Tags darauf sah John mit in Falten gelegter Stirn aus dem Fenster seines Büros. Er musste an das am Morgen geführte Gespräch mit Fanny denken. Er hatte gewusst, dass seine Verlobung mit Margaret bei Fanny und seiner Mutter nicht gerade Begeisterungsstürme auslösen würde, aber mit einer derartigen Ablehnung seitens seiner Schwester hatte er nicht gerechnet. „Wage es nicht, mit ihr auf meiner Hochzeit aufzutauchen, John. Was wird nur die Miltoner Gesellschaft davon halten!“, mit diesen Worten war sie wutentbrannt aus dem Zimmer gestürmt.
John seufzte laut. Auch wenn er seinen zukünftigen Schwager nicht sehr mochte, so tat er ihm in diesem Augenblick unendlich leid. Sein Leben würde zweifelsohne jeglicher Zuneigung entbehren müssen, denn dass Fanny Watson nur wegen seines Geldes heiraten würde, war John von Anfang an klar gewesen.
Er wollte sich gerade wieder vom Fenster abwenden, als er Jane zusammen mit einem Mann am Tor stehen sah. John kniff die Augen zusammen und erkannte Leonards. Was hatte Jane mit diesem Mann zu schaffen? Doch bevor John aus dem Büro gestürmt war, hatte Leonards das Gelände wieder verlassen und Jane lief rasch ins Haus zurück. John erwischte sie gerade noch, bevor sie im Zimmer seiner Mutter verschwinden konnte.
„Jane!“, rief er.
„Ja Sir?“, antwortete sie fragend.
„Was wollte der Mann eben?“ Johns Stimme klang härter als er beabsichtigt hatte.
„Das war Mr. Leonards, mein Verlobter, Sir“, antwortete Jane schüchtern. John sah sie ungläubig an.
„DAS ist Dein Verlobter?“ Johns Augen verengten sich zu Schlitzen. Nun wurde ihm einiges klar, daher wusste Leonards also über ihn und Margaret Bescheid. John ließ Jane einfach stehen und ging zu seiner Mutter ins Wohnzimmer. Zum Glück fand er sie allein vor.
„Mutter, wie sehr vertraust Du Jane?“, fragte John und strich sich mit einer Hand durch sein Haar.
„Warum fragst Du, John? Jane ist seit fünf Jahren bei uns und ich hatte bisher keinen Anlass zu glauben, dass sie mein Vertrauen missbrauchen würde“, erwiderte Mrs. Thornton.
„Nun, Jane ist Leonards Verlobte!“
Mrs. Thornton hob ungläubig den Kopf: „Woher weißt Du das? Bist Du Dir sicher?“
„Ich habe sie vor einigen Minuten mit Leonards sprechen sehen. Sie selbst hat mir gesagt, dass sie mit ihm verlobt ist.“ John kniff die Augenbrauen zusammen. „Ich regle das“, erwiderte Mrs. Thornton entschieden und erhob sich.
John kehrte zurück in sein Büro, er konnte jedoch kaum einen klaren Gedanken fassen. Er wusste nicht, wozu Leonards fähig war. Welches Unheil würde er als nächstes stiften? Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken und er sah hoch. Im Türrahmen stand ein Polizei-Inspektor. John kannte ihn, sein Name war Mason.
„Entschuldigen Sie die Störung, Sir.“
John nickte ihm freundlich zu: „Guten Tag, Mason, was kann ich für Sie tun?“ Mason war sichtlich nervös, die Situation schien ihm unangenehm zu sein. „Sir, ich habe einen Hinweis erhalten. Nicht, dass ich auch nur ein Wort davon glauben würde, oder Beweise vorliegen, aber ich muss der Sache leider nachgehen“, entschuldigte sich Mason.
„Worum geht es denn?“, fragte John und versuchte, seiner Stimme einen gelassenen Ausdruck zu verleihen. Innerlich war er bis aufs Äußerste angespannt. „Es geht um einen Vorfall, der sich am 26. Oktober an der Outwood Station ereignet haben soll. Wir haben einen Hinweis erhalten, dass sich ein gewisser Frederick Hale in England aufgehalten hätte. Mr. Hale wird auf Grund einer Meuterei von der Marine gesucht.“ „Ich kenne eine Familie Hale aus Crampton. Mr. Hale ist mein Tutor. Er ist mit seiner Familie vor über einem Jahr in den Norden gezogen. Ein Frederick Hale ist mir jedoch unbekannt“, log John.
„Waren Sie an diesem Tag am Bahnhof?“, lächelte Mason.
„Ja“, erwiderte John, „ich habe Miss Hale dort getroffen. Sie hat ihren Cousin, Mr. Dickenson zum Bahnhof begleitet, der für einige Tage bei den Hales zu Besuch war.“
John hielt innerlich den Atem an. Mason war nicht dumm und wenn er eins und eins zusammen zählte, würde er auf das richtige Ergebnis kommen. Aber auch er hatte keine Beweise, dass der Mann am Bahnhof tatsächlich Frederick war.
