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Zwei Tage später stand John unentschlossen vor dem Haus der Hales. Bereits zum dritten Mal hob er die Hand um zu klopfen und sie dann doch wieder mutlos sinken zu lassen. Er wusste nicht, ob jetzt schon der richtige Zeitpunkt war, aber er hielt es nicht mehr aus. Zu stark war inzwischen die Sehnsucht und zu groß seine Liebe.
Und wenn sie ihn immer noch nicht wollte? John schloss die Augen. Allein der Gedanke daran verursachte tief in seinem Innersten einen fast unerträglichen Schmerz. Doch dann erinnerte er sich an die vergangenen Wochen. Ihre Blicke, ihre Hand, die sie ihm nicht entzogen hatte, erst zwei Tage zuvor. Selbst wenn sie ihn nur ein wenig mochte, gäbe er sich damit zufrieden, er brachte genügend Liebe für sie beide mit.
Er holte noch einmal tief Luft und klopfte an die Tür. Mit pochendem Herzen wartete er und einige Augenblicke später erschien Dixon.
Nach einem kurzen Gruß bat sie ihn in den gleichen Raum, in dem er schon einmal, vor vielen Monaten, gestanden hatte. Damals hatte er die gleichen Absichten wie heute. War das ein gutes oder ein schlechtes Zeichen? All der alte Schmerz kam wieder zum Vorschein, als er sich umschaute. Es hatte sich nichts verändert, nur die Früchte fehlten heute. Nervös drehte er schon zum hundertsten Male den Hut in seinen Händen. Und wenn sie nicht kommen würde? Und falls doch, würde er die richtigen Worte finden? Seine Kehle war wie zugeschnürt.

„Miss?“ Margaret sah von ihrem Buch auf, als Dixon sie rief: „Mr. Thornton ist hier.“ „Vater hat gar nicht erwähnt, dass heute eine Lesestunde ist. Ist er denn überhaupt schon wieder zuhause?“ „Ihr Vater ist seit einer halben Stunde zurück, aber Mr. Thornton möchte Sie sprechen, Miss“, erwiderte Dixon und zog die Stirn in Falten. „Oh“, mehr brachte Margaret nicht über die Lippen. Ihr Herz schlug augenblicklich schneller.
„H-hat Mr. Thornton gesagt, was er möchte?“, stotterte Margaret. „Nein Miss“, antwortete Dixon und verschwand.

Margaret legte mit zitternden Händen das Buch zur Seite, stand auf und strich ihr Kleid glatt. Sie musste sich am Treppen-Geländer festhalten, um nicht über ihre eigenen Füße zu stolpern, so weich waren ihre Knie. Das Herz klopfte ihr bis zum Hals und ein Kloß saß so tief in ihrer Kehle, dass sie fürchtete, daran zu ersticken. Unschlüssig stand sie vor der Tür. Sie berührte ihre Wangen, sie glühten! Sie schloss die Augen und atmete einige Male tief ein und aus, bevor sie zaghaft die Tür öffnete.

John schnellte herum, als er jemanden eintreten hörte. Da stand sie, wie ein wahr gewordener Traum. Ihren Blick fragend auf ihn gerichtet, die Wangen gerötet, ihre Hände wie in einem stummen Gebet gefaltet. John brachte kein Wort hervor und so sah er sie nur schweigend an.
„Mr. Thornton“, durchbrach Margaret die Stille. Ihre Stimme glich einem Flüstern. John erwachte aus seiner Erstarrung und trat langsam auf sie zu.
„Miss Hale“, erwiderte er fast ebenso leise und nahm ihre kleine Hand in die seine. Erneut Stille.
Worte waren aber ohnehin nicht nötig. Ihre Herzen unterhielten sich auf ihre ganz eigene, besondere Art. Beider Augen waren wie tiefe, klare Seen und beide konnten bis auf den Grund des anderen sehen. Und John sah, dass all seine Zweifel und Sorgen unnötig gewesen waren, dass sie seine Gefühle erwiderte, sie ihn tatsächlich haben wollte.
John trat noch einen Schritt näher und legte eine Hand auf ihre Wange. Sie schmiegte ihren Kopf in seine Handfläche und schloss die Augen. Margaret fühlte die Berührung seiner Lippen auf den ihren und die Zeit stand still. Es gab keine Angst mehr, alte Wunden und deren Schmerzen waren vergessen und es fühlte sich gut an, es fühlte sich richtig an!

