe Dich so sehr.“

So fand Mrs. Thornton ihre zukünftige Schwiegertochter und ihren Sohn vor, als sie einige Zeit später Johns Schlafzimmer betrat. Margaret sah kurz aus ängstlichen und rot verweinten Augen auf. Mrs. Thornton deutete stumm auf die Tasse Tee in ihren Händen, aber Margaret schüttelte nur den Kopf und wandte sich wieder John zu. Das erste Mal, seit Mrs. Thornton Margaret kannte, empfand sie so etwas wie Zuneigung zu der jungen Frau. Sie erkannte, dass Margaret ihren Sohn wirklich liebte und sie ihm eine gute Frau sein würde.
Sie trat auf sie zu und legte ihr mitfühlend eine Hand auf die Schulter.
„Er wird wieder gesund, Margaret“, flüsterte Mrs. Thornton. Margaret nickte stumm und wieder liefen Tränen über ihre Wangen.
„Danke, Mrs. Thornton“, brachte Margaret stockend über ihre Lippen.
„Hannah, mein Name ist Hannah“, antwortete die ältere Frau und ein kurzes Lächeln huschte über ihr Gesicht.

John blinzelte kurz und öffnete vorsichtig seine Augen. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Kopf. Er nahm nur verschwommene Umrisse wahr und wusste im ersten Augenblick nicht, wo er war. Langsam nahm seine Umgebung Konturen an. Er war in seinem Zimmer, lag in seinem Bett. Was war passiert?
Allmählich kamen die Erinnerungen wieder zurück. Ein Feuer! Ein Feuer war in der Fabrik ausgebrochen. John fürchtete wieder das Bewusstsein zu verlieren und versuchte tief durchzuatmen. Das löste einen unkontrollierten Hustenanfall aus und Margaret und Mrs. Thornton sprangen erschreckt auf.
„John?“, flüsterte Margaret und legte eine Hand auf seine Stirn. Mrs. Thornton stand bereits hinter ihr und hielt Margaret eine Tasse entgegen. Sobald der Anfall abgeebbt war, griff Margaret vorsichtig in seinen Nacken und hob langsam seinen Kopf an, mit der anderen Hand hielt sie die Tasse an seine Lippen. John nahm zwei kleine Schlucke, dann schloss er wieder erschöpft die Augen.
Margaret stellte die Tasse ab und legte ein feuchtes, kühles Tuch auf Johns Stirn.
„Margaret“, kam es leise über Johns Lippen.
Sie griff nach Johns Hand und drückte sie leicht.
„Ich bin hier, Liebster“, erwiderte sie und küsste seinen Handrücken. Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Mundwinkel, bevor er wieder einschlief.

„Margaret“, flüsterte jemand wie aus weiter Ferne und sie fühlte eine Hand auf ihrer Schulter. Sie öffnete erschreckt die Augen. Sie musste für einen Augenblick eingeschlafen sein. Ihr Blick fiel sogleich auf John. Er schlief immer noch tief und fest.
„Sie sollten etwas schlafen“, hörte sie Mrs. Thorntons leise Stimme, „Ich habe eines der Gästezimmer für Sie herrichten lassen.“
Margaret sah die ältere Frau irritiert an. „Mein Vater….“
„Machen Sie sich keine Sorgen, ich habe einen Boten zu Ihrem Vater geschickt, er weiß Bescheid und Ihre Haushaltshilfe hat eine Tasche mitgegeben.“
Hannah schien Margarets Unentschlossenheit zu spüren und ergänzte: „Ich verspreche, dass ich Sie augenblicklich holen lassen werde, sollte sich Johns Zustand verändern.“
Vielleicht war es wirklich besser, sie würde sich ein wenig hinlegen, dachte Margaret. Sie fühlte, wie ihr Nacken schmerzte und bog den Kopf nach hinten. Müde erhob sie sich vom Stuhl und nickte Mrs. Thornton stumm zu.
Bevor Margaret Johns Schlafzimmer verließ, drehte sie sich nochmals um.
„Danke, für alles“, flüsterte sie und schloss leise die Tür hinter sich.

