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Er blinzelte und brauchte eine Weile, bis er sich zurechtfand. Sein Kopf war schwer wie Blei und alles tat weh. Seine letzte Erinnerung war, dass Jacko ihn in die Brust geschossen hatte, doch wie hatte Jacko aus dieser Entfernung verfehlen können? Er erinnerte sich an das Mündungsfeuer, an den stechenden Schmerz in seiner Brust …Doch was er jetzt fühlte, waren vor allen Dingen sein rechtes Bein…sein Bein? Es schmerzte!  Philip schluckte…seine Beine. Er bewegte seine Zehen….Tränen schossen ihm in die Augen und er versuchte nicht sie zu unterdrücken. Dann schlug er die Bettdecke zur Seite und setzte sich auf. Seine Beine, die zwei Jahre Fremdkörper gewesen waren, ließen sich bewegen und er setzte sie vorsichtig auf den Boden. Sein rechtes Bein war recht steif und tat wh, wenn er es belastete, aber wie unbedeutend war dies jetzt! Er würde wieder laufen können...

 „Philip, lebst du noch?“ dröhnte es da von draußen.

„Ja…ja, alles in Ordnung,“ erwiderte Philip mit heiserer Stimme. Erst jetzt sah er sich im Zimmer um und erstarrte. Er hatte vorher gar nicht auf seine Umgebung  geachtet. Dies war nicht das Schlafzimmer, das er kannte - keine glänzenden Mahagonimöbel, sondern altes Nussbaum, eine alte Kommode mit Schubladen und ein großer Schrank mit Intarsien. Am Kopfteil des Bettes lehnte ein Gehstock. Ein gewebter Teppich lag auf den Holzdielen, auf dem Nachttisch lag ein Stapel Bücher und an den Wänden hingen ein paar alte Fotos von seinen Eltern; das war alles. Keine aufwendigen Dekorationen, keine wertvollen Vorhangstoffe. Das Schlafzimmer hatte eine zweite Tür, die vermutlich in ein Badezimmer führte. Von draußen hörte er das Geklapper von Geschirr, Matt, der wohl in der Küche hantierte – oder vielleicht noch jemand anders? „Ich bin gleich da,“ rief Philip nach draußen, griff nach dem Gehstock und stand auf. Das Laufen war nicht flüssig, aber leichter, als er gedacht hatte. Die Tür an der gegenüberliegenden Wand führte, wie er vermutet hatte, in ein kleines Bad. Mit zitternden Händen knöpfte er seine Pyjamajacke auf und zog sie aus. Der Spiegel warf ihm sein Bild entgegen. Auf seiner Brust war eine noch nicht völlig verheilte Narbe zu sehen. Er würde sich kurz waschen und seine Zähne putzen und dann nach draußen zu Matt gehen. Vor allen Dingen musste er herausfinden, was passiert war. Zehn Minuten später verließ er sein Schlafzimmer und lief durch den kleinen, gemütlich wirkenden Flur den Geräuschen in der Küche entgegen. Ein alter Spiegel hing über einer Nussbaumkommode, ein kleiner Teppich bedeckte die Fliesen und an der Garderobe hingen mehrere Jacken, Männerjacken. Daneben standen mehrere Paar Schuhe.  ´

“Soweit, dass ich dir deinen Tee ans Bett bringe, sind wir nicht,“ .grinste Matt. „Wenn du das willst, sorgst du am besten dafür, dass wieder eine Frau ins Haus kommt.“ Philip grinste zurück, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte keine Ahnung, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte, nur schien offensichtlich, dass Mary nicht hier wohnte. Philip setzte sich und nahm sich Toast, Spiegelei und Marmite. Nein,  hier wohnte wohl definitiv auch keine andere Frau, erkannte er, als er sich unauffällig umschaute. Unwillkürlich griff er in die Tasche seines Morgenmantels und seine Finger umschlossen einen metallenen Gegenstand, den er hervorzog und auf den Tisch legte. Es war das Zigarettenetui, das Hester ihm geschenkt hatte, jedoch vollkommen verbogen.  

Matt schaute ihn an und sein Gesicht wurde weich. „Ich hätte mir denken können, dass du das immer mit dir herumträgst. Wenn du das nicht in deiner Brusttasche gehabt hättest und wenn Hester dich nicht gefunden hätte….Sag mal, ist dir nicht gut?“ fügte er mit einem Blick auf Philips blasses Gesicht hinzu. „Du hast wahrscheinlich Recht und ich vertrage wirklich nichts mehr,“ entgegnete Philip und war froh, als Matt fortfuhr. „Weißt du, sie hat dich ja ziemlich oft im Krankenhaus besucht, als du im Koma lagst und wenn du mir nicht früher selbst mal gesagt hättest, dass sie dich anscheinend nicht leiden kann, hätte ich glatt gedacht…Na, ist auch egal, jetzt ist sie sowieso auf der Uni. Und bei dir geht es auch bald wieder los. Sechs Monate Urlaub – so gut möchte ich’s auch mal haben.“ Er wurde ernst. „Philip, ich weiß, es hört sich an wie ein Scheißspruch, aber das mit deinem Knie….Du hättest genau wie Rachel Argyle enden können…“ 

