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In den kommenden Wochen war John ein häufiger und gern gesehener Gast im Hause der Hales. Margaret war ihm unendlich dankbar, merkte sie doch, wie gut ihrem Vater seine Gesellschaft tat. Nach dem Tod ihrer Mutter war ihr Vater sehr niedergeschlagen gewesen, inzwischen konnte sie ihn sogar wieder zu kleineren Spaziergängen überreden.
So auch an diesem Tag. Sie waren auf dem Weg nach Princeton. Der Winter war bereits in vollem Gange und obwohl die Sonne schien bildeten sich bei jedem Atemzug kleine Wölkchen. Margaret hatte sich bei ihrem Vater untergehakt und blickte ihn von der Seite an.
„Wie fühlst Du dich, Vater?“, fragte sie liebevoll.
Mr. Hale schien einen kurzen Augenblick zu überlegen.
„Gut“, antwortete er fast erstaunt. „Ich fühle mich wirklich gut.“
Margaret lächelte und drückte den Arm ihres Vaters.
„Ich bin sehr erleichtert Vater, nachdem Mutter….“, sie verstummte.
Er drückte Margarets Hand: „Mach Dir keine Sorgen um mich. Ich weiß nicht, ob ich den Tod Deiner Mutter jemals überwinden werde, aber ich habe in den vergangenen Wochen gelernt mit der Leere, die sie zurück ließ, zu leben. Es vergeht jedoch kein Tag, an dem ich nicht an sie denke und ich mir wünschte, ich hätte ihr all den Kummer ersparen können.“
Ein Schatten legte sich über Mr. Hales Gesicht.

„Geh nicht so hart mit Dir ins Gericht, Vater. Du bist nicht schuld an Mutters Tod, sie war krank.“
Mr. Hale tätschelte die Hand seiner Tochter und schwieg.
„Was machen Mr. Thorntons Studien?“, fragte Margaret schnell, um das Thema zu wechseln.
Mr. Hales Gesicht hellte sich auf: „Oh, John ist ein wunderbarer Schüler, ich genieße die Stunden mit ihm sehr. Ich bin glücklich darüber, dass er neben der Arbeit doch noch Zeit hat, das Studium so intensiv weiterzuführen. Er hat mir sehr viel Halt gegeben in den letzten Wochen! Er ist fast wie ein Sohn für mich geworden.“
Margaret freute sich über die Begeisterung, die aus ihrem Vater sprach und lächelte. Schweigend setzten sie ihren Spaziergang fort und waren einige Zeit später in der Frances Street angekommen.

Mary hatte Vater und Tochter bereits aus dem Fenster erblickt und öffnete die Tür, bevor Margaret klopfen konnte.
„Miss Margaret!“, rief Mary aus „… wie schön Sie zu sehen“ Margaret umarmte Mary und lächelte sie an. Das Mädchen sah müde und erschöpft aus.
„Wie geht es Dir?“, erkundigte sich Margaret besorgt.
„Nur etwas müde, Miss, die Kinder halten mich ganz schön auf Trab.“
Margaret sah sich im Raum um. Im Zimmer tummelten sich vier der Boucher-Kinder. Higgins hatte sich nicht davon abbringen lassen, die Waisen bei sich aufzunehmen, auch wenn er selbst keinen Schilling besaß.
Margaret brachte von Zeit zu Zeit einen Korb vorbei: „Für die Kinder“, sagte sie jedes Mal, wenn Higgins das bisschen Brot, Käse und Fleisch nicht annehmen wollte.

Widerwillig ließ er es auch diesmal zu, dass Margaret den mitgebrachten Korb auf den Tisch stellte. „Hattest Du schon Glück, Nicholas?“, fragte Margaret, nachdem sie und ihr Vater sich Higgins gegenüber an den Tisch gesetzt hatten. „Ich hab’ nach Arbeit gesucht“, erwiderte er seufzend. „Ich habe meine Zunge im Zaum gehalten und mich nicht darum geschert, wer mir was an den Kopf schmeißt. Ich mache es für ihn natürlich, nicht für mich, für Boucher. Nun - nicht für ihn…“ Higgins kniff die Augen zusammen und sah zu Boden, „…da wo er jetzt ist, braucht er meine Hilfe nicht, aber für seine Kinder.“
Er blickte zu Tom hinüber, der zusammen mit Mary am Boden saß und laut und stockend in einem Buch las.
„Aber ich brauche Ihre Hilfe, wenn sie gestatten“, fuhr er an Mr. Hale gewandt fort.
„Gern“, erwiderte Mr. Hale schnell „aber was kann ich tun?“
„Also, Ihre Tochter hat viel über den Süden geredet“, Higgins sah zu Margaret.
„Ich weiß nicht, wie weit es ist, aber ich dachte, wenn ich dort hin könnte, wo das Essen billig und der Lohn gut ist und die Menschen freundlich. Würden Sie mir helfen, dort Arbeit zu finden?“
„Welche Art Arbeit denn?“, fragte Mr. Hale.
„Ich bin recht gut mit dem Spaten“, antwortete Higgins.

