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„Selbstverständlich, Professor Durrant,“ erwiderte Beatrice und nahm das Kuvert entgegen.

Philip saß noch eine Weile ohne weiterzuarbeiten an seinem Schreibtisch, nachdem seine Sekretärin das Zimmer verlassen hatte. Er atmete tief durch; vielleicht hatte es andere Gründe, dass sie sich bisher nicht gemeldet hatte, vielleicht… 

Anders als sonst hatte er den Brief bereits verschlossen und anders als sonst trug der Brief eine Privatadresse. Beatrice legte den Brief auf die übrige Post und holte die Briefmarken aus der obersten Schreibtischschublade. Dies war der erste private Brief, den Professor Durrant von hier geschrieben hatte. „Hester Argyle“ stand auf dem Umschlag. Beatrice erinnerte sich an den Namen; das war seine Schwägerin, die ihn damals gefunden hatte, so hatte es in der Zeitung gestanden. Der Brief schien sie regelrecht anzuschaun. Beatrice frankierte die Post und steckte den Stapel Briefe in ihre Aktenmappe; den obersten Brief ließ sie in ihrer Manteltasche verschwinden. Eventuell konnte sie ihn immer noch morgen abschicken.  

Der Brief schien ein Loch in ihre Manteltasche zu brennen. Noch nie hatte Beatrice etwas Derartiges gemacht. Sie fühlte sich, als ob jedermann, dem sie auf dem Heimweg begegnete, sehen könnte, dass sie etwas zu verbergen hatte. Schwer atmend schloss sie schließlich die Tür ihrer kleinen Wohnung hinter sich und legte den Brief auf die kleine Kommode im Flur. Beatrice ging in die Küche und setzte Teewasser auf, doch als das Wasser kochte, hatte sie noch nicht einmal die Teedose aus dem Schrank geholt. Sollte sie den Brief vielleicht doch noch zur Post bringen? Das Wasser kochte noch immer und der Dampf füllte die kleine Küche. Langsam stand Beatrice auf und holte den Brief. Keiner würde es merken…. 

Liebe Hester, 

ich habe mir lange überlegt, wie ich diesen Brief anfangen soll, vielleicht mit Dank, denn ohne dich wäre ich nicht mehr am Leben. Du und das Zigarettenetui, das du mir geschenkt hast, haben mir das Leben gerettet. Seitdem habe ich dich nicht wiedergesehn und ich würde mich gerne bei dir bedanken. Dein Verhalten beim letzten Mal gibt mir Anlass zur Hoffnung, dass die früheren Animositäten zwischen uns nur ein Missverständnis waren. Ich würde dich gerne zum Essen einladen, erinnerst du dich and das kleine Restaurant in der Nähe meines ehemaligen Hauses? Mein Vorschlag wäre von heute an in zwei Wochen um 8 Uhr abends. Wenn ich nichts weiter von dir höre, erwarte ich dich dort. 

Dein Philip  

Das war es also…. Auch wenn er den Brief vorsichtig formuliert hatte, wusste Beatrice doch, was er bedeutete. Entschlossen riss sie den Brief in kleine Fetzen. 

~~~ 

Philip saß schon eine Weile in dem kleinen Restaurant, aber er nahm die Aussicht kaum wahr. Frauen waren immer zu spät, oder? Er hatte sich inzwischen den dritten Tee bestellt und zog nervös an seiner Zigarette. Sie hätte ihm doch geschrieben, wenn sie keine Zeit gehabt hätte…Doch eine leise Stimme flüsterte: Sie hat dich versetzt, Philip. Sie hat nicht mal geantwortet. Du bist ihr völlig egal; deutlicher kann sie nicht mehr sein. Dies ist auch eine Antwort. Kein Besuch, keine Zeile und jetzt das…Es wurde Zeit, dass er den Tatsachen ins Auge sah. Philip winkte den Kellner heran und bezahlte. Beatrice sah am nächsten Morgen sofort, wie übernächtigt Philip aussah und brachte ihm ohne lange zu fragen einen Kaffee und mehrere Biskuits. Er war froh, wie ruhig und verständnisvoll sie war ohne aufdringlich zu sein. Sein Kopf schmerzte und er massierte seine Schläfen.

„Brauchen Sie noch etwas, Professor Durrant?“ fragte sie und lächelte ihn an.  

Es wird Zeit aus meiner Traumwelt zu erwachen. Es gibt noch andere Frauen als Hester, dachte Philip, als die Tür hinter Beatrice ins Schloss gefallen war. Sie hatte hübsche Beine. 

~~~ 

Ich bin ein Feigling, dachte Hester. Von Vater lasse ich mich über Philip auf dem Laufenden halten, aber ich bringe es nicht fertig auch nur einen einzigen Brief zu schreiben. Wie viele hatte sie angefangen und alle wieder zerrissen…Und wenn sie ihn anrief? 

„Universität Oxford, Vorzimmer Professor Durrant,“ tönte eine angenehme weibliche Stimme aus dem Hörer.  