„Ich weiß, Matt, und du kannst mir glauben, dass ich sehr dankbar bin,“ erwiderte Philip langsam. Er brauchte Zeit, das alles zu verarbeiten, aber da stand Matt auch schon auf. „Tut mir leid, aber ich muss weg. Tut mir leid, dass die zwei Tage schon wieder um sind. Vergrab dich hier nicht. Vielleicht bringen es deine Studenten fertig dich etwas aufzuheitern. Und, komm uns bald mal besuchen. Dein Patensohn hat ein Recht auf seine Geschenke.“ Philip begleitete Matt noch an die Tür und sah ihm nach, wie er abfuhr. Er war noch immer wie vom Donner gerührt. Verdammt, wie sollte er herausfinden, was passiert war ohne dass die Leute dachten, er sei nicht klar im Kopf? Langsam ging er in die Bibliothek und öffnete seinen Schreibtisch. Hier würde er anfangen. 

~~~ 

Erschrocken war Hester aus dem Krankenzimmer gestürzt und hatte eine Krankenschwester gerufen, als sie sah, wie sich Philips Hand leicht bewegte. Mary wurde benachrichtigt und schon kurze Zeit später war Philip wach. Was bist du nur für eine Heuchlerin, dachte Hester, als sie Mary mit Tränen in den Augen an Philips Bett sitzen sah. Vorhin konntest du nicht schnell genug aus dem Krankenhaus kommen. Jetzt küsste sie sogar Philips Hand. Philip erholte sich erstaunlich schnell, auch wenn der Arzt Recht hatte, sein Bein blieb steif. Nur einige Wochen später kehrten er und Mary nach Hause zurück.  Hester war nicht mehr in Philips Krankenzimmer zurückgekehrt und besuchte ihn auch später nicht zu Hause. Als sie Wochen später wegfuhr um ihr Studium zu beginnen, wusste sie, dass dies wohl für lange Zeit das letzte Mal war, dass sie hierher kam. Nachdem die Erbschaft verteilt war und alle Geschwister bis auf den noch immer flüchtigen Jacko ihre Anteile am Fonds erhalten hatten, war Mickey damit beschäftigt ein Geschäft aufzubauen, für das er Tina ebenfalls begeistern konnte. Hesters Beziehung zu Mary hatte sich nicht verbessert, im Gegenteil. Vielleicht war es besser so, dass sie für immer Abschied nahm. Die Ehe zwischen Mary und Philip war zwar schlecht, aber wollte sie die nächsten Jahre wie die vergangenen verbringen und sich nach einem Mann verzehren, den sie nie haben würde? Es war Zeit ein neues Leben zu beginnen. An der Universität würde sie neue Leute kennen lernen und vielleicht würde sie Philip vergessen. 

Der Schreibtisch hatte sich als wahre Fundgrube erwiesen, alte Zeitungen mit Berichten über die Schüsse auf ihn und den Mord an Rachel Agyle, Scheidungspapiere, Schreiben von Marys Rechtsanwalt, ein Kaufvertrag für dieses Haus, Schreiben der Universität Oxford… Mary hatte offensichtlich ein schlechtes Gewissen gehabt, weil ihr Bruder Jacko Philip angeschossen hatte. Obwohl Philip laut Ehevertrag nichts aus dem Treuhandfonds zustand, wenn er die Scheidung einreichte, hatte sie ihm 30.000 Pfd. überschrieben, von denen er sich dieses Haus gekauft hatte. Die Regale in der Bibliothek waren mit Lehrbüchern gefüllt und beim Durchblättern hatte er zu seiner Erleichterung festgestellt, dass er diesen Stoff beherrschte.

Philip fand Karten des Dekans der Universität und verschiedener Kollegen, die ihm gute Besserung wünschten und ein Wiedersehn im neuen Semester. Philip lächelte; Wie oft hatte Mary darüber geschimpft, aber diesmal war es von Vorteil, dass er alles andere als ordentlich war. So konnte er Stücke der vergangenen Monate wie ein Puzzle zusammensetzen. Was er jedoch nicht fand, war irgendetwas von dem Menschen, von dem er sich am meisten gewünscht hätte zu hören – nicht eine Zeile von Hester. Natürlich bewies das nicht, dass sie nie hier gewesen war, aber das würde er herausfinden.  

Ein Besuch bei Leo Argyle noch am gleichen Tag sagte ihm, was er wissen musste. Hester hatte ihm zwar das Leben gerettet und  ihn im Krankenhaus besucht, aber danach nie wieder. Ihre Blicke an dem Tag, als sie ihm das Zigarettenetui gegeben hatte – er hatte sich alles nur eingebildet. Es war reines Wunschdenken gewesen; sie empfand nichts für ihn. Vielleicht sollte er froh sein, das jetzt zu wissen, ehe er sich zum Narren gemacht hätte. Er saß zwar nicht im Rollstuhl, aber sein Bein war steif geblieben. Er war ein respektabler Professor mit mittlerem Einkommen und Hester eine reiche Erbin. Während er sein Glas in den Händen drehte und in die Flammen im Kamin starrte, fasste er einen Entschluss. Er würde das Bestmögliche aus seinem neuen Leben machen, auch ohne Hester. Er hatte eine zweite Chance bekommen und er würde sie nutzen. 

Wenige Wochen später kehrte er an die Universität zurück. Er war ein Mann, der gut erklären konnte und seine Studenten liebten ihn, liebten die Art, wie er den Stoff lebendig machte. Doch es waren vor allen Dingen die Studentinnen, die mehr als einen Blick auf den jungen Professor warfen. Natürlich hatten sie in der Zeitung gelesen, was geschehen war. War das nicht faszinierend und sah der Mann abgesehen von der Tatsache, dass er auf einen Stock angewiesen war, nicht phantastisch aus? Und jetzt, wo er geschieden war….Es hieß zwar, dass er die Scheidung eingereicht hatte, aber natürlich war klar, dass seine Frau an allem Schuld hatte. Sie war jetzt reich und hatte ihren Mann loswerden wollen. Philip schien von den romantischen Gefühlen seiner Studentinnen nichts zu merken. Er war freundlich zu allen, aber er zog niemanden vor. Vielleicht war es einfach noch zu früh nach der Scheidung; so ein wunderbarer Mann konnte doch nicht allein bleiben. 

