Ein Glücksgefühl durchströmte Hester, als sie den Brief zum dritten Mal las. Sie war akzeptiert worden und würde zum nächsten Semester ihr Studium aufnehmen. Morgen würde sie den Brief Mutter zeigen und obwohl sie bereits wusste, dass dann eine ziemliche Diskussion auf sie zukam, tat dies ihrer Laune keinen Abbruch. Es war Zeit, dass sie sich löste und vielleicht war das morgige Gespräch der erste Test für sie. Mutter würde gut gelaunt wiederkommen, denn sie war mit Mary bei der Schneiderin – wenigstens eine Tochter, die sich so entwickelt hatte, wie sich Rachel Argyle dies vorgestellt hatte. Hester hatte Marys Gespräch mit Mutter teilweise mit angehört. Die Ehe zwischen Philip und ihr schien immer schlechter zu werden. Philip – sie hatte ihn seit einer Woche nicht gesehen. Er hatte genau gesehen, was mit ihr los war; sie hatte gemerkt, wie überrascht, fast verwirrt er war. Er hatte auch nicht abgestoßen gewirkt, sondern fast….Aber das war vielleicht Wunschdenken….
Trotzdem sollte sie Philip eigentlich danken. Er war der einzige, mit dem sie ihre Freude teilen konnte. Keiner aus der Familie würde verstehen, was die Zusage für sie bedeutete. Sie würde zu ihm fahren, nicht lange, und es würde sowieso das letzte Mal für lange Zeit sein, dass Sie ihn sah…Hester, warum lügst du dich selbst an? Du willst dich nicht nur bedanken; du hegst die unverschämte Hoffnung, dass er deine Gefühle vielleicht doch irgendwie erwidert.
Eine Stunde später lenkte sie ihr Auto die kleine Straße hinauf, die zu Philips Haus führte. Es lag recht einsam, aber der Blick entschädigte für vieles. Mittlerweile kamen Hester Zweifel, ob ihre Entscheidung richtig war, aber sie war jetzt fast da und würde ihren Besuch wirklich ganz kurz halten, zumal es schon anfing dunkel zu werden. Philip schien Besuch gehabt zu haben, denn auf der Straße kam ihr ein Wagen entgegen. Von unten hatte sie bereits gesehen, dass in der Bibliothek Licht brannte. Er würde wieder arbeiten; Mary hatte sich oft genug darüber beschwert. Hester stellte ihren Wagen ab und klingelte. Jetzt sollte eigentlich das Licht im Treppenhaus angehen, aber….nichts. Hester klingelt nochmals, doch Philip öffnete nicht. Die Bibliothek hatte eine Tür zum Garten; sie würde einfach hinten ums Haus gehen.Durch die Scheiben schaute Hester in die erleuchtete Bibliothek und erstarrte: Auf dem Boden neben dem Schreibtisch lag die regungslose Gestalt von Philip. Hesters Herz schlug bis zum Hals…Das Auto vorhin und Philip, ob er überhaupt noch….Sie wagte nicht weiterzudenken. Neben der Terrassentür stand ein Blumentopf auf dem Boden, den Hester ergriff und mit voller Wucht gegen das Glas schmiss, das in tausend Scherben zersplitterte. Hester schnitt sich die Hand, als sie nach innen griff und die Tür entriegelte, aber in diesem Augenblick spürte sie nichts. Sie sah nur Philip, der regungslos auf dem Boden lag. Seine Brust und sein rechtes Bein waren dunkel von Blut. Hester kniete nieder und nahm Philips Hand…Sie war warm und…da, ganz schwach, war ein Puls zu fühlen – er lebte noch. Furcht krampfte ihr Herz zusammen; ja, er lebte, aber wie lange noch?
Hester sprang auf und stürzte zum Telefon. „Einen Krankenwagen, bitte schicken sie schnell einen Krankenwagen zu Philip Durrant in die Leicester Road 36. Er ist angeschossen worden; er lebt noch, aber…bitte beeilen Sie sich!“ Hester beantwortete noch ein paar Fragen und legte dann auf. Sie musste versuchen die Blutung zu stillen. Im Krieg war sie, wie so viele andere junge Frauen auch, Krankenschwester gewesen. Sie knöpfte Philips Strickjacke auf und dann sah sie, warum er noch lebte. In der Brusttasche seines Hemdes steckte das Zigarettenetui, das sie ihm geschenkt hatte; es hatte die Kugel etwas abgelenkt, die unterhalb des Schlüsselbeins in der Nähe seiner Lunge eingedrungen war. Dies war zwar keine tödliche Wunde, aber diese und die Wunden am Bein - Philip würde verbluten, wenn nicht bald Hilfe kam. Hester war immer eine Träumerin gewesen und im Nachhinein wusste sie nicht, woher sie die Kraft genommen hatte so schnell zu handeln. Aus dem Schlafzimmer holte sie ein weißes Leinentuch, das sie in Streifen riss. Auf dem Schreibtisch lag ein Brieföffner, mit dem sie sein Hosenbein aufschlitzte.
Merkwürdigerweise war ein Tuch um seinen Oberschenkel gebunden, als ob er versucht hätte die Wunde abzubinden. Hester erbleichte, als sie Philips Knie sah. Sie hatte genügend Verwundete gesehen um zu wissen, dass Philips Bein, wenn er überlebte, wohl steif bleiben würde. Wo blieb der Arzt? Hester hatte Philip so weit wie möglich verbunden, aber wieso war er so lange bewusstlos? Zwei der Kugeln steckten im Bein und eine unterhalb der Schulter. War es Schock? Sie kniete neben ihm auf dem Fußboden und hielt seine Hand. „Du darfst nicht sterben, Philip,“ flüsterte sie. „Du darfst nicht sterben.“ Tränen liefen ihre Wangen hinunter. Plötzlich sah sie, wie Philips Lider leicht flatterten und seine Augen sich kurz öffneten und sie ansahen. Er stöhnte leise, dann schlossen sich seine Augen wieder. Hester stockte der Atem. War Philip….? Ihre Hand fuhr unwillkürlich zum Mund, als sie versuchte ein Schluchzen zu unterdrücken, doch dann fühlte sie erneut seinen Puls. Er lebte - noch. Hester streichelte Philips Hand und sprach mit ihm, flehte ihn an nicht aufzugeben. Wahrscheinlich hörte er es überhaupt nicht. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, näherten sich Wagengeräusche. Endlich!
„Sie haben gute Arbeit geleistet, Mrs Durrant,“ meinte der Arzt anerkennend, während Philip abtransportiert wurde. „Wenn er überlebt, hat er es Ihnen zu verdanken.“ Sein Gesicht war ernst. „Ich weiß nicht, warum er immer noch bewusstlos ist.“ Hester blinzelte durch ihre Tränen hindurch. „Ich… ich bin nicht Mrs. Durrant; ich bin seine Schwägerin. Meine Schwester ist mit meiner Mutter…Vielleicht sind sie schon wieder aus der Stadt zurück… Wir müssen sie benachrichtigen.“
Der Arzt überlegte und nickte dann sinnend. „Fahren Sie mit ins Krankenhaus, dann ist wenigstens ein Verwandter da, falls….Nun ja, er hat viel Blut verloren.“ Als er sah, dass Hester kreidebleich wurde, fügte er hinzu. „Verlieren Sie nicht den Mut, Kindchen. Vom Krankenhaus aus werden wir Ihre Schwester anrufen.“
Hester fuhr hinter dem Krankenwagen her, nachdem sie den Polizisten ihre Personalien gegeben hatte. Wenn der Tatort untersucht war, würde einer der Beamten ins Krankenhaus kommen, wo Hester ihre Aussage machen konnte.
Es war fast zwei Stunden später, als Mary und ihre Eltern im Krankenhaus eintrafen. Philip war immer noch bewusstlos und Mary brach weinend neben seinem Bett zusammen. Während Rachel Argyle ihre Tochter in den Arm nahm und zu trösten versuchte, ging Hester leise aus dem Zimmer. Sie konnte nicht mehr hier bleiben, sonst würde sie sich verraten.
Philip würde leben; das war kurze Zeit später klar, auch wenn er merkwürdigerweise immer noch nicht erwacht war. Der Blutverlust war nicht so groß gewesen wie ursprünglich gedacht. Wie solche Dinge die Familie zusammenschweißen, dachte Hester, als sogar Jacko sich nach Philips Befinden erkundigte. Er hatte nie näheren Kontakt zu seinem Schwager gehabt, aber er war offensichtlich genauso erschrocken gewesen, als sie ihm erzählt hatte, was passiert war, denn er war kreidebleich geworden.
„Ich danke dir, Jacko,“ sagte sie. „Der Arzt sagte, es besteht keine Lebensgefahr mehr, sondern es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er zu sich kommt.“
Zwei Tage später jedoch geschah etwas, was die Welt der Argyles für immer veränderte. Jacko brach nachts in sein Elternhaus ein und öffnete den Tresor. Rachel Argyle hatte schon immer einen leichten Schlaf gehabt; sie überraschte ihn. Sie hatte schon lange gewusst, dass Jacko nur auf ihr Geld spekulierte, aber damit hat sie nicht gerechnet, damit hatte keiner gerechnet… Ihre Augen weiteten sich vor Schreck, als er den Schürhaken ergriff und sie konnte nur noch einen erstickten Schrei ausstoßen, bevor das Eisen ihre Schädeldecke zertrümmerte. Dieser Laut, der die nächtliche Stille durchbrach, reichte, um Leo und Micky zu wecken, doch sie kamen zu spät. Sie sahen Jacko mit dem Geld flüchten, aber sie konnten nichts mehr tun. Rachel Argyle war tot.Jetzt erschien auch der Überfall auf Philip in einem anderen Licht, doch derjenige, der vielleicht hätte erzählen können, was passiert war, war dazu nicht in der Lage, auch zwei Wochen nach den Schüssen nicht. Es gab keinen Grund dafür. Die Wunde in seiner Brust war zwar schwer gewesen und hatte seine Lunge gestreift, auch hatte er viel Blut verloren, aber die Ärzte hatten keinerlei Erklärung, warum er immer noch im Koma lag.
Der Tod ihrer Mutter hatte Mary vollends aus der Bahn geworfen. Mary hatte sie nicht richtig geliebt, das hatte keines der Kinder, aber sie war ein stabiler Faktor in ihrem Leben gewesen und Mary wusste, dass ihre Adoptivmutter sehr zufrieden mit ihr war: sie war ein Spiegelbild dessen geworden, was Rachel gewünscht hatte. Während der Beerdigung war Mary wie betäubt gewesen, doch während die übrige Familie all die unvermeidlichen Dinge erledigte, die nach einem Todesfall folgten, musste Mary an das Bett ihres Mannes zurückkehren. Sie hasste jede Sekunde. Mutter hat recht gehabt, ging es Mary durch den Kopf, während sie auf ihren Mann blickte. Ich hätte ihn nie heiraten sollen. Sie schaute ihn an wie einen Fremden und war froh, dass Hester auch ab und zu kam. Sie ertrug es kaum allein im Krankenzimmer und schauderte beim Anblick von Philip, der reglos dalag.
Mit Tränen in den Augen wandte sie sich an ihre Schwester. „Ach Hester, womit habe ich das nur verdient? Ich weiß nicht, wie ich es ertragen soll und selbst, wenn er wieder aufwacht, weißt du, dass der Arzt gesagt hat, dass sein Bein steif bleiben wird? Es war schon schlimm genug für mich, dass er diesen langweiligen Beruf ausgesucht hat, aber wenn ich daran denke, dass ich an einen Krüppel …“ Mary verstummte, als sie Hesters Blick sah.
„Du kannst es nicht ertragen; es ist schlimm für dich? Hast du schon einmal einen Augenblick daran gedacht, wie es für deinen Mann ist, der deine ganze Unterstützung bräuchte?“
„Du brauchst gar nicht so heilig zu tun,“ schnappte Mary. „Nach mir fragt ja keiner.“ Sie griff sich an die Schläfe. “Ich habe Kopfweh und gehe jetzt nach Hause. Ob ich hier bin oder nicht, spielt sowieso keine Rolle. Morgen komme ich wieder.“ Abrupt drehte sie sich um und verließ den Raum.
Noch nicht einmal nach Philip hatte sie sich umgeschaut, geschweige denn sich verabschiedet. Natürlich konnte er sie nicht hören, aber konnte Mary wirklich nur an sich denken in diesem Moment? Egal ob er es hören konnte oder nicht, wenn sie ihn wirklich liebte… Hester blieb allein im Krankenzimmer zurück. Das Ticken der Wanduhr war der einzige Laut, der zu vernehmen war. Zwei Wochen waren es jetzt seit diesem verhängnisvollen Abend. Die Wunde in Philips Brust verheilte gut, wie der Arzt versichert hatte und es gab keinen Grund, warum er nicht zu sich kommen sollte. Bekam er irgendetwas von dem mit, was rings um ihn vorging? Und wenn ja, wäre das nicht das Schlimmste, was man sich vorstellen könnte?
Hester zog den Stuhl näher zum Bett und setzte sich. Sie wusste selbst nicht warum aber auf dem Weg zum Krankenhaus war sie an einer kleinen Antiquariats-Buchhandlung vorbeigekommen, die sie irgendwie magisch angezogen hatte. Ihre Wahl war auf einen kleinen Band mit Gedichten gefallen, viele davon von Shakespeare. Jetzt holte sie das Büchlein aus ihrer Handtasche; vielleicht sollte sie ihm einfach etwas vorlesen. Willkürlich schlug sie das Buch auf und fing an zu lesen. Nicht mit den Augen lieb ich dich.Die sehn genau, dass du voll Fehler bist;Es ist mein Herz, das liebt, was sie verschmähn.Und dir, trotz Augenschein, verfallen ist.Mein Ohr entzückt nicht deine Stimme, nein.Nicht geil Betasten will mein Tastsinn sein, noch wolln Geruch, Geschmack gebeten sein…. Hester stockte und hätte fast laut losgelacht. Shakespeare – sie liebte Shakespeare, aber hätte sie irgendein Gedicht wählen können, das weniger gepasst hätte? Sie liebte ihn mit ihren Augen und seine Stimme…..Es war kaum zu glauben, was seine Stimme immer bei ihr ausgelöst hatte. Sie fühlte all die feinen Härchen auf ihrem Arm, wenn er etwas sagte, dieser tiefe ausdrucksvolle Bariton, der sie in den Bann zog. Und selbst jetzt, wo er blass und reglos unter den Laken lag, verspürte sie den Wunsch ihn zu berühren. „Ich liebe dich, Philip. Alles in mir wird lebendig, wenn ich dich sehe…Und ich bin dir verfallen, ich will tasten, ich will schmecken, ich will alles…,.“ sagte sie leise. Da sah sie, wie sich seine Hand leicht bewegte.
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„Wie lange willst du denn noch schlafen?“ Matts Stimme und ein lautes Pochen rissen Philip aus seinem Schlaf. „Ich habe Tee gemacht, und den kann man tatsächlich trinken.“ Langsam öffnete er die Augen.