Neugierig öffnete Hester den Brief ihres Vaters. Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen; wahrscheinlich hatte er schon mehrmals versucht sie anzurufen und sie nicht erreicht, wenn er ihr jetzt schrieb. Das Studium kostete viel Zeit und Energie und war für sie zudem eine Möglichkeit nicht an Philip zu denken. Dennoch hätte sie mehr Kontakt zu ihrem Vater halten müssen. Es war nur einfacher erschienen alles auszublenden, was sie an Philip erinnerte. Es war verrückt, sie hatte nie eine Beziehung zu Philip gehabt, es war alles nur Wunschdenken gewesen. Sie hatte ihn nur wenige Male überhaupt berührt und das war, als er bewusstlos und dem Tode nah war. Vielleicht war es deshalb so schlimm und sie konnte ihn nicht vergessen. Der wirkliche Mann war nicht so liebenswert, wie er in ihrer Vorstellung war. Er hatte sie nicht einmal zurückgerufen.
Hester blinzelte und musste wider Willen lächeln. Immer wieder Philip; dabei gab es doch auch andere nette Männer. Allerdings machte Hester sich nichts vor. Sie wollte zurzeit keine Beziehung und für ihr Studium war es sowieso einfacher. Warum hatte sie sich nicht in einen Mann wie Steven Pritchet verlieben können? Er war groß, blond und gut aussehend. Steve war Sportlehrer auf dem Campus und es machte Spaß mit ihm zusammen zu sein; er lachte gerne ohne oberflächlich zu sein, - und er war der Freund von Ella Pears, ihrer besten Freundin. Sie gönnte es Ella von Herzen; Steven und Ella waren ein wundervolles Paar und Hester hatte selten einen Mann so offensichtlich verliebt gesehen und so ungeniert es zu zeigen.
Hester entfaltete den Bogen Papier: Ihre Vater würde Gwenda heiraten. Wie wunderbar! Hester hatte Gwenda immer sehr gerne gemocht und sie gönnte ihr und Vater dieses Glück. Manchen mochte es etwas früh nach dem Tod von Rachel Argyle erscheinen, aber Hester wusste, dass es immer Menschen geben würden, die sich das Maul zerrissen, egal welchen Zeitpunkt die beiden wählen würden. Von Gwenda würde Vater die Anerkennung bekommen, die ihm Rachel immer verwehrt hatte. Vater hatte bereits mehrfach versucht Hester telefonisch zu erreichen um es ihr persönlich zu sagen, aber vergeblich. Die Hochzeit würde bereits in zwei Wochen stattfinden. Er bat sie vorher zu kommen und etwas zu helfen und hatte bereits eine Gästeliste beigefügt – Philip stand auch darauf.
Hesters Herz fing an zu klopfen. Er hatte klar gemacht, dass er sich für sie keine Zeit nehmen würde; sie würde einfach so tun als sei nichts vorgefallen und als mache es ihr nichts aus, dass er nicht zurückgerufen hatte.
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Eine Einladung zur Hochzeit….Leo hatte darauf bestanden. Trotz seiner Scheidung von Mary gehöre er noch immer zur Familie und Gwenda sähe es genauso. Mary würde mit ihrem Verlobten dasein und wenn das Philip nicht störe... Er würde sich sehr freuen, hatte Leo gesagt und schließlich hatte Philip zugesagt. Die Tatsache auf Mary zu treffen, machte ihm wirklich nichts aus, eher schon, dass Hester natürlich da sein würde. Leo hatte ihm gesagt, dass ie alleine käme und es wohl auch keinen Mann in ihrem Leben gäbe.
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Es war eine schöne Trauung gewesen, die Freude be Leo und Gwenda so offensichtlich. In der großen Menge an Menschen, die die Kirche besucht hatten, war es Philip gelungen Hester zu vermeiden, doch jetzt… Als er die Tischkarten studierte, stelle er fest, dass er genau gegenüber von Hester saß. Gwenda flüsterte ihm kurz zu, sie wisse, dass seit dem Vorfall mit Jacko noch keine Gelegenheit gehabt hatte mit Hester zu sprechen und sie sei sicher, dass die alten Animositäten eine für allemal begraben seien. Es wurde ein Apérétif gereicht und Philip stand neben Mickey, als Hester den Raum betrat. Ein grünes Seidenkleid umspielte ihre zierliche Figur; Philip hatte sie nie schöner gesehen und ertappte sich dabei, wie er sie anstarrte. Mickey neben ihm schaute ihn überrascht und stirnrunzelnd an.
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Hatte sie vergessen, wie gut er aussah und wie er lächeln konnte? Zu Hause hatte sie sich einreden können, sie sei über ihn hinweg, doch als sie ihn am anderen Ende des Raumes entdeckte, merkte sie, wie ihr das Herz bis zum Halse klopfte. Er sah wunderbar aus in dem Smoking und der Stock, auf den er sich stützte, tat dem keinen Abbruch. Warum starrte er sie so an? Das sah weniger nach schlechtem Gewissen aus als nach…..Schon wieder Wunschdenken, Hester. Wirst du denn nie vernünftig? Sie fasste sich schnell wieder und ging auf Philip zu Wenn sie ihn jetzt ansprach und ein wenig Smalltalk machte, hatte sie es hinter sich. Es waren genügend Gäste da, mit denen sie sich würde unterhalten können.