Margaret war zu müde, um sich in dem Zimmer umzuschauen. Sie setzte sich auf das Bett und wollte vor dem Entkleiden nur zwei Minuten den Kopf auf das Kissen legen. Doch sie war binnen Sekunden eingeschlafen, nachdem ihr Kopf das Bett berührte.
Unruhige Träume plagten sie, einer schlimmer als der andere. Immer wieder sah sie John vor sich, wie er inmitten der Flammen stand, unfähig sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Die Flammen ergriffen von ihm Besitz und bald glich er einer menschlichen Fackel.
Sie hörte einen Schrei und schreckte schweißgebadet in die Höhe. Irritiert sah sie sich um, bis sie registrierte, dass ihr eigener Schrei sie geweckt hatte. Schwer atmend strich sie sich mit zittriger Hand die Haare aus dem Gesicht, die ihr wirr in der Stirn klebten. Keine Sekunde später klopfte es an der Tür.
„Ist alles in Ordnung, Miss?“, fragte eine Stimme von der anderen Seite der Tür.
„Ja, e-es geht mir gut“, stotterte Margaret.
„Ich habe nur schlecht geträumt“, ergänzte sie schnell und erhob sich vom Bett. Der Tag brach bereits an und tauchte das Zimmer in diffuses Dämmerlicht. Sie sah sich im Zimmer um und erblickte in der Nähe des Bettes einen Waschtisch. Sie ging darauf zu und goss Wasser in eine große weiße Porzellanschale. Sie tauchte beide Hände hinein und senkte den Kopf. Wohltuend rann das kühle Nass über ihr Gesicht. Rasch erledigte sie notdürftig ihre morgendliche Toilette und verließ, nach einem prüfenden Blick in den Spiegel, das Zimmer.

Margaret klopfte leise an Johns Tür, bevor sie zögernd eintrat. Mrs. Thornton saß immer noch am Bett ihres Sohnes. Ihr Gesicht wirkte müde, die Schultern hingen schlaff nach unten. Von der sonstigen Stärke und Dominanz war an diesem Morgen nichts zu sehen.
„Wie geht es ihm?“, fragte Margaret und blickte in Johns schlafendes Gesicht. Er wirkte nicht mehr ganz so blass wie in der Nacht zuvor.
„Ich denke, es geht ihm schon besser. Er war vor einigen Stunden für ein paar Minuten wach. Er hat starke Kopfschmerzen, was aber angesichts der Kopfverletzung nichts Ungewöhnliches ist.“
Mrs. Thornton rieb sich müde die Augen.
„Und wie geht es Ihnen?“
Die ältere Frau blickte bei Margarets Frage erstaunt auf.
„Sie sehen sehr erschöpft aus“, ergänzte Margaret.
„Nur etwas müde“, antwortete Mrs. Thornton.
„Ich werde nicht von seiner Seite weichen, versuchen Sie ein wenig zu schlafen“, sagte Margaret weich.
Mrs. Thornton überlegte einige Augenblicke und nickte schließlich: „Sie haben Recht, ich werde mich etwas hinlegen. Sie werden sicherlich hungrig sein, ich lasse Ihnen Frühstück herrichten.“
Erst jetzt merkte Margaret, dass sie tatsächlich Hunger hatte und nickte ihrer zukünftigen Schwiegermutter dankend zu.

Margaret setzte sich auf den Stuhl, auf dem bis eben Mrs. Thornton gesessen hatte und griff nach Johns Hand. Zart strich sie mit dem Daumen über seine Knöchel. Sie ließ ihren Blick über sein Gesicht schweifen: über seine geschlossenen Lider, seine Nase, Wangenknochen, seine dunklen Bartstoppeln und hielt schließlich bei seinem Mund inne. Sie musste dem plötzlichen Impuls widerstehen, sich über ihn zu beugen und ihn zu küssen. Als ob er es gefühlt hätte, öffnete er langsam die Augen und lächelte leicht, als er sie an seinem Bett sitzen sah.
Margaret legte liebevoll eine Hand auf seine Wange: „Wie geht es Dir?“
„Wenn man von den höllischen Kopfschmerzen absieht, eigentlich ganz gut“, antwortete er und küsste ihre Handfläche.
John setzte sich ein wenig auf und Margaret schob das Kissen in seinen Rücken.

