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Author's Chapter Notes:

Einige Szenen werden euch sehr bekannt vorkommen, da sie quasi fast eine Nacherzählung sind. Damit bin ich zwar nicht wirklich glücklich, aber es sind Schlüsselszenen, die für den weiteren Verlauf der Beziehung zwischen MH und JT wichtig sind.










Die nächsten beiden Tage vergingen, und Margaret hatte bei all der Trauer um ihre verstorbene Mutter kaum Zeit, um an John zu denken.

Am Tag der Beerdigung saß sie neben Mr. Bell in einer der vorderen Kirchenbänke. Traurig blickte sie zu ihrem Vater hinüber, der seinen Blick starr auf einen imaginären Punkt gerichtet hatte. Sein Gesicht glich einer ausdrucklosen Maske, in seinem Innersten jedoch war tiefste Verzweiflung.
Margaret sah sich in der spärlich besetzten Kirche um und wandte ihr Gesicht Mr. Bell zu.
„Wenn wir in Helstone wären Mr. Bell, wäre die Kapelle voll mit Mutters Freunden“, flüsterte sie traurig.
„Ja, aber sieh doch!“, antwortete er und wandte seinen Blick in Richtung der hinteren Reihen. Margaret folgte seinem Blick und erkannte Mary und Nikolas Higgins. Sie nickte Vater und Tochter dankbar zu und drehte ihren Kopf in die andere Richtung. John sah ebenfalls zu ihr und ihre Blicke trafen sich. Sie verspürte in diesem Moment tiefe Verbundenheit zu ihm und eine einsame Träne rann ihre Wange hinab, bevor sie sich wieder abwandte.

John war erschüttert von der tiefen Traurigkeit, die aus Margarets Augen sprach. Es kostete ihn all seine Kraft, um nicht aufzuspringen und zu ihr zu gehen. Ihr zu zeigen, dass er da war, für SIE da war.
„Wie geht es ihnen, Miss Hale und ihrem Vater?“, fragte er nachdem er die Kirche verlassen und sich zu Adam Bell gesellt hatte.
„Es geht ihnen den Umständen entsprechend. Keine Sorge Thornton, man kümmert sich um sie.“
„Gibt es etwas, was ich tun kann?“ Johns Blick ruhte auf Margaret.
„Nein, es ist alles erledigt, aber ich werde es Sie sicher wissen lassen, wenn Sie gebraucht werden“, erwiderte Bell und trat nach einem kurzen Nicken des Abschieds auf seinen alten Freund und dessen Tochter zu.
Hilflos blickte John der kleinen Gruppe nach, die sich langsam und schweigend von der Kapelle entfernte.

Margaret war froh darüber, dass es Mr. Bell möglich war, noch einige Tage länger in Milton zu bleiben. Sie machte sich große Sorgen um ihren Vater. Er hatte seit dem Tod seiner Frau kaum ein Wort gesprochen und Mr. Bells Besuch schien ihn zumindest ein wenig abzulenken.
Und so ließ Margaret ihren Vater in der Obhut von Mr. Bell zurück und machte sich auf den Weg nach Princeton.

Der Spaziergang würde ihr gut tun, und tatsächlich, mit jedem Schritt merkte sie, wie ihr Kopf freier wurde.
Sie schloss die Augen und atmete tief durch. Sofort tauchte Johns Bild in ihrem Geiste auf. Ihr Herz schlug augenblicklich schneller. Sie öffnete die Augen wieder und versuchte energisch das Bild zu vertreiben. Warum nur drängte sich dieser Mann immer wieder in ihre Gedanken? Er war ein guter Freund ihres Vaters, nicht mehr und auch nicht weniger. Sie war nie um seine Freundschaft bemüht gewesen und seine Liebe hatte sie nicht gewollt, wollte sie immer noch nicht – oder vielleicht doch? Über seine Liebe zu ihr musste sie sich ohnehin keine Gedanken mehr machen. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass er noch Gefühle für sie hatte, die über gewöhnliche Nächstenliebe oder Anteilnahme hinausgingen. Margaret versuchte den Schmerz, den sie bei diesem Gedanken verspürte, zu ignorieren.

„Ich hatte gehofft, Dich um diese Zeit hier anzutreffen“, sagte Margaret nach einem kurzen Gruß.
„Du kannst Dir sicher sein, mich fast zu jeder Zeit hier anzutreffen“, antwortete Higgins und fuhr sich mit der Hand durch sein Haar.
„Du hast immer noch keine Arbeit?“, fragte Margaret „Wegen des Streiks?“
„Ich habe keine Arbeit, weil ich mich dazu entschieden habe“, erklärte Higgins.
„Hast Du schon in deiner alten Fabrik nachgefragt?“
„Hamper weiß, dass ich ein guter Arbeiter bin. Er würde mich zurück nehmen, aber es gibt eine neue Regel, wir dürfen nicht an die Gewerkschaft zahlen. Wir zahlen ein, damit wir eine Streikkasse haben, um denen in Not wenigstens einen Schilling pro Streikwoche geben zu können. Sie denken sich, wenn wir nicht zahlen dürfen, gibt es keine Streiks mehr. Wir bitten die Herren nicht einen Streik zu finanzieren, so töricht sind wir nicht. Aber ist es ein Verbrechen, seinen Leuten etwas vom eigenen Gehalt zu schenken?“

„Gibt es in allen Fabriken diese neue Regel?“, wollte Margaret wissen.
Higgins nickte traurig.
„Weißt Du noch, wie Boucher sagte, die Gewerkschaft sei eine Tyrannei?“
Higgins lachte höhnisch „Manchmal muss die Gewerkschaft einen Mann zu seinem Glück zwingen.“ Er setzte sich auf einen Stuhl neben dem Kamin.
„Boucher war ein Dummkopf. Er wusste nie, was gut für ihn ist.“
„War er schlecht für die Gewerkschaft?“, fragte Margaret.
„Wir hatten die öffentliche Meinung auf unserer Seite, bis er anfing, das Gesetz zu brechen und zu randalieren.“
„Wäre es nicht besser gewesen ihn in Ruhe zu lassen?“, unterbrach ihn Margaret „Er hat der Gewerkschaft nicht genützt, und ihr habt ihn wahnsinnig gemacht!“

Higgins sah Margaret einige Momente an, bevor er antwortete. „Du verstehst das alles nicht. Die Gewerkschaft hat erheblichen Einfluss. Die Gewerkschaft ist die einzige Macht, die wir haben. Ich rede lieber nicht darüber. Ich kann nicht anders als wütend auf Boucher zu sein, weil dieses Unheil kein Ende nimmt“ Higgins atmete verächtlich aus.
„Immer noch?“, fragte Margaret erstaunt.
„Sicher!“, nickte Higgins „Erst beginnt er einen Aufruhr, dann versteckt er sich. Thornton verfolgt ihn nicht, also schleicht er sich wieder nach Hause, und was tut er? Er geht zu Hamper, bettelt um Arbeit, auch wenn das bedeutet auf die Gewerkschaftsbeiträge zu verzichten“ Higgins Stimme klang bitter „Um Hamper gegenüber fair zu sein, er hat ihm keine gegeben. Er hat ihn fortgejagt, obwohl es heißt, er hätte wie ein Baby geweint.“

Higgins senkte seufzend den Kopf. Margaret sah betroffen auf ihre Hände hinab.
„Wo ist Mary?“, wollte Margaret wissen.
„Sie ist bei den Bouchers drüben“, erwiderte Higgins. „Boucher ist seit dem Tag, als er bei Hamper war, nicht mehr aufgetaucht. Kein Mensch weiß, wo er ist, auch seine Frau nicht. Sie ist krank und sehr schwach, und die Kinder sind hungrig. Mary hilft so gut es geht und bringt Essen vorbei.“
„Nikolas, reicht es denn dann noch für Euch?“
„Es muss!“, war seine knappe Antwort.
„Nein, Margaret, ich werde kein Geld von Dir annehmen!“, ergänzte er schnell und schüttelte den Kopf, als er erkannte, was sie vorhatte.

