Vor einer halben Stunde war Mary mit Mutter zur Schneiderin in die Stadt gefahren und dies war wahrscheinlich die letzte Gelegenheit mit ihm zu reden. Philip merkte nicht einmal, wie Hester in die Bibliothek kam, so vertieft war er in seine Bücher. So war ihm auch nicht bewusst, wie sie ihn betrachtete, seine eleganten Hände, die einen Füllfederhalter hielten, die Art, wie er geistesabwesend eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich. Jetzt runzelte er die Stirn. Wie konnte jemand nur so gut aussehen, wenn er die Stirn runzelte? Was Hester recht bald bemerkt hatte war, dass Philip anscheinend noch nicht einmal wusste, wie gut er aussah. ‚Er sieht viel zu gut aus für einen langweiligen Professor,’ hatte Mary einmal gesagt. Wie oberflächlich ihre Schwester doch war. Wie sollte ein Professor aussehen, Bart und Brille? - Hester, wie lange willst du noch da stehen und ihn anstarren? Sie räusperte sich.
„Hallo Philip…..Philip?,“ wiederholte Hester und hätte sich innerlich ohrfeigen können. Wieso verlor sie jegliche Fähigkeit sich auszudrücken, wenn sie Philip begegnete? Sie biss sich verlegen auf die Lippen. „Ich möchte dich etwas fragen und…möchte, dass du mir eine ehrliche Antwort gibst.
Philip legte seinen Füllfederhalter zur Seite und schaute Hester etwas verwirrt an. Wie lange stand sie schon dort und warum war sie überhaupt gekommen? Sonst schien sie seine Gegenwart eher zu meiden. „Natürlich, Hester, setz dich.“
Hester setzte sich und schlug nervös die Beine übereinander. ‚Eine Dame schlägt die Beine nicht übereinander!’ Dieser Spruch ihrer Mutter fiel ihr gerade jetzt im unpassendsten Moment ein und machte sie noch nervöser.
Philip schaute sie erwartungsvoll an. „Womit kann ich dir helfen?“ fragte er etwas förmlich.
„Du,….du wirst dich wundern, dass ich mich ausgerechnet an dich wende. Wir waren uns nie besonders…nahe. Aber du bist vielleicht objektiv. Ich möchte Geschichte studieren und ich weiß jetzt schon, was Mutter sagen wird, wenn ich…“ Dann überstürzten sich ihre Worte fast und Philip hörte so etwas wie Verzweiflung heraus. „Ich hasse dieses müßige, selbstzufriedene Leben, bei dem sich nie etwas ändert, bei dem ich nur auf den Prinzen warten soll, der nie kommen wird.“ Sie biss sich auf die Lippen. Das war es nicht, was sie hatte sagen wollen. Sie wollte ihn um Unterstützung bitten und ihm zeigen, dass sie es ernst meinte, dass sie keinen neuen Zeitvertreib, sondern etwas Sinnvolles suchte, was ihr Freude machte. „Ich glaube, es war doch keine so gute Idee,“ sagte sie verlegen und machte Anstalten aufzustehn.
„Bleib, Hester, ich helfe dir gerne, wenn ich kann,“ sagte Philip. „…aber du hast Recht, ich hätte gedacht, ich sei der Letzte, an den du dich wenden würdest. Du hast nie einen Hehl daraus gemacht, dass du mich nicht magst.“
„Das ist es nicht, Philip, wirklich nicht. Ich …mag dich…Du wirst mir also helfen?“ Oh Hester, du klingst wie ein eifriges Schulmädchen und nicht wie eine Frau, die auf die Universität möchte. „Mein Interesse an Geschichte besteht nicht erst seit gestern. Es war eigentlich das einzige Fach, das mir wirklich Freude gemacht hat. Du lehrst selbst; traust du mir zu Geschichte zu studieren und wenn ja, welche Universität würdest du mir empfehlen? Vater freut sich zwar, wenn ich ihm beim Katalogisieren helfe, aber in seinen Augen ist eine Frau, die studiert …Na ja, du kennst ihn…“ Hester verstummte; es war alles gesagt. Hester hatte sich kaum getraut Philip überhaupt anzublicken. Was, wenn er merkte, dass sie ihn nicht nur mochte? Bisher hatte sie jeden Kontakt vermieden, soweit es möglich war und sich damit auf der sicheren Seite gewähnt. Philip betrachtete sie überrascht und lächelte dann. Trotz ihrer Unsicherheit, die er nicht verstand und die er noch nie an ihr beobachtet hatte, hatte sie etwas Frisches, etwas Lebendiges und das allein wäre schon genug gewesen sie zu unterstützen. Er wusste, sie würde sich mit Begeisterung in etwas stürzen, was ihr wirklich gefiele. Ja, er würde ihr helfen.
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Die großen Koffer waren bereits im Wagen verstaut und Mary packte ihren Schmuck vorsichtig in ihre Schatulle, als ihre Mutter hereinkam und die Schlafzimmertür hinter sich schloss. „Philip ist unten in der Bibliothek und packt noch etwas zusammen….Ich wollte dir nochmals sagen, dass ich dich unterstütze, wenn du dich doch zur Scheidung entschließen solltest. Philip ist einfach nicht der richtige Mann für dich und noch bist du jung genug...“
Mary stand auf und umarmte ihre Mutter. „Danke Mama. Du hast wahrscheