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Auch beim Frühstück am nächsten Morgen saßen sie zu viert am Tisch. Samantha war ihnen strahlend entgegen gekommen und hatte sie zu sich gebeten. Erneut hielten die Geschwister die Unterhaltung aufrecht und sie erfuhr weitere kleine Begebenheiten aus ihrem Leben. Die Beiden waren hierher gekommen, um sich in zwei Tagen mit ihren Eltern zu treffen. Nur selten kam die Familie zusammen und so wollte man die gemeinsame freie Zeit in aller Ruhe verbringen.

Wieder versprach es ein wunderbarer Tag zu werden, die Sonne hatte selbst zu dieser frühen Stunde schon erstaunlich viel Kraft. Er hatte ihr geraten trotz allem eine warme Jacke mitzunehmen, denn auf dem Meer würde es kalt werden, egal wie hoch die Temperaturen an Land wären. Sie saß neben Dave, der den Wagen durch die engen Straßen bis zum Hafen steuerte. Immer wieder richtete er sich an sie und fragte sie über ihr Leben aus. Sie antwortete nur abwesend.

Samantha unterhielt sich angeregt mit ihrem Mann, doch durch die Fahrgeräusche konnte sie nur wenig von dem verstehen, was dort gesprochen wurde. Sie war sich sicher, dass sie ihren Namen gehört hatte, doch so sehr sie sich auch bemühte, sie verstand nichts. Die Stimmen aus dem hinteren Teil des Wagens wurden immer leiser.

Dave parkte den Wagen in einer Parkbucht und wickelte die Formalitäten mit dem Hafenmeister ab. Über schmale Holzplanken führte er sie zu einer kleinen Segeljacht, die zwischen all den großen Booten winzig wirkte.
„Für mehr hat’s nicht gereicht“, lachte Dave und half ihr beim Besteigen des Schiffes. Sie fand es gar nicht so klein, das Cockpit hatte 6 Sitzplätze und durch die Luke konnte sie eine kleine Kabine erkennen. An der Seite war mit großen dunkelblauen Lettern der Name des Bootes verzeichnet. Sie lächelte, „Taurus“ – das Sternzeichen ihres Mannes und auch ihr eigenes. Vielleicht ein gutes Zeichen?

Sie blickte sich um, setzte sich dann hin, um den Anderen bei ihrer Arbeit nicht im Weg zu stehen. Sie war zwar schon gesegelt, doch eigentlich wusste sie nur wo der Bug und das Heck sich befanden, „Steuerbord“ und „Backbord“ konnte sie gerade eben noch auseinanderhalten.

Dave startete den Motor, mit dessen Hilfe er die Jacht aus dem Hafen manövrierte. Samantha und ihr Mann hatten sich bereits in Position begeben, um Dave später mit dem Hissen des Hauptsegels behilflich zu sein. Es machte dem jungen Mann offensichtlich Spaß ihr alles zu erklären und so flogen ihr unbekannte Worte für die Einzelteile des Schiffes um die Ohren. Sie bemühte sich verständnisvoll drein zu blicken und ihm bei seinen Erklärungen zu folgen.

Doch immer wieder lenkte der Anblick der Beiden auf dem Laufdeck sie ab. Sie verstanden sich prächtig, das sah man auf den ersten Blick. Das Boot verließ den Hafen und Dave steuerte es vorsichtig durch die kleine Bucht. Er gab bereits die ersten Anweisungen und Sam half ihrem Mann, das große Segel zu setzen. Die Beiden kamen zurück zum Cockpit und kurbelten angestrengt an der Winsch. Das Tuch hatte ein erhebliches Gewicht, selbst bei der Größe dieses Schiffes. Ihr Mann blies rhythmisch den Atem aus, Sam ächzte nicht weniger. Doch sein Gesicht strahlte regelrecht, man sah ihm seine Freude an.

Das Segel entfaltete sich und Samantha fixierte geschickt die Schot, damit sich der Baum mit dem Segeln nicht unkontrolliert hin und her bewegte. Dave gab auch ihr genaue Anweisungen, die sie bei der Wende unbedingt befolgen sollte.
„Hast du alles verstanden?“, fragte er laut.
„Ja!“, schrie sie gegen den Wind an.