Als ob Margarets Arme ein Eigenleben entwickelt hätten, schlangen sie sich um seinen Nacken. Ihre Hände berührten seinen Haaransatz, ihre Fingerkuppen strichen über seine Haut. John legte seine Arme um ihre Taille und zog sie näher. Er bedeckte ihr Gesicht mit kleinen, federleichten Küssen – ihre Augen, ihre Nasenspitze, ihre Wangenknochen, ihren Mundwinkel, entlang der Kinnlinie zu ihrem Hals, bis zu der empfindlichen Stelle knapp unterhalb des Ohrläppchens. Er sog tief ihren Duft ein, versuchte sich jede Reaktion, auch das kleinste Gefühl seines eigenen Körpers zu merken, er wollte diesen Augenblick für alle Zeiten in seine Erinnerung einbrennen.
„Oh Margaret“, brachte er heiser hervor „wie lange habe ich auf diesen Moment gewartet!“

Margaret rückte ein kleines Stück von ihm ab, damit sie in sein Gesicht blicken konnte. Sie legte ihre rechte Hand auf seine Wange und zog zärtlich mit dem Daumen die Konturen seiner Augenbraue nach. Ihr war bisher nie aufgefallen, wie schön sein Gesicht wirklich war. Diese blauen Augen, die gerade jetzt mit einer ganz besonderen Intensität strahlten, seine etwas zu groß geratene Nase, die jedoch perfekt in sein Gesicht passte und ihm fast schon ein aristokratisches Aussehen verlieh, seine Wangen, die bereits wieder einen leichten Bartschatten zeigten, und sein Mund, der so zärtlich und sinnlich war, dass ihr der Atem stockte. Was hatte sie getan, um diesen Mann zu verdienen? War sie überhaupt gut genug für ihn?

„Ich liebe Dich so sehr!“, unterbrach er ihre Gedanken. Margaret legte ihren Kopf an seine Schulter und murmelte: „Und ich liebe Dich.“
Diese Worte zauberten ein strahlendes Lächeln auf sein Gesicht. „Wir standen schon einmal gemeinsam hier in diesem Zimmer, es sind einige Monate seither vergangen.“ Johns Blick wurde ernst „Die Frage wird jedoch die gleiche sein, Margaret. Ich habe niemals aufgehört Dich zu lieben, so sehr ich mich auch bemüht habe, Dich aus meinen Gedanken zu vertreiben. Ich liebe Dich, seit ich Dich das erste Mal gesehen habe und daran wird sich niemals etwas ändern, solange ich lebe!“

„Ich habe damals so schreckliche Dinge zu Dir gesagt, John.“
Er hielt den Atem an. Es war das erste Mal, dass sie ihn bei seinem Vornamen nannte, und er liebte es! „Ich habe Dir so unrecht getan, es tut mir so leid.“ Ihre Stimme versagte.
„Wir haben beide schreckliche Dinge gesagt“, John umschloss mit beiden Händen Margarets Hand und sah in ihre Augen.
„Margaret, möchtest Du meine Frau werden?“ Seine Augen baten, nein, flehten förmlich.
„Ja“, flüsterte sie glücklich, „ja!“

John konnte sein Glück kaum fassen, Margaret würde bald schon Mrs. Thornton sein. Er lächelte, als er an das eben geführte Gespräch mit Mr. Hale dachte. Richard hatte ihn mit offenen Armen in der Familie willkommen geheißen, als er um Margarets Hand angehalten hatte. Die Beziehung zwischen John und Richard war mehr als nur Freundschaft, Richard war ihm in all der Zeit fast wie ein Vater geworden. Und so verwunderte es John nicht, dass sich Margarets Vater aufrichtig über die Verlobung freute, er hatte nichts anderes erwartet. Ob seine eigene Mutter sich jedoch ebenso über die Verlobung freuen würde, wagte er zu bezweifeln. Mit einem etwas mulmigen Gefühl betrat John Marlborough Mills.

„Margaret“, Mr. Hale drückte voller Freude ihre Hand. „Ich gratuliere Dir herzlich.“
Sie lächelte ihren Vater glücklich an. „Danke Vater“, brachte sie hervor und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Mein Kind, verstehe meine folgenden Worte nicht falsch, kein Mann wäre mir als Schwiegersohn lieber als John, aber ich gestehe, dass ich doch etwas überrascht bin. Ich hätte nicht gedacht, dass Du in der Zwischenzeit eine Zuneigung zu ihm entwickelt hast.“

„Wir haben uns zu Beginn unter sehr unglücklichen Umständen kennen gelernt. Ich möchte nicht abstreiten, dass ich sehr große Vorurteile gegenüber dem Norden und seinen Bewohnern hatte. Als wir von Helstone weggezogen sind, hatte ich das Gefühl, mein Paradies zu verlassen, doch mir ist inzwischen klar geworden, dass kein Weg zurückführt. Es gehört der Vergangenheit an, auch wenn wir einst sehr glücklich dort waren.“