„Du darfst nicht von Milton in den Süden ziehen!“, mischte sich Margaret in das Gespräch ein und griff über den Tisch hinweg nach Higgins Arm: „Du könntest das Leben dort nicht ertragen, Nicholas, ich bitte Dich.“
Higgins sah betroffen zu Boden.
„Nicholas, hast Du in Marlborough Mills nach Arbeit gefragt?“
Higgins lachte trocken auf.
„Ja, ich war bei Thornton. Williams, der Vorarbeiter, hat mich rausgeschmissen.“
„Würdest Du es noch einmal versuchen? Mr. Thornton ist ein guter Mensch“, Margarets Augen waren bittend auf Higgins gerichtet: „Ich wäre so froh, wenn Du das tun würdest. Ich bin sicher Mr. Thornton wird Dich gerecht behandeln, wenn er die Chance bekommt.“
„Ich kann nicht betteln, Miss“, antwortete Higgins und wandte sein Gesicht ab.
„Ich glaube lieber verhungere ich“, ergänzte er einige Augenblicke später.
„Soll ich mit Mr. Thornton reden?“ bot Margaret an.
Higgins hob erstaunt den Kopf.
„Nein!“, wehrte er bestimmt und kopfschüttelnd ab.

„Er ist ein stolzer Mann“ seufzte Mr. Hale, nachdem sie später das Haus von Higgins verlassen hatten. „Dennoch, diese Männer von Milton haben Qualitäten, die Bewunderung verdienen. Vielleicht hat Gott zu guter Letzt doch noch hierher gefunden.“
„Ich wünschte er würde zu Mr. Thornton gehen und mit ihm von Mann zu Mann reden.“ Margaret blickte zu ihrem Vater auf.
„Wenn er nur vergessen könnte, dass Mr. Thornton ein Fabrikant ist. Ich bin mir sicher, er würde sein Herz erreichen!“
„Meine Güte, Margaret!“ Mr. Hale sah seine Tochter erstaunt an. „Du gibst fast in einem Atemzug zu, dass der Süden seine Fehler und Mr. Thornton seine Vorzüge hat. Was ist geschehen, dass Du Deine Meinung so geändert hast?“
Margarets Wangen überzogen sich mit einer zarten Röte. Sie blieb ihrem Vater die Antwort schuldig.

Higgins saß noch lange am Tisch und dachte über das nach, was Margaret gesagt hatte. Er wollte nicht nach Marlborough Mills und sich noch einmal eine Abfuhr abholen. Dann fiel sein Blick auf die Kinder. Mary hatte Margarets Korb ausgepackt und verteilte die Speisen an die Kinder, die sich hungrig über jeden Krümel hermachten. Er stützte verzweifelt seinen Kopf in die Hände. Abrupt stand er auf, griff nach seiner Jacke und seiner Mütze und verließ wortlos das Haus. Er rannte fast den Weg nach Marlborough Mills. Dort angekommen, lehnte er sich schwer atmend an eine Hausmauer. Er wartete – worauf, wusste er selbst nicht so genau.

Higgins wartete etwa eine Stunde, bis John um eine Straßenecke bog und auf die Fabrik zuging.
„Sir!“ rief Higgins ihm zu.
John drehte sich erstaunt um. „Sie?“, er blickte Higgins kühl an.
„Ich muss mit Ihnen reden“, sagte Higgins bestimmt.
„Dann kommen Sie besser rein!“, forderte John ihn auf und ging über den Fabrikhof, dicht gefolgt von Higgins.

John hatte an seinem Schreibtisch Platz genommen und sah einige Papiere durch. Unsicher blieb Higgins im Türrahmen stehen und knetete nervös seine Mütze.
John legte das Papier zur Seite, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Higgins: „Also, was wollen Sie von mir?“
„Ich möchte arbeiten“, Higgins presste die Lippen zusammen.
„Arbeiten!“, John lachte trocken: „Sie haben Nerven!“ Er kniff verärgert die Augenbrauchen zusammen.
„Hamper wird Ihnen sagen, dass meine Arbeit gut ist“, entgegnete Higgins.