Mason nickte bei Johns Worten und machte sich einige Notizen.
„Das war schon alles, ich möchte Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.“, sagte Mason freundlich und verabschiedete sich.
John stand einige Momente unschlüssig da und dachte angestrengt nach. Er musste zu Margaret, und zwar schnell. Rasch zog er sich an und verließ eilig das Haus.
„John!“, rief Margaret überrascht aus, als sie ihn ins Haus ließ. John schloss eilig die Tür hinter sich und nahm sie in seine Arme. Er hauchte einen Kuss auf ihre Stirn und begann sogleich von Masons Besuch zu erzählen. Dass er selbst schon eine Begegnung mit Leonards gehabt hatte, verschwieg er. Es war nicht nötig, dass Margaret sich auch noch um ihn sorgte.
„Ich denke, dass Mason auch hier auftauchen wird“, beendete John seinen Bericht.
„Oh John, das alles tut mir so furchtbar leid, ich habe niemals gewollt, dass Du für uns lügst.“ Margaret traten Tränen in die Augen.
„Shh“, antwortete er und versiegelte ihre Lippen mit einem Kuss.
„Margaret, Du hast mir an jenem Abend erzählt, dass sich Fred mit einem Anwalt in London treffen wollte. Hat er schon Schritte unternommen, um Deinem Bruder zu helfen?“, wollte John wissen.
„Ja, aber bisher hat Henry - Mr. Lennox, nur in Erfahrung bringen können, dass Cpt. Reid verstorben ist. Jegliche Versuche mit den beiden Offizieren, die dessen Geschichte damals bezeugt hatten, in Verbindung zu treten, schlugen fehl“, Margaret seufzte.
„Würdest Du für mich einen Kontakt zu Mr. Lennox herstellen, Margaret?“, bat John: „Auch wenn wir keinen Erfolg haben sollten, so möchte ich es zumindest versuchen.“
Nachdem John gegangen war, setzte Margaret sich an den Tisch und begann drei Briefe zu schreiben. Je einen an Edith und Tante Shaw, worin sie über ihre Verlobung mit Mr. Thornton erzählte, der dritte Brief ging an Henry. Sie überlegte lange, ob sie ihn über ihre bevorstehende Heirat unterrichten sollte, aber da er von Edith ohnehin davon erfahren würde, wäre es besser, sie würde es ihm selbst schreiben. Sie berichtete auch von Frederick und Leonards und von Johns Wunsch helfen zu wollen. Margaret hatte kaum die Feder zur Seite gelegt, als Dixon einen Besucher ankündigte.
„Sie sind Miss Hale?“, fragte Mason lächelnd, als sie das Zimmer betrat, in welchem er auf sie wartete. Margaret nickte und begrüßte den Inspektor.
„Mein Name ist Mason, ich werde Ihre Zeit nicht lange beanspruchen, ich muss Sie nur einige Dinge fragen, wenn Sie erlauben.“
„Wobei kann ich Ihnen helfen?“, fragte Margaret freundlich.
Er blätterte durch seinen Notizblock. „Es geht um den Abend des 26. Oktober. Sie waren mit einem Gentleman und Mr. Thornton am Bahnhof?“
„Ja, ich habe meinen Cousin zur Outwood Station gebracht. Er war einige Tage unser Gast. Mr. Thornton haben wir zufällig getroffen“, antwortete Margaret ruhig.
„Wie heißt Ihr Cousin, wenn ich Sie das fragen darf?“
„Sie dürfen. Sein Name ist Dickenson“, antwortete Margaret. „Warum stellen Sie mir diese Fragen? Ist Mr. Dickenson in Schwierigkeiten?“
„Nein – nein“, antwortete Mason schnell. „Wir haben einen Hinweis erhalten, dass der Fremde ein Mr. Frederick Hale sein soll. Ihr Bruder nehme ich an?“
Margaret nickte. „Ja, mein Bruder heißt Frederick, aber er lebt seit vielen Jahren im Ausland. Wir haben ihn nie wieder gesehen, seit er England verlassen hat“, Margaret war erstaunt, wie leicht ihr diese Lüge über die Lippen kam.
„Danke für Ihre Hilfe, das war schon alles. Entschuldigen Sie bitte die Störung.“
Margaret nickte ihm freundlich zu, als er sich verabschiedete.
Kaum hatte Mason das Haus verlassen, ließ sie sich zitternd auf einen Stuhl sinken. Jegliche zur Schau gestellte Ruhe fiel von ihr ab und sie schluchzte unkontrolliert. Was hatte sie nur getan! Nicht nur, dass sie Frederick in Lebensgefahr brachte, sie schadete auch noch John.
Es dauerte lange, bis sich Margaret wieder einigermaßen beruhigt hatte und sie war froh darüber, dass weder Dixon noch ihr Vater etwas mitbekommen hatten.
Margaret hatte nur einen Wunsch, nämlich John zu sehen. Er war der Einzige, mit dem sie reden konnte. Sie sagte schnell Dixon Bescheid und verließ rasch das Haus.