„Hallo, Philip….Du siehst gut aus….“ Warum hatte sie das gesagt? Warum verlor sie in Gegenwart dieses Mannes nur ständig die Fähigkeit sich ausdrücken zu können?
Philip schien verlegen; er blinzelte, lächelte sie dann aber an. „Hester….“ Viel mehr sagte er nicht und nur wenig später wurde das Essen aufgetragen. Philip bliebe recht einsilbig. Es machte sich bei Ihnen die gleiche Sprachlosigkeit breit, die schon früher geherrscht hatte. Nach dem Essen nahm Philip sein Zigarettenetui aus der Jackentasche. „Du hast es noch?“ platzte Hester heraus.
„Natürlich!“ Philip nickte überrascht. „Es hat mir das Leben gerettet; du hast mir das Leben gerettet. …Ich hätte mich gerne persönlich bedankt….“
„Und warum hast du es nicht getan?“ entgegnete Hester, und Philip glaubte mühsam unterdrückte Zorn in ihrer Stimme zu erkennen.
„Aber du warst es doch, die…“
„Hallo, Philip, kann ich dich einen Augenblick sprechen?“ Philip hatte die Art von Mickey einfach in Gespräche zu platzen immer gehasst, aber in diesem Augenblick war er froh entfliehen zu können, bevor er ihr unverblümt seine Meinung an den Kopf warf und die Hochzeit ruinierte. Hester hatte Nerven! Wie einen dummen Jungen hatte sie ihn versetzt und tat jetzt so, als wüsste sie von nichts. Energisch schob er den Stuhl nach hinten. „Du entschuldigst mich, Hester,“ sagte er fast grob und erhob sich. Wie er fast erwartet hatte, war das, was Mickey ihm zu erzählen hatte, nichts Wichtiges. Es ging mal wieder um einen neuen Wagen, den er sich gekauft hatte und Philip hörte nur mit halbem Ohr zu. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er Hester, die ihm noch immer nachstarrte. Sie war zornig; sie war zornig auf ihn? In den folgenden Stunden vermied er es weitere Worte mit Hester zu wechseln; wozu sollte das gut sein? In der Halle standen sie plötzlich nebeneinander, als er Mantel und Schal anzog. Plötzlich konnte er nicht mehr an sie halten. „Du hättest einfach Bescheid geben können, dass du nicht kommst.“ Dann drehte er sich um und ging, ohne Hester weiter anzuschaun.
Immer noch wütend schloss Philip die Haustür hinter sich. Lernte er denn gar nichts dazu, wo Hester betroffen war? Er hängte den Schal an den Garderobenhaken und unwillkürlich griff er in seine Manteltasche und fühlte den kleinen Gedichtband, den er fast immer mit sich herumtrug. Mit ihm hatte alles angefangen, aber jetzt schien es, als sei er am Zielpunkt angelangt. Es hatte sich schon lange nichts mehr ereignet. Er holte das Büchlein heraus und legte es auf die Kommode. Sanft strichen seine Finger über den abgegriffenen Ledereinband.
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Von hinten schlangen sich zwei weiche Arme um seine Brust.
“Ich liebe dich, Philip.“
Philip erstarrte – Hester! Er drehte sich um und blickte in ihr spitzbübisches Gesicht. Er blinzelte, aber sie war eindeutig Wirklichkeit und kein Produkt seiner Phantasie. Wie war sie so schnell hierher gekommen? Er hatte auf dem Heimweg niemanden gesehen….War die Ablehnung, die er in ihrem Blick zu sehen geglaubt hatte, nur Einbildung gewesen? Was….?
Die Verblüffung musste sich in Philips Blick widerspiegeln, denn Hesters Blick wurde unsicher. „Freust du dich nicht mich zu sehen? Ich habe die nächsten Tage keine Vorlesung und wollte dich überraschen.“
„Oh doch, Hester,“ erwiderte Philip leise. „Oh, doch.“ Er zog sie an sich und spürte ihre weichen Formen unter der Bluse und dem Rock. Nur kurz wunderte er sich, warum sie sich umgezogen hatte. Ihre Lippen waren warm und weich und ihre Haut zart wie die eines Babys. Seien Lippen suchten die ihren, er küsste sie sanft und Hester stöhnte leise; seine Arme schlossen sich fest um sie, presste sie an sich um strich über ihre Haare, barg sein Gesicht darin und atmete den Duft ein. „Du ahnst nicht, wie sehr ich mich danach gesehnt habe dich im Arm zu halten,“ raunte Philip heiser.
„Du tust meinem Denkvermögen nicht gut,“ lachte er dann. „Wie bist du so schnell hierher gekommen?“
Sie schmiegte sich an ihn und er merkte an ihrer Reaktion, dass sie sehr wohl bemerkte, was sie bei ihm auslöste. „Ich hatte Unrecht,“ flüsterte sie leise und dann schaute sie an ihm hoch. „Du freust dich offensichtlich sehr, dass ich hier bin.“
Philip sah, wie sie sich auf die Lippen biss, da sie trotz der Bemerkung, die sie leichthin gemacht hatte, etwas verlegen war.