„Guten Tag, mein Name ist Hester Argyle, könnte ich bitte Professor Durrant sprechen?“

„Er ist noch in einer Vorlesung. Kann ich etwas ausrichten?“ 

„Das wäre….Vielleicht könnte er mich zurückrufen, wenn er kommt. Meine Nummer ist…“ 

„....Ich habe Ihre Nummer notiert, Miss Argyle und gebe ihm Bescheid. Es sollte nicht lange dauern; er dürfte in etwa in einer halben Stunde hier sein.“ 

Erleichtert legte Hester auf. Sie hatte sich darauf gefreut seine Stimme zu hören, aber sie wusste nach wie vor nicht, was sie ihm überhaupt sagen sollte. Vielleicht nachher, wenn er zurückriefe… Doch drei Stunden später war ihr klar, dass er nicht anrufen würde. Selbst wenn noch etwas dazwischengekommen wäre, er hätte die Nachricht längst erhalten. Philip wollte nicht anrufen, er wollte keinen Kontakt. Sie hatte sich wohl nur eingebildet, dass er Interesse an ihr hatte. Der Tag, an dem sie ihm das Zigarettenetui geschenkt hatte, sie war so sicher gewesen, dass er etwas für sie empfand, als er sie aufhalten wollte. Er war jetzt geschieden, er war frei, aber offensichtlich hatte er kein Interesse sie auch nur kurz zu sprechen. Noch nicht einmal das, was man aus purer Höflichkeit erwarten konnte…Offensichtlich hatte sie sich in ihm getäuscht. Nicht dass sie eine große Dankesrede erwartet hätte, aber…Siehs ein, Hester, du hast dich wieder einmal zum Narren gemacht.  

~~~ 

Philip legte seine Bücher auf den Schreibtisch. „Irgendwelche Nachrichten, Beatrice?“ 

„Nein, Professor Durrant, es war ruhig heute.“ Philip lächelte seine Sekretärin an. Sie war wirklich ein Glücksgriff. „Beatrice, haben Sie für Samstag schon etwas vor?“ 

~~~ 

Auch in den nächsten Wochen lud Philip Beatrice zu Unternehmungen ein. Sie waren unverfänglich, ein Theaterbesuch, ein Museum, ein gemeinsamer Lunch. Beatrice wurde ungeduldig. Es war ja gut, dass er kein Draufgänger war, aber er hatte sie noch kein einziges Mal geküsst, nicht  ein einziges Mal hatte es auch nur die Andeutung einer Zärtlichkeit gegeben. 

Philip blickte auf die gut aussehende junge Frau ihm gegenüber. Er wusste, dass sie in ihn verliebt war. Sie war in gewisser Weise die ideale Frau. Er räusperte sich und leckte nervös seine Lippen. „Beatrice, ich möchte dir etwas sagen…“

 

Philip räusperte sich erneut und Beatrice merkte, wie nervös er war. Aufmunternd lächelte sie ihn an. „Beatrice, ich habe die vergangenen Wochenenden mit dir sehr genossen und du bist eine junge Frau, die…..“ Er stockte und begann von neuem. „Ich glaube, ich war unfair dir gegenüber….du hast nicht verdient….Ich mag dich sehr, aber…“

Bereits nach den ersten Worten hatte Beatrice begriffen. So sah kein glücklicher Mann aus, der eine Liebeserklärung machen wollte: Ja, er mochte sie, aber es war nicht mehr und würde wohl auch nie mehr werden. Sie starrte vor sich hin, sah vor sich, wie er weitersprach, aber die Worte drangen nicht zu ihr vor. Sie blinzelte. „….wollte dich nie verletzen und ich hoffe, dass du mir verzeihst.“ 

Da saß er vor ihr und bat sie um Verzeihung. Wenn er wüsste, was sie getan hatte…Entschlossen schüttelte Beatrice den Kopf. „Nein, natürlich weiß ich, dass du mir nicht wehtun wolltest. Ich habe diese Zeit auch genossen und du hast dir wirklich nichts vorzuwerfen. Wir verstehen uns gut und mehr ist es eben nicht.“ 

Trotz Beatrice’ Worten machte Philip sich nichts vor; er wusste, dass sie enttäuscht war. Es entstand eine unangenehme Stille zwischen den beiden und schließlich gaben es beide auf so zu tun als ob und Philip brachte Beatrice nach Hause.  

Was hatte er da nur angerichtet! Als er Beatrice eingeladen hatte, war er felsenfest davon überzeugt gewesen, dass sich eine Beziehung entwickeln konnte, aber später hatte er erkannt, dass er sie zwar mochte, sich aber nie in sie verlieben konnte. In was für eine Situation hatte er sie da gebracht? Sie empfand offenbar mehr für ihn und würde weiter für ihn arbeiten. Wenn Hester doch nur….Aber sie hatte mehr als deutlich gemacht, dass sie nichts für ihn empfand. 