Auch wenn die Jahreszeiten hier oben im Norden kaum spürbar waren, so glaubte Margaret doch schon den nahenden Frühling riechen zu können. Die Luft war klar und nicht mehr so beißend kalt. Sie kam schnell voran und schon bald erreichte sie Marlborough Mills.
John blickte aus dem Fenster seines Büros und sah den kleinen Tom im Hof sitzen. Es war mindestens schon eine halbe Stunde her, seit die Feierabendglocke geläutet hatte. Er ging nach draußen und setzte sich neben ihn. Er schmunzelte, als er Tom zuschaute, wie er sich über sein Buch beugte und laut daraus vorlas.
„Was machst du hier, wo ist Higgins?“, fragte John den Jungen. Tom zuckte mit den Schultern und sah John schüchtern an.
„Hast du schon gegessen?“ wollte John wissen.
Tom schüttelte den Kopf: „Mary war beim Metzger, aber sie hat nichts gemacht.“
John hörte Schritte und sah hoch. Higgins kam auf ihn zu.
„So spät? Die Schicht ist schon gut eine halbe Stunde zu Ende.“
„Die Arbeit war noch nicht fertig“, antwortete Higgins.
„Ich kann keine Überstunden bezahlen“, erwiderte John.
„Es geht mir nicht um die Bezahlung von Überstunden.“ Higgins setzte sich neben Tom: „Wenn Sie untergehen, wird mich kein anderer mehr einstellen, und wer soll ihm dann etwas zu Essen geben?“ Higgins nickte zu Tom.
„Er hat mir gesagt, er hat noch nicht zu Abend gegessen.“ John sah zu Higgins hinüber.
„An manchen Tagen gibt es gutes Fleisch, an anderen Tagen überhaupt nichts, selbst wenn man Geld in der Tasche hat.“
John zog die Stirn in Falten und dachte nach: „Es ist ein Jammer. Man sollte beim Großhandel kaufen. Dann könnte man für mehrere kochen anstatt nur für einen, so könnte sich jeder eine gute Mahlzeit am Tag leisten.“
Higgins sah ihn überrascht an. John lächelte: „Satte Männer arbeiten besser, das sollte jeden Arbeitgeber freuen.“
„Wir bräuchten einen Ort zum Kochen. Es gibt einen alten Anbau auf der Rückseite.“ Higgins sah John erwartungsvoll an.
John schmunzelte. „Sie haben heute Ihren Kopf mit zur Arbeit gebracht, richtig?“ John konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Nun – ich versuche das zu verbergen, aber ich kann ihn nicht immer verstecken.“ Higgins Mundwinkel zuckten.
„Sie berechnen die Kosten, dann werden wir sehen“, erwiderte John.
Margaret ging über den Hof und sah von weitem Higgins, Tom und John auf einer Rampe sitzen. Sie trat näher und auf Johns Gesicht breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, als er sie erblickte. Margaret begrüßte Higgins herzlich. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht, als er von Margaret zu John sah. Ihre Blicke sprachen Bände.
„Ich glaube, Margaret möchte Ihnen etwas sagen“, lachte John, als er Higgins Blick auffing. Margaret drehte sich mit geröteten Wangen zu Higgins.
„Nicholas, John und ich werden heiraten.“
„Darauf warte ich eigentlich schon seit Monaten“, erwiderte Higgins lachend und schüttelte beiden die Hand. „Meinen herzlichen Glückwunsch, ich freue mich sehr für Sie beide.“
„John“, sagte Margaret, als sie sich von Higgins verabschiedet hatten „Du hattest recht mit diesem Polizei-Inspektor, er hat mich aufgesucht.“
Margaret erzählte John, was sich ereignet hatte.
„Glaubst Du, er wird die Angelegenheit weiter verfolgen?“
„Ich weiß es nicht“, überlegte John, „Im Grunde hat er nichts in der Hand. Er kann nicht beweisen, dass Frederick in England war, selbst wenn er den Anschuldigungen Glauben schenken sollte. Mach dir keine Sorgen.“
Mittlerweile hatten sie Johns Büro erreicht und er schloss die Tür. Margaret sah zu ihm auf. Zärtlich strich er eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht.
„Vielleicht muntert es Dich auf, wenn ich Dir erzähle, dass Higgins und ich darüber nachdenken, eine Küche für die Arbeiter einzurichten?“ John lächelte sie liebevoll an.
„Oh John. Das klingt wundervoll.“ Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung „Wann wird es soweit sein? Gibt es schon einen Raum dafür? Wer wird kochen?“
„Langsam Liebes, Higgins wird erst noch die Kosten kalkulieren müssen. Aber auf der anderen Seite des Hofes gibt es einen Anbau, der leer steht.“
Margaret legte ihre Arme um Johns Nacken und hauchte einen Kuss auf seine Lippen.
„Hmm“, brummte er genüsslich, „an diese Art Belohnung könnte ich mich gewöhnen.“