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John hatte seinen Hut abgenommen und klopfte, als er in Crampton angekommen war. Es war Margaret, die ihn mit einem warmen Lächeln empfing und ihn herein bat. Sie hielt kurz inne, als sie die Tür hinter John schließen wollte und ihr Blick fiel auf die gegenüberliegende Straßenseite. Sämtliche Farbe wich aus Margarets Gesicht und sie verkrampfte sich. John blieb die Regung nicht verborgen und er folgte ihrem Blick.
„Wer ist das?“, er hob fragend eine Augenbraue.
„Erinnern Sie sich an den Abend, als ich meinen Bruder zum Bahnhof brachte?“ Margaret schloss die Tür und drehte sich zu John um.

Natürlich erinnerte er sich daran, wie konnte er diesen Abend jemals vergessen.
Er nickte. „Das ist der Gentleman, der meinen Bruder angegriffen hat“, sie sprach das Wort Gentleman verächtlich aus: „Sein Name ist Leonards. Er wohnte früher nicht weit entfernt von Helstone. Schon damals hat er seine Nase in Dinge gesteckt, die ihn nichts angingen und ich glaube nicht, dass sich das in den vergangenen Jahren geändert hat.“
„Ist Ihr Bruder in Sicherheit?“, wollte John wissen.
„Ja, er ist wohlbehalten zurück in Spanien“, antwortete Margaret.
„Dann droht ihm von diesem Mann keine Gefahr, machen Sie sich keine Sorgen!“, sagte John und drückte aufmunternd Margarets Hand.
„Ich weiß“, erwiderte sie leise und sah zu Boden. Ihre Hand lag immer noch in Johns, sie hatte sie ihm nicht entzogen.
Johns Herz schlug schneller.
„Miss Hale, ich…“, seine Stimme klang heiser. Margaret hob den Kopf und sah in sein Gesicht.

„John? Sind Sie das? Kommen Sie hoch!“, rief Mr. Hale seinem Besucher zu.
John hob Margarets Hand an seine Lippen und hauchte einen zarten Kuss auf ihren Handrücken. Danach drehte er sich ohne ein weiteres Wort um und ließ Margaret verwirrt und leicht zitternd zurück.

Als Margaret aus ihrer Erstarrung erwachte, lief sie hastig in ihr Zimmer. Mit glühenden Wangen ließ sie sich auf einen Stuhl sinken und schloss ihre Augen. Sie fühlte immer noch die Berührung seiner Lippen auf ihrer Hand. Was war nur mit ihr los? Warum reagierte sie so auf ihn?
„Ich muss hier raus“, dachte sie. Margaret zog sich an und öffnete die Eingangstür einen kleinen Spalt. Leonards war nicht mehr zu sehen. Hastig schlüpfte sie hinaus. Sie hatte kein bestimmtes Ziel, sie lief einfach immer nur geradeaus. Bald schon hatte sie Crampton hinter sich gelassen und fand sich, zu ihrer eigenen Überraschung, in Princeton wieder.

Unentschlossen blieb sie stehen. Es fing bereits an zu dämmern und sie sollte schleunigst wieder zurück. Sie hatte völlig überstürzt das Haus verlassen und weder Dixon noch ihrem Vater Bescheid gesagt, beide würden sich inzwischen sicher entsetzliche Sorgen machen. Sie ging gerade durch eine der Einkaufstraßen zurück, als sie hörte, wie jemand ihren Namen rief.

„Miss Hale!“, Margaret drehte sich um und Fanny Thornton winkte ihr strahlend zu. Am Ringfinger ihrer linken Hand prangte ein Diamantring. Sie wedelte mit ihrer Hand in Margarets Richtung und kicherte übermütig.
„Oh, darf ich Ihnen gratulieren?“, fragte Margaret nach einem kurzen Gruß.
„Ja, wir werden bald heiraten!“, Fanny deutete auf den Mann neben sich.
„Ich freue mich Sie wieder zu sehen, Miss Hale“, begrüßte sie Watson freundlich und reichte Margaret die Hand.
„Falls sie noch etwas einkaufen möchten, beeilen sie sich lieber, mein Mädchen hier ist gerade dabei die ganze Straße leer zu kaufen“, schmunzelte Watson.

Fanny lachte laut auf und rückte näher an Margaret heran.
„Er ist vielleicht schon etwas älter, aber eine gute Partie für uns Thorntons“, flüsterte sie mit leiser verschwörerischer Stimme Margaret zu: „Er hat versucht, John für eine Spekulation zu gewinnen.“
„Spekulation?“, fragte Margaret überrascht. „Ich hätte nicht gedacht, dass Mr. Thornton sich beteiligen würde an solch einem riskanten Unternehmen!“
„Oh, jeder macht so was. Jedes Geschäft ist ein Risiko, sagt mein Watson immer.“ Margaret enthielt sich einer Antwort und war erleichtert, als das Paar sich von ihr verabschiedete. Eilig setzte sie ihren Nachhauseweg fort.

„Margaret, wo bist Du nur gewesen?“ Mr. Hales Stimme klang aufgeregt.
„Ich war nur ein wenig spazieren, Vater, es geht mir gut“, antwortete Margaret schnell.
„Mr. Thornton war enttäuscht, Dich nicht mehr anzutreffen, als er sich verabschiedete. Er hätte Dir gerne noch gesagt, dass er Nicholas Higgins eingestellt hat.“
„Nicholas war bei ihm?“, Margaret sah ihren Vater überrascht an.
„Ja, er schien unmittelbar nach unserem Gespräch nach Marlborough Mills gegangen zu sein“
„Ich freue mich so sehr, Vater, ich hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben. Ich hatte nicht erwartet, dass Nicholas seinen Stolz doch noch überwinden könnte.“ Margaret drückte glücklich den Arm ihres Vaters.

John hatte einige Schriftstücke vor sich auf dem Tisch ausgebreitet, als Fanny durch den Raum marschierte: „Also ehrlich. Miss Hale übertreibt es manchmal mit ihrem herrschaftlichen Gehabe, sie könnte sich ruhig einmal etwas Bescheidenheit zulegen.“
Mrs. Thornton warf einen kurzen Blick auf John. Dieser zeigte jedoch keine Regung und schrieb weiter.
„Ich habe ihr von meinen Hochzeitsplänen erzählt, sie schien überrascht zu sein“, fuhr Fanny plappernd fort.
„Ich bin gespannt, ob sie jemals einen Mann abbekommt. Sie ist viel älter als ich und so streng.“
Wieder blickte Mrs. Thornton von ihrer Handarbeit auf und sah zu ihrem Sohn hinüber. Er hielt für eine Sekunde inne und holte tief Luft.

„Ich habe ihr von Watsons Vorschlag erzählt und stellt Euch vor, sie hat doch tatsächlich ihre Nase gerümpft. Sie sagte, John wäre nicht interessiert.“ Fanny schnaubte verächtlich. „Als ob sie meinen Bruder besser kennen würde als ich.“
John konnte nicht anders, er schmunzelte. Ja, sie kannte ihn tatsächlich besser als seine eigene Schwester. Sein Gesicht wurde jedoch augenblicklich wieder ernst.
„Ich wäre Dir dankbar, wenn Du meine Geschäfte nicht auf der Strasse diskutieren würdest“, forderte er Fanny kühl auf: „Hast Du überhaupt von etwas Anderem eine Ahnung als vom Geld ausgeben, Fanny?“

„Ich weiß, dass Du mit Sicherheit den zehnfachen Gewinn erzielen würdest, wenn Du auf Watsons Angebot….“
„Es gibt keine Sicherheit bei einer Spekulation“, unterbrach John seine Schwester unwirsch, „und ich möchte mich nicht mehr darüber unterhalten!“
John stand auf und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Fanny sah ihm mit offenem Mund nach.

Ein mittelgroßer blonder Mann hatte sich außerhalb von Marlborough Mills an die Hauswand gelehnt und musterte den Fabrikhof aus zusammengekniffenen Augen. Ein boshaftes Grinsen breitete sich in seinem Gesicht aus, als er John erblickte.
Die vergangenen Wochen hatte er damit verbracht, Frederick Hale zu suchen und Informationen zusammenzutragen. Auf Hale war ein hübsches Sümmchen als Belohnung ausgesetzt, das sich Leonards nicht entgehen lassen wollte. Doch leider verlor er Hales Spur in London. Er hatte nur in Erfahrung bringen können, dass er sich dort mit einem Anwalt namens Lennox getroffen hatte.
Aber bevor Leonards die Behörden hatte informieren können, hatte Hale das Land bereits verlassen. Nun würde er eben auf eine andere Weise versuchen, an Geld zu kommen, und dieser Thornton schien ihm eine passende Alternative zu sein.