Margaret hielt kurz inne und sah zu Boden: „Hat Dir John erzählt, dass er mir vor Monaten schon einmal einen Antrag gemacht und ich ihn zurückgewiesen hatte?“
Mr. Hale sah seine Tochter überrascht an. „Davon hat er nichts erwähnt.“ Er sah nachdenklich zu Boden „aber wenn ich darüber nachdenke, verstehe ich nun, warum er eine Zeitlang sehr selten zu uns kam.“
„Ich wusste damals noch nicht, was für einen Mann ich zurückgewiesen hatte. Ich kannte ihn nicht so, wie ich ihn jetzt kenne, Vater. Meine Liebe zu ihm ist langsam gewachsen, über Monate hinweg.“

„John bist Du das?“, hörte er seine Mutter rufen, als er die Stufen hinauf Richtung Wohnzimmer ging. „Ja Mutter“, erwiderte er, als er den Raum betrat. Hannah Thornton sah ihren Sohn stirnrunzelnd an.
„John, die Dienstboten reden über Dich. Sie sagen, man habe Dich vor einigen Wochen mit einem flüchtigen Verbrecher am Bahnhof gesehen.“
John seufzte und rollte mit den Augen, doch bevor er antworten konnte, fuhr seine Mutter fort.
„Falls daran etwas sein sollte, John, wie kannst Du Deinen Ruf so aufs Spiel setzen? Man sagt auch, dass Miss Hale ebenfalls involviert gewesen sei und ihr beide ihm zur Flucht verholfen hättet.“

John holte Luft und wollte den Redeschwall seiner Mutter unterbrechen. Sie sprach jedoch unbeirrt weiter. „John, in was bist du nur hinein geraten? Hast du denn aus der Vergangenheit nichts gelernt? Es kann doch unmöglich Dein Ernst sein, dass du immer noch Gefühle für diese Frau hast!“ „Mutter, warte!“, warf er schroff ein, „ich würde Dir gerne etwas mitteilen, sofern Du mich einmal zu Wort kommen ließest.“ Mrs. Thornton sah ihren Sohn überrascht an.
„Mutter, Margaret - Miss Hale und ich sind verlobt, wir werden heiraten.“
Mrs. Thornton hatte den Mund geöffnet und sah ihren Sohn mit einer Mischung aus Überraschung und Entsetzen an. Sie brachte kein Wort über die Lippen und so schloss sie ihren Mund wieder.

„Mutter?“ Mrs. Thornton erwachte langsam aus ihrer Erstarrung: „A-aber… warum?“ „Weil ich nie aufgehört habe, sie zu lieben.“ John wurde ernst „Ich weiß nicht, ob ich ihrer würdig bin, aber sie erwidert meine Gefühle und das macht mich zum glücklichsten Mann der Welt.“ Mrs. Thornton schüttelte langsam den Kopf, als ob sie nicht glauben könnte, was sie eben gehört hatte. „Aber John, sie hat Dich schon einmal abgewiesen.“ „Ja Mutter, aber heute hat sie eingewilligt meine Frau zu werden.“

Mrs. Thornton stützte den Kopf in ihre Hände, sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Sie würde ihr Leben für sein Glück geben. Aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass Miss Hale sein Glück bedeutete, nicht nach alldem, was in der Vergangenheit gewesen war. Auch wenn John davon überzeugt war, dass Miss Hale seine Gefühle erwiderte, musste sie selbst erst noch davon überzeugt werden. Sie mochte die junge Frau nicht. Für ihren Geschmack war Miss Hale viel zu selbstständig und eigenwillig.

„Nicht, dass ich auf das Gerede der Dienstboten auch nur einen Pfifferling gäbe, aber was hat die Gerüchteküche dieses Mal gekocht?“, unterbrach John die Überlegungen seiner Mutter. Mrs. Thornton sah auf. „Nun, du sollst vor einigen Wochen zusammen mit Miss Hale und einem anderen Gentleman am Bahnhof gesehen worden sein. Dieser Fremde soll sich auf der Flucht befunden haben.“ John sah seine Mutter nachdenklich an und nickte schließlich.

„Mutter, ich weiß, dass ich mich auf Deine Verschwiegenheit verlassen kann, deswegen werde ich Dir die ganze Geschichte erzählen.“
Er berichtete in groben Zügen, was sich am Bahnhof ereignet und was Margaret ihm erzählt hatte. „Ist Mr. Hale in Sicherheit?“, fragte Mrs. Thornton, nachdem John geendet hatte. „Ja, er ist wohlbehalten zurück, aber ich traue diesem Leonards nicht. Er hat mir vorgestern aufgelauert. Für einen vollkommen Fremden weiß er erstaunlich viel. Er hat gedroht, mich an die Polizei zu melden, falls ich ihn nicht bezahlen würde.“ „John!“, rief Mrs. Thornton entsetzt aus. „Sorge Dich nicht, Mutter. Was hat er schon in der Hand, außer Vermutungen und Gerüchte? Es müssen schon Beweise vorliegen, damit überhaupt ermittelt wird.“ John drückte beruhigend Mrs. Thorntons Hand.



Chapter End Notes:
Riesenknuddel wieder an Becci und Tatty!


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