Bereits wenige Tage später war John gesundheitlich wieder soweit hergestellt, dass er das Bett verlassen konnte. Das Feuer hatte zum Glück nicht soviel Schaden angerichtet wie zuerst befürchtet. Zwar war der Lagerschuppen bis auf die Grundmauern niedergebrannt, aber es konnte zumindest ein Übergreifen der Flammen auf die anderen Gebäude verhindert werden.
Allerdings gab es einen Toten zu beklagen. Leonards war Opfer des Feuers geworden, das er selbst gelegt hatte. Man vermutete, dass sein Motiv Rache gewesen war, weil er es nicht geschafft hatte, aus John einige Pfund zu erpressen. In stark alkoholisiertem Zustand hatte er wohl in der Dunkelheit die Orientierung verloren, war gestürzt und hatte schließlich sein Leben gelassen. Manchen tat er leid, die meisten weinten ihm jedoch keine Träne nach.
Genau eine Woche nach dem Feuer betrat John grimmig blickend das Wohnzimmer. Äußerlich erinnerte nur noch eine Schürfwunde in seinem Gesicht an die Verletzungen, die er davon getragen hatte. Innerlich jedoch würde er sich so schnell nicht davon erholen können. Der Schreck saß ihm nach wie vor tief in den Gliedern.
Der Ausbruch eines Feuers konnte innerhalb weniger Minuten den absoluten Ruin eines Fabrikbesitzers bedeuten. Auch wenn ihm durch den Brand ein vergleichsweise geringer materieller Schaden entstanden war, so musste er doch mit finanziellen Einbußen rechnen. Nun konnte er nur noch dafür beten, dass wenigstens seine Kunden die Rechnungen pünktlich bezahlen würden.

Williams hatte bereits wirtschaftliche Probleme gewittert und die erstbeste Gelegenheit genutzt, um zu Hamper zu laufen. Nun stand er ohne Vorarbeiter da.
„Ausgerechnet Williams“, schnaubte John „ihm hatte ich vorbehaltlos vertraut. Ich habe wirklich nicht erwartet, dass er bei den ersten Anzeichen von Problemen Marlborough Mills verlässt.“
John stützte sich mit dem rechten Arm am Fensterrahmen ab und starrte mit zusammen gekniffenen Augenbrauen in den Hof.
„Wird es denn Probleme geben, John?“, fragte Margaret besorgt und legte eine Hand auf seinen Arm.
„Ich weiß es nicht. Ich hoffe nicht. Im Moment sind die Löhne sicher.“
„Gibt es denn etwas, was wir tun können?“, wollte Margaret wissen.
„Bete darum, dass die Auftraggeber pünktlich ihre Rechnungen bezahlen. Und bete darum, dass es ein guter Sommer wird und viel Baumwollkleidung gekauft wird“, antwortete John seufzend und küsste Margaret auf die Stirn.
„Wie auch immer, ich brauche einen neuen Vorarbeiter“, John strich Margaret sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
„Ich denke, ich werde ein paar Worte mit Higgins reden“, sagte er, küsste ihre Hand und verließ den Raum. Margaret sah ihm lächelnd nach.



Chapter End Notes:
Dicker Dankesknuddel an Becci und Tatty fü's Beta-Lesen!
To be continued
Jule ist Autor von 2 anderen Geschichten.
Diese Geschichte ist auf der Favoritenliste von 2 Mitgliedern. Mitglieder, denen Ein Frühling in Milton gefallen hat, mochten auch 8 andere Geschichten.


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