Dave brachte das Boot an den Wind und sofort nahm es Geschwindigkeit auf. Ihr kam es vor, als lehne sich das Segel gegen den Wind. Ihr Kapitän am Steuer erklärte ihr alles über die Windrichtung und dass das Boot nun hoch am Wind segelte, und wie weit sie so kommen würden und wie schnell es werden würde. Das ganze Schiff neigte sich nach rechts und sie versuchte krampfhaft ihren Platz auf der Sitzbank beizubehalten, was sich als schwierig erwies. Nirgends fand sie eine Erhebung am Boden, an der sie sich hätte abstützen können.

Samantha und ihr Mann saßen ihr gegenüber und lehnten sich gegen das Bord. Sie hatten keinerlei Probleme sicher zu sitzen, sie hatten sich instinktiv die richtige Seite des Boots ausgesucht. Das Schiff nahm rasant an Tempo auf und jede kleine Welle schlug hart gegen den Rumpf. Es hob sie jedes Mal ein wenig aus dem Sitz und sie klammerte sich an die Reling hinter ihr.

„Wende!“, rief Dave und sie wusste was sie tun musste. Sie senkte den Kopf und wartete in dieser Stellung, bis Dave die Entwarnung gab. Der Baum war mit dem Richtungswechsel auf die Backbordseite des Schiffes geschwungen. Die Wellen krachten gegen den Rumpf und Salzwasser spritzte ihr ins Gesicht. Die plötzliche Kälte auf der Haut ließ sie die Luft anhalten und wie von selbst verzog sich ihr Mund zu einem Lächeln.

Nun saß sie auf der besseren Seite, sie lächelte, als sie feststellte, dass ihr Mann verzweifelt Halt suchte, nun hielt er sich an der Reling fest. Samantha, die die Schot gelöst und wieder festgezurrt hatte, ließ sich neben ihm nieder und er legte ihr seinen Arm um die Schultern, um sie vor dem Abrutschen zu schützen.

Dave brachte das Schiff nach der nächsten Wende vor den Wind, fixierte das Steuerrad und Samantha sicherte den Baum. Das Schiff stabilisierte sich. Die Geschwindigkeit nahm ab und sie musste sich nicht mehr irgendwo festklammern, sondern konnte sogar aufstehen und über Seitendeck zum Bug des Schiffes gehen. Sie streckte sich und hielt ihr Gesicht in den Wind. Ein leichtes Gefühl stieg in ihr auf und sie war plötzlich ganz ruhig und genoss das sanfte Dahingleiten auf dem funkelnden Wasser.

„Sollen wir sie fliegen lassen?“, schrie Dave ihr zu.
„Fliegen?“, fragte sie.
„Genau! Wir lassen sie fliegen! Samantha, geh nach vorne!“ Offensichtlich wusste Daves Schwester genau, was sie zu tun hatte.
„Wenn du da vorne bleibst, haut sie dir den Baum um die Ohren. Setz dich lieber hier neben hin, da kannst du dich festhalten!“
Ihr Mann blickte sie an und nickte ihr zu. Vorsichtig ließ sie sich auf den Holzplanken nieder und hielt sich an dem Handlauf auf dem Kajütdach fest.

Er ging zurück zum Heck und löste die Schot. Dave leitete ihn an, und geschickt zurrte er die Leinen wieder fest. Er stieg dann über ihre Beine und ging zum Bug um Samantha zu helfen. Die Beiden beugten sich über die Winsch und blickten angespannt zu Dave. Nervös huschte ihr Blick mal zu Dave mal zu ihrem Mann und Samantha und dann gab Dave das Zeichen. Samantha nickte ihrem Mann zu und gemeinsam kurbelten sie wie die Verrückten und zogen ein riesiges Stück Tuch auf, das die Farben des Union Jacks hatte. Sie riss die Augen auf, als könne sie nicht glauben, was sie sah.
Mit einem lauten Knall entfaltete sich der Spinnaker und der Wind formte ihn zu einer riesengroßen Beule. Augenblicklich nahm das Schiff Geschwindigkeit auf. Wie ein Rennwagen preschte es durch die Dünung, der Wind drückte kraftvoll in das Segel und schob das Schiff Richtung Süden.