~~~ 

„Das wäre dann das letzte für heute, Beatrice.“ Philip unterschrieb den Bericht an den Dekan und seufzte erleichtert. Dann reichte er seiner Sekretärin die Mappe und lächelte sie an. Sie konnte ja nichts dafür, dass er diesen Papierkram hasste und er konnte froh sein, dass er so eine gute Sekretärin hatte. Darüber hinaus war sie wirklich ein angenehmer Anblick, schlank, mittelgroß, blonde Haare in einem ebenmäßigen Gesicht, ein bisschen wie Mary – autsch, das hätte er besser nicht denken sollen, das hatte sie nicht verdient. Philip räusperte sich und schüttelte seinen Kopf „Ich wüste gar nicht, was ich ohne Sie täte. Ich weiß, ich bin hoffnungslos, was Organisation betrifft.“ 

Beatrice lächelte ihn an. „Dafür haben sie ja mich, Professor Durrant. Soll ich Ihnen noch einen Tee machen, bevor ich gehe?“ 

„Das wäre nett, Beatrice,“ erwiderte Philip und wandte sich dann wieder seinen Büchern zu. Inzwischen erledigte er einen Großteil seiner Vorbereitungen hier an der Universität statt zu Hause. Der Vorteil war auch, dass er trinkbaren Tee bekam und Beatrice ihn mit Sandwiches und Kuchen versorgte. Warum sie wohl noch nicht verheiratet war? Sie trug keinen Ring und hatte auch nie etwas gegen Überstunden einzuwenden, also gab es wohl keinen Mann in ihrem Leben. Beatrice Stylptich schloss leise die Tür hinter sich. Sie hatte Philip noch eine Kanne Tee und zwei Sandwiches hingestellt und machte sich jetzt auf den Weg nach Hause. Als sie damals diesem jungen Professor zugeteilt worden war, hatte sie ihr Glück kaum fassen können. Der Mann war zu gut um wahr zu sein. Er schien keine Launen zu haben, auch wenn er manchmal etwas traurig wirkte, er war freundlich, nicht überheblich und schien etwas von seiner Arbeit zu verstehen. Sie hatte gesehen, dass sie ihm gefiel; Männer waren in dieser Beziehung wie ein offenes Buch. Aber leider war er zu zurückhaltend. So sehr sie das einerseits schätzte…. Beatrice seufzte. Vielleicht war er nur etwas scheu nach seiner Scheidung; wie dumm konnte seine Frau gewesen sein, so einen Mann laufen zu lassen. Mit etwas Geduld…

 Er bemerkte zum Glück nicht, wie oft sie ihn betrachtete, seine dunklen Haare und schlanken Finger. Wenn er ihr diktierte, musste sie immer die Anwandlung unterdrücken einfach nur seiner Stimme zuzuhören. Er war doch noch jung und sie war fast jeden Tag um ihn. Er würde merken, dass sie die Richtige für ihn war. 

~~ 

Unschlüssig drehte Philip seinen Fullfederhalter in der Hand. Er hatte Hester vergessen wollen, aber seine Gefühle spielten offensichtlich nicht mit. Vielleicht sollte er ihr schreiben, vielleicht wartete sie auf seinen Brief… Er konnte ja ganz unverfänglich einen Dankesbrief schreiben und sie zum Essen einladen, nicht bei sich zu Hause, sondern anderswo. Vielleicht….Sei nicht so ein Feigling, Philip. Hesters Gesicht tauchte vor ihm auf und er holte einen Bogen Schreibpapier aus seinem Schreibtisch. Einige Stunden und viele zerknüllte Briefbogen später rief Philip seine Sekretärin herein. „Beatrice, würden Sie das noch für mich zur Post bringen?“  






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