„Ich wollte dich überraschen und nachdem heute keine Vorlesung war. - Wo warst du denn?“
Philip schaute sie verwirrt an – wieso Vorlesung? Es war Wochenende, sie waren gerade von der Hochzeit…. Doch dann wurde ihm heiß und kalt. Auf einmal sah er, was nicht stimmte. Er hatte nicht viel Ahnung von Frisuren oder von Makeup, aber dennoch sah er, dass sie anders aussah als vorher Sie konnte nicht von der Hochzeit gekommen sein; nicht nur, dass sie andere Kleidung trug, auch ihre Haare waren anders. Das musste… Was war hier passiert? Das war nicht die Vergangenheit, das musste die Zukunft sein, zumindest eine mögliche Zukunft und das hatte er in der Hand. Es war noch nicht zu spät!
„Geht’s dir nicht gut, Philip?“
„Doch; Hester….“ Er zog sie wieder an sich. In diesem Moment war es ihm egal, dass dies wohl gar nicht Wirklichkeit war, denn ob sich die Zukunft so erfüllen würde, wie er es hoffte? Vielleicht war dies das erste und letzte Mal, wo er Gelegenheit hatte zu träumen.
„Ich bin so froh,“ flüsterte Hester. „Ich habe mich schon damals in dich verliebt, als Mary dich das erste Mal mitbrachte und habe sie noch nie so beneidet wie zu diesem Zeitpunkt. Noch nie hatte ich mir gewünscht so schön zu sein wie sie und jetzt stehe ich hier mit dir. Manchmal denke ich, ich befinde mich in einem Traum. Ich kann immer noch nicht glauben, dass wir in noch nicht einmal einem Monat verheiratet sind.“
Philip schluckte. Alles, was er sich erträumt hatte, konnte wahr werden. „Ich habe eine Überraschung für dich, Philip. Du hast zwar gesagt, wir brauchen keine große Hochzeitsreise, aber…. Ich dachte, du freust dich bestimmt. Ich will dir etwas zeigen; kommst du mit ins Arbeitszimmer?“
Philip nickte und Hester ging vor, während er seinen Mantel auszog. Dann griff er nach dem Gedichtband auf der Kommode und steckte sie in seine Anzugjacke. Dass er das nicht bemerkt hatte. Es hätte ihm doch gleich auffallen müssen, dass er überhaupt keinen Smoking trug. Hester hatte ihn offensichtlich abgelenkt. Er lächelte und betrat das Arbeitszimmer. Wo war Hester? Sie hatte von einer Überraschung gesprochen, aber sie war nicht so kindisch, dass sie sich verstecken würde. „Hester?“ Nichts – es blieb ruhig, er war allein…. Das Buch, der Gedichtband….Philip stöhnte; er wusste doch längst, dass seine Zeitreisen mit diesem Büchlein zusammenhingen. Doch ein Gutes hatte dies alles gehabt, er wusste jetzt, wie ihre Küsse schmeckten und er würde nicht aufgeben, bis sie ihm gehörte. Sie hatte zugegeben, dass sie ihn liebte und vielleicht war alles nur ein Missverständnis gewesen, dass sie auf seinen Brief nicht reagiert hatte. Er würde sie anrufen oder, vielleicht noch besser, er würde sie besuchen. Wenn er ihr gegenüberstand, würde sie ihm nicht ausweichen können. In den kommenden zwei Tagen war sein Terminplan voll gestopft, aber dann….
Er war noch immer gut gelaunt, als er am Montag an die Universität zurückkehrte. Seltsam, Beatrice war noch gar nicht da; sonst war sie schon immer vor ihm am Arbeitsplatz. Philip saß schon eine ganze Weile an seinem Schreibtisch und sah verschiedene Schreiben durch, als er die Tür hörte. Kurze Zeit später betrat Beatrice sein Zimmer und Philip sah sofort, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie war blass und sah übernächtigt aus, ihre Bewegungen waren fahrig. Schon ein paar Mal hatte er in den vergangenen Tagen gedacht, dass sie anders war als sonst.
„Ist etwas nicht in Ordnung, Beatrice?“ fragte er besorgt und stand auf, doch Beatrice trat einen Schritt zurück.
„Philip, ich….Ich habe etwas getan, was du mir vermutlich nicht verzeihen kannst, was ich mir selbst nicht verzeihen kann…und ich….ich habe meine Kündigung mitgebracht.“ Auf Philips verständnisloses Gesicht hin fuhr sie fort. „Ich hatte gedacht, dass…du und ich….und dann…dein Brief an Hester Argyle ist nie zur Post gegangen…Bitte verzeih mir….“ Tränen standen in ihren Augen; dann legte sie legte einen Briefumschlag auf den Schreibtisch und floh regelrecht aus dem Zimmer; Philip blieb fassungslos zurück.