Sie konnte die Tränen, die ihr über das Gesicht liefen, nicht stoppen. Ein unglaubliches Gefühl der Freiheit bemächtigte sich ihrer und sie blickte tränenblind auf das Meer. Nun wusste sie, was es bedeutete zu fliegen - auf dem Wasser zu fliegen. Sie hielt sich so fest wie sie konnte und hatte doch das Gefühl, jeden Augenblick wegzurutschen. Sie hörte Dave etwas rufen, konnte ihn jedoch nicht verstehen. Er hatte eine Hand am Steuerrand, mit der anderen justierte er die Schot. Mit dem Kopf gab er Zeichen, ihr Mann kam zu ihr und setzte sich neben sie. Sie war froh über den Halt, den sein starker Körper ihr gab. Sie konnte den Griff am Handlauf etwas lockern und ließ sich gegen seine Brust und Beine fallen.

Immer schneller flog das Boot über das Wasser, der Bug hob und senkte sich wieder, immer wieder wurde ihr Körper hochgehoben und landete dann unsanft auf dem Deck. Sie presste die Lippen aufeinander, denn sie würde schreien, wenn sie ihrem Mund öffnete.
Er neigte ihr seinen Kopf zu und fragte sie: „Ist alles in Ordnung?“.

„JA! Ja, alles in Ordnung. Es ist wunderbar!“, ihre Stimme zitterte ein wenig, genauso wie ihr ganzer Körper, doch eigentlich fror sie gar nicht.
„Komm näher!“, er zog sie näher zu sich und sie konnte ihren Kopf an seine Brust legen. Mit seinem breiten Rücken bot er einen sicheren Windschutz. Sie spürte seine Brusthaare in ihrem Gesicht, sie kitzelten sie an der Nase. Sie spürte ein Glücksgefühl, wie sie es schon lange nicht mehr gekannt hatte.

Ihre dunklen Haare flogen um ihren Kopf und verhedderten sich mit ihrem Schal. Um nichts in der Welt wollte sie es jetzt anders haben, bequemer, wärmer, gemütlicher. Sie spürte sein Herz schlagen, sie spürte es an ihrer Wange und unter ihrer Hand, die er auf seiner Brust festhielt. Jeder Schlag wie ein kleines Erdbeben, dachte sie. Sie hörte seinen Atem ein- und ausfließen, so regelmäßig, so beruhigend.

„Achtung!“ Daves Stimme übertönte die Herrschaft des Windes und drang in ihre Ohren: „Segel killen!“
„Er wendet, ich muss helfen!“ Sie wollte ihn noch nicht loslassen, sie wollte lieber noch in seinen Armen liegen. Doch er schob ihre Arme sanft zur Seite: „Du kannst jetzt hier alleine sitzen, keine Angst!“
„Ich hatte keine Angst, ehrlich. Nicht, wenn du bei mir bist!“
Sie blickte auf und sah sein Gesicht, ein Lächeln breitete sich darauf aus, es war, als ginge die Sonne auf.

„Ich muss Dave helfen, okay!“
„Ja...danke, dass du bei mir warst!“
„Ein schönes Gefühl zu fliegen, oder?“, er hielt noch immer ihre Hand.
„Ja! Das ist es – wunderschön! Das Meer...!“, sie stockte.
„Findest Du?“, seine Augen blitzten und sahen sie direkt an, da war er wieder, dieser Blick, der Gestein zum Schmelzen brachte.
„Ja, es ist so grausam und doch so schön, ich finde keine Worte.“
„Ich wusste nicht, dass du das Meer magst...das Segeln!“
„Ich auch nicht“, gestand sie.

„Komm!“, er zog sie mit zum Heck des Schiffs und half ihr ins Cockpit. Wieder musste sie sich unter dem Segelbaum hindurch ducken, während er zurück zum Bug ging und mit Samantha den schlaff herabhängenden Spinnaker einholte. Die beiden verschwanden fast unter dem leichten, bunten Segeltuch. Mit beiden Armen, raffte er das Tuch zusammen und brachte es zur Steuerbordseite des Schiffs. Die ausgeführten Handgriffe liefen so schnell ab, als hätten die Zwei das schon tausend Mal geübt.

Es dauerte lange, bis die Beiden im Bug das Tuch wieder eingepackt hatten und sie fragte sich, ob sich dieses Vergnügen überhaupt gelohnt hatte.
Dave stand neben ihr am Steuer und blickte sie lachend an: „Gefällt es Dir?“
Sie konnte nur zustimmend nicken, sie war zu aufgeregt, ihr Herz pochte wie wild, die Zunge klebte ihr am Gaumen. Der Wind zerrte nicht mehr so stark an ihr, doch ihre Haut fühlte sich an, als sei sie einer Massage ausgesetzt gewesen.