Er hatte einiges von Jane in Erfahrung bringen können. Wie naiv dieses Mädchen war. Er hatte nur angedeutet, dass er sie heiraten wollte und schon hielt sie ihn für ihre große Liebe und hatte alles ausgeplaudert, was sie über die Thorntons wusste. Leonards lachte verächtlich. Er würde diese dumme Kuh niemals heiraten. Sobald er das hatte, was er wollte, würde er sich aus dem Staub machen.

John unterhielt sich mit Williams, als sein Blick auf eine männliche Gestalt außerhalb des Hofes fiel. Der Fremde kam ihm merkwürdig bekannt vor und als er einige Schritte näher trat, erkannte er ihn. Leonards!
Williams folgte Johns Blick und fragte: „Kennen Sie den Mann? Der lungerte gestern schon hier rum.“
John schüttelte den Kopf „Kennen wäre übertrieben, aber ich habe ihn schon einmal gesehen.“
„Soll ich mich um ihn kümmern?“, wollte Williams wissen.
„Nein! Ich gehe selbst“, antwortete John bestimmt und trat auf Leonards zu.

„Suchen Sie jemanden?“ Johns Augen musterten Leonards kühl.
„Nein - das heißt, ich habe gerade gefunden, was ich gesucht habe“, Leonards grinste gehässig und eine Reihe gelber Zähne trat zum Vorschein.
„Was wollen Sie hier?“ John wirkte äußerlich gelassen, aber innerlich hatte er Mühe, seine Wut zu unterdrücken. Am liebsten hätte er den Kerl niedergeschlagen. Allein dafür, dass er Margaret in Panik versetzt hatte, hätte er es verdient.

„Thornton, so heißen Sie doch, oder? Sind Sie nicht der hiesige Magistrat?“
John antwortete nicht.
„Ein Vögelchen hat mir zugezwitschert, dass Sie – nun, nennen wir es eine besondere Schwäche für eine Dame aus Crampton haben?“
Leonards spuckte neben John auf den Boden.
Johns Augen verengten sich zu Schlitzen.
„Selbst wenn es so wäre, wüsste ich nicht, was Sie das anginge!“, Johns Stimme war eiskalt.
„Was Sie mit wem machen, ist mir völlig egal, aber ich interessiere mich für diesen Bastard Hale.“ Er hielt Johns Blick stand.
„Ich weiß nicht, worauf Sie hinaus wollen!“, bellte ihm John förmlich entgegen.
„Nun, dann muss ich wohl etwas deutlicher werden.“ Leonards stieß ein kehliges Lachen aus, „Ich frage mich, was wohl die Polizei davon halten würde, dass ausgerechnet der Magistrat einem gesuchten Meuterer zur Flucht verholfen hat.“

John hob eine Augenbraue. Er versuchte verzweifelt, nicht die Beherrschung zu verlieren.
„Ich kenne niemanden, auf den diese Bezeichnung zutreffen würde.“
„Wenn ich Ihre Erinnerung auffrischen dürfte? 26. Oktober, Outwood Station? Für eine gewisse Gegenleistung wäre es mir sicher möglich, die Umstände unserer letzten Begegnung zu vergessen!“
Jegliche Selbstbeherrschung war verschwunden. John hob seinen Arm und presste Leonards mit dem Rücken an die Hausmauer. Sein Unterarm drückte seinem Gegenüber hart gegen die Kehle. Er überragte ihn um fast einen Kopf und war ihm körperlich weitaus überlegen.
„Verschwinde, und wage es nie wieder, mir unter die Augen zu kommen. Ich verspreche Dir, wenn ich Dich noch einmal in Miss Hales oder meiner Nähe sehen sollte, wirst Du es bis ans Ende Deines erbärmlichen Lebens bereuen“, zischte John zwischen zusammen gebissenen Zähnen. Er ließ Leonards so schnell los, dass dieser beinahe vornüber kippte. Ohne ein weiteres Wort drehte John sich um und ging über den Fabrikhof ins Haus. Leonards starrte ihm hasserfüllt hinterher.





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