„Hamper wird aber noch mehr über Sie sagen, dass Sie nicht hören wollen! Ich habe hundert meiner besten Hände verloren, weil sie Ihrer Gewerkschaft gefolgt sind“, John sah Higgins zornig an.
„Ich brauche Arbeit! Für die Familie eines Mannes, der verrückt geworden ist. Seine Arbeit ging an einen Iren, den Sie eingestellt haben, der einen Webstuhl nicht von einem Hocker unterscheiden kann.“
„Ihre Gewerkschaft hat mich dazu gezwungen, die Iren einzustellen!“, fiel ihm John ins Wort: „Die meisten sind wieder zurückgegangen.“
John erhob sich und wanderte durch das Büro, eine Hand auf die Hüfte gestützt, mit der anderen rieb er sich die Stirn.

„Ich rate Ihnen, sich nach etwas anderem umzusehen und Milton zu verlassen“, John setzte sich wieder und beugte sich erneut über ein Schriftstück.
„Wenn es wärmer wäre, würde ich Feldarbeit machen und nie wieder zurückkommen, aber es ist Winter und die Kinder werden verhungern.“
Was tat er nur hier? Er hätte sich niemals von Margaret dazu überreden lassen dürfen, zu Thornton zu gehen.

„Wenn Sie irgendetwas wissen, ich würde jeden Lohn nehmen, den ich kriegen könnte, nur um der Kinder willen“, Higgins seufzte und sah zu Boden.
John sah überrascht auf: „Sie würden das tatsächlich für einen Mann wie Boucher tun? Sie wissen von der neuen Regel, denke ich?“
„Boucher ist tot und es tut mir Leid für ihn, aber das ist auch alles. Mir geht es einzig und allein um die Kinder.“
John sah Higgins lange nachdenklich an.

„Gut.“ John erhob sich von seinem Stuhl. „Ich werde es vielleicht bereuen, aber ich gebe Ihnen die Arbeit.“
Higgins blickte erstaunt auf. „Ich danke Ihnen, Sie werden es nicht bereuen, das verspreche ich!“, schwor Higgins und griff nach Johns dargebotener Hand.
„Dann ist es abgemacht. Also kommen Sie pünktlich.“ John trat näher an Higgins heran, „Und beim ersten Mal, wenn ich Sie dabei erwische, wie Sie Ihr Hirn benutzen, können Sie gehen.“
„Dann lasse ich meinen Kopf wohl besser zu Hause.“ Higgins Mundwinkel zuckten. Er war schon im Begriff, das Büro zu verlassen, als er sich nochmals zu John umdrehte.

„Ich wurde von einer Frau hergeschickt, die mir sagte, dass Sie Güte besitzen. Ich freue mich, dass sie sich nicht geirrt hat“, Higgins lächelte.
Thornton hob erstaunt den Kopf.
„Miss Hale hat Sie zu mir geschickt?“, er hob eine Augenbraue.
„Sie hätten es mir ruhig sagen können.“
Higgins verzog sein Gesicht zu einem schiefen Grinsen. „Wären Sie dann zu Anfang unseres Gespräches freundlicher zu mir gewesen?“, fragte er amüsiert und verließ das Büro.

John sah auf die Uhr und sprang hastig von seinem Stuhl auf. Wenn er sich nicht beeilen würde, käme er zu spät zu Mr. Hale und er musste sich noch umziehen. Er freute sich darauf, Margaret wieder zu sehen. Sie hatte ihrem Vater und ihm in den vergangenen Wochen den einen oder anderen Abend Gesellschaft geleistet. Er konnte sich an keine einzige Unterhaltung mehr erinnern, die er mit Mr. Hale geführt hatte, so gefangen war er von Margarets Anblick. Er liebte es, wenn sich ihre Wangen vor Begeisterung röteten, ihre Augen blitzten, wenn sie überzeugt ihre Meinung vertrat, sie ihre Hände im Schoß gefaltet hielt, wenn sie über etwas nachdachte. Er würde nie eine andere Frau lieben, dessen war er sich sicher. Bevor er sie getroffen hatte, gab es nur die Fabrik für ihn. Frauen hatten in seinem Leben niemals eine Rolle gespielt, selbst in seiner Jugend nicht. Für derlei Dinge war kein Platz in seinem Leben. Erst recht nicht, nachdem sein Vater tot war und es an ihm lag, sich um die Familie zu kümmern. Er hatte sich bereits als ewigen Junggesellen gesehen, viele seiner Geschäftsfreunde waren Junggesellen, allesamt angesehene Geschäftsmänner.
Doch dann war Margaret in sein Leben getreten und hatte in ihm den Wunsch nach einer eigenen Familie, nach eigenen Kindern geweckt.





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