Über sich selbst und die Welt wütend fuhr Philip nach Hause zurück. Er schmiss seinen Mantel über den Sessel neben dem Schreibtisch und ging zur Kredenz um sich einen Whiskey einzuschenken. Mitten in der Bewegung stockte er. Was machte er hier überhaupt? Er hatte eine zweite Chance bekommen, Mary lebte, er konnte wieder laufen und hatte Kirsten davor bewahren können einen Mord zu begehen, wenn er auch nicht hatte verhindern können, dass Rachel Argyle starb. Und jetzt stand er hier und fluchte, weil nicht alles so lief, wie er es sich wünschte?

Als er damals in seinem Schlafzimmer aufgewacht war und festgestellt hatte, dass er seine Beine bewegen konnte, war er so glücklich und dankbar gewesen. Wie lange hatte diese Dankbarkeit gehalten?  Er würde nicht verhindern können, dass er sich immer wieder nach Hester sehnte, aber das durfte nicht sein ganzes Leben bestimmen. Matt hatte ihn gewarnt sich zu vergraben und doch war es das, was er größtenteils gemacht hatte. Er hatte sich in seine Arbeit gestürzt, die gut war, da gab es keinen Zweifel, aber er hatte das große Bild aus den Augen verloren. Philip atmete tief durch und stellte sein Glas weg. Das brauchte er heute Abend nicht mehr.  

~~~ 

Beatrice schossen die Tränen in die Augen, als sie die Haustür hinter sich geschlossen hatte. Was hatte sie da angerichtet! Sie war so fest davon überzeugt gewesen, dass sie für Philip eine gute Frau sein konnte, dass er sie lieben würde, wenn er nur die andere Frau vergäße und sie hatte ihn unglücklich gemacht. Was sollte sie tun? Wie sollte sie Philip unter die Augen treten und ihm sagen, dass sie seinen Brief an Hester Argyle zerrissen und ihren Telefonanruf unterschlagen hatte? Das konnte sie nicht; er würde jeglichen Respekt vor ihr verlieren und das mit Recht. Vielleicht war es ja auch nicht so schlimm; vielleicht wären die beiden doch nie ein Paar geworden. Der Anruf von Hester Argyle musste nicht gleich bedeuten, dass sie an ihm interessiert war. Sie hatte sich doch auch sonst nie gemeldet und Philip hatte in dem Brief etwas von Animositäten geschrieben. Beatrice wischte die Tränen weg, die immer wieder ihre Wangen hinunterliefen, aber es half nichts. Sie wusste, dass sie sich in die eigene Tasche log, und sie wusste auch, dass sie nicht die Kraft aufbringen würde Philip die Wahrheit zu sagen. Als sie am nächsten Morgen zur Arbeit ging, schien vordergründig alles in Ordnung; die Atmosphäre war etwas anders als sonst; es war nichts Greifbares, und niemand, der die beiden gesehen hätte, wäre auf den Gedanken gekommen, dass irgendetwas vorgefallen sein könnte. Vielleicht würde alles wieder wie vorher, dachte Beatrice.

Er war verändert, das war ihr sofort aufgefallen, sogar fröhlicher als sonst, und ging sogar noch mit ein paar Kollegen in einen Club, was sie in der ganzen Zeit, in der sie ihn kannte, noch nicht erlebt hatte.  Ihr gegenüber war er nett wie immer und nach einiger Zeit glaubte Philip fast, dass er sich Beatrice’ Gefühle nur eingebildet hatte. Wahrscheinlich sah sie in ihm doch nur jemanden, mit dem man sich gut verstehen konnte. Philip war erleichtert und bemerkte ihre Blicke, die auf ihm ruhten, nicht. Sie hätten ihm leicht verraten, wie sehr er sich täuschte.  

Philip vergaß Hester nicht, aber er würde sie wohl nie vergessen. Er wusste auch, dass er keine neue Beziehung anfangen würde, wenn es ihn nicht wirklich wie ein Blitz traf. Er hatte Mary geheiratet ohne sie wirklich so zu lieben, wie es sein sollte und er würde den gleichen Fehler nie wieder machen. Er war dankbar, dass er jetzt ohne Groll sein konnte. Hester empfand nichts für ihn, aber dafür konnte sie nichts, genauso wenig, wie er seinen Gefühlen bzw. Nicht-Gefühlen für Beatrice befehlen konnte. Sie hätte ihn anrufen und ihm sagen können, dass sie nicht kommen würde, aber vielleicht war sie enttäuscht gewesen, dass er sich nicht vorher gemeldet hatte. Es war geschehen und er konnte nichts ändern, aber er merkte, wie freudig er jetzt auf sein Leben schaute, wie er dankbar jeden neuen Tag erwarten konnte. Nur eins gab es, was ihn manchmal mit Sorge erfüllte. Waren die Studentinnen schon vorher von ihm angetan gewesen, so schien die neue Seite an ihm ihn noch unwiderstehlicher zu machen. Es war anstrengend, empfand Philip, sehr anstrengend, ein Schwarmobjekt zu sein.

 






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