Sie hatte sich ordentlich eingecremt bevor sie losgezogen waren, doch von der Feuchtigkeit der Creme war nichts mehr zu spüren.
„Achtung jetzt, wir halsen. Halte dich fest und achte auf den Baum!“
„Heißt das, dass wir zurück segeln?“
„Ja, das heißt es. Wir nehmen erst noch mal ordentlich Geschwindigkeit auf und dann geht es los. Du passt auf, ja! Achte auf die Manöver und darauf, wie das Boot reagiert. Wir werden recht flott wenden und der Großbaum kommt über, also Vorsicht!“

Sie hielt sich fest und verfolgte aufmerksam die Handgriffe der kleinen Mannschaft. Rechtzeitig vor der Halse senkte sie ihren Kopf und achtete darauf nicht vom Sitz zu rutschen, als das Boot plötzlich die Richtung änderte. Das Segel knatterte und die Leinen sirrten im Wind. Dave legte die Schot um und brachte den Bug in den Wind, während die anderen Beiden die Plätze auf dem Boot wechselten.
Plötzlich hing das Segel schlaff herunter und der Baum schwang herum. Sie blickte vorsichtig auf, denn das Boot schien plötzlich stehen zu bleiben, es wurde ganz langsam.

Doch Dave brachte die „Taurus“ an den Wind, das Segel blähte sich und schon nahm sie wieder Fahrt auf.
„Wahnsinn!“, rief sie begeistert. „Wie habt Ihr das gemacht?“.
Alle drei lächelten sie an.

Auf der Rückfahrt hatten sie Zeit etwas zu essen. Sam hatte einen Picknickkorb mitgebracht und sie wunderte sich, wie hungrig sie war. Obwohl sie nichts auf dem Boot hatte helfen können, war sie hungrig wie ein Wolf.
„Das macht das Meer und der Wind! Da kriegt jeder Hunger“, erklärte Dave ihr.

Sie saßen gemeinsam im Cockpit und sie musste immer wieder an das Manöver mit dem Spinnaker denken, dieses Gefühl auf dem Wasser zu fliegen, die Schläge, die der Rumpf einfing und an die Menschen darüber weiter gab. Dieser Lärm, der alles andere übertönte und der beißende Wind! Sie fühlte sich zufrieden, müde, entspannt und glücklich zugleich. Sie hatte zum ersten Mal seit Wochen wieder Kontakt mit ihrem Mann aufgenommen.

Hatte sie nicht ein Stück dieser Nähe zurück gewonnen, die sie so vermisst hatte? War das nicht ein kleiner Lichtblick oder interpretierte sie zuviel hinein? Sie wollte einfach glauben, dass das ein kleines Zeichen war! Sie schaute zu ihm hinüber und blickte direkt in seine Augen. Sie hatte nicht bemerkt, dass er sie beobachtete. Jetzt stieg Hitze in ihr Gesicht, nur gut, dass ihre Haut sowieso gerötet war, so würde er es nicht sehen. Sie lächelte und erschrak als er aufstand und zu ihr herüber kam. Sie rückte ein Stückchen zur Seite und er setzte sich neben sie.

„Alles in Ordnung mit dir? Du scheinst hungrig zu sein?“
„Ja, das kann man wohl sagen! Samantha hat sich unheimlich Mühe mit dem Essen gemacht, es ist so lecker!“
Er lachte und meinte: „Ich denke nicht, dass Sam den Korb gepackt hat, das hat sie sicher machen lassen. Mit dem Kochen hat sie es nicht so!“

„Ach ja?“, sie wollte jetzt nicht hinterfragen, woher er das wohl wusste, sie wollte nur seine Nähe noch ein bisschen genießen. Sein Oberarm lag an ihrem und sie hatte das Gefühl, seine Wärme würde auf ihrer Haut brennen, durch Jacke und Sweatshirt. Sie wandte ihm das Gesicht zu, er war so nah, sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut. Er hatte sich am Morgen nicht rasiert und seine Bartstoppeln bedeckten das markante Gesicht. Sie sog seinen Duft tief ein und hätte sonst was drum gegeben ihn jetzt berühren zu können.





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