Als Margaret das Haus von Higgins verließ, trugen vier Männer eine Bahre. Darauf lag ein Mann, vollständig bedeckt mit einem weißen Tuch, nur die schmutzigen Füße waren zu sehen.
„Wir haben ihn im Kanal bei Ashley gefunden“, sagte einer der Männer.
„Im Kanal?“ Margaret sah erschreckt auf.
„Ja, alles deutet darauf hin, dass er sich das Leben genommen hat“, antwortete der Träger.
„Es ist Boucher“, sagte eine tiefe Stimme und erst jetzt erkannte Margaret John, der den Trägern gefolgt war.
„Das kann nicht Boucher sein, er hätte nie den Mut, sich etwas an zutun“, erklang Higgins Stimme. Er trat auf den Toten zu und zog das Tuch von dessen Gesicht. Higgins wich leichenblass zurück, als er das violette und leblose Gesicht von Boucher erblickte. Die toten, weit geöffneten Augen starrten leer in den Himmel.
Margaret blickte entsetzt auf den Toten.

„Warum hat Papas Gesicht so eine komische Farbe?“
Niemand hatte den Jungen bemerkt, der auf seinen toten Vater blickte. Margaret zog den Jungen an sich, weg vom Anblick seines Vaters.
„Das Wasser aus den Bleichtrögen fließt in den Kanal“, sagte John zu Margaret. gewandt „Higgins, Sie kannten ihn. Sie müssen gehen und es seiner Frau sagen. Jetzt gleich, wir können ihn hier nicht liegen lassen!“
„Ich kann nicht!“ Higgins schüttelte den Kopf, seine Stimme war brüchig. „Ich kann das nicht.“
„Ich gehe“, sagte Margaret tonlos, griff nach der Hand des Jungen und setzte sich in Bewegung.
„Warten Sie Miss Hale, ich werde Sie begleiten.“ John folgte ihr.

John konnte nicht anders, er bewunderte Margaret aus tiefstem Herzen. Selbst jetzt, in einer Zeit, in der sie um ihre verstorbene Mutter trauerte, war sie noch bemüht, anderen zu helfen.
Mary öffnete die Tür, als John dagegen klopfte. Überrascht sah sie von John zu Margaret und umarmte letztere freundschaftlich.
„Wo ist Mrs. Boucher?“, fragte Margaret.
„Sie schläft endlich“, antwortete Mary und blickte Margaret besorgt an „Was ist passiert?“
„Man hat Boucher gefunden, er ist tot.“, flüsterte Margaret und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Mary hielt entsetzt die Hand vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken.
„Gewissheit gibt es zwar erst, wenn die Untersuchungen abgeschlossen sind, aber wir haben den Verdacht, dass er sich im Kanal ertränkt hat“, fügte John leise hinzu.
„Sie wird es nicht verkraften.“ Marys Stimme war ein Flüstern und sie ließ sich zitternd auf einen der Stühle sinken. „Sie ist durch ihre Krankheit ohnehin schon geschwächt.“ Sie schloss traurig die Augen.
„Wir müssen es ihr sagen, Mary.“, Margaret legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens.
„Was müssen Sie mir sagen?“, erklang eine brüchige Stimme. Mrs. Boucher stand im Türrahmen, keiner hatte sie bemerkt. Sie blickte von einem zum anderen und kam mit schleppendem Schritt näher.
Kaum hatten Margaret und John Mrs. Boucher vom Tod ihres Mannes unterrichtet, stürzte diese mit einem Aufschrei aus dem Haus und lief weinend auf die Bahre zu.
„Nein! Nein!“, schrie sie. „Er hat uns alle geliebt, und wir ihn.“
Mrs. Boucher streichelte das Gesicht ihres Mannes. „Und ich habe so schreckliche Dinge über ihn gesagt“, ihre Stimme war tränenerstickt „…noch vor einem Moment. Was sollen wir nur ohne ihn tun?“
Margaret fühlte Johns Hand auf ihrem Arm. Sie wandte ihren Blick von Mrs. Boucher ab und sah zu Mary hinüber, die beschützend ihre Arme um den kleinen Tom geschlungen hatte und stumme Tränen weinte.

Nur wenige Tage später folgte Mrs. Boucher ihrem Mann in den Himmel – und ließ ihre sechs Kinder zurück. Sie wurde hoch über der Stadt beerdigt, in der frischen Luft. Ihr irdischer Kampf und ihre Sorgen waren für immer vorbei. Wie viel schwerer nun für jene, die zurück gelassen wurden und trauerten.



Chapter End Notes:
Danke an Tatty und Becci für's unermüdliche Beta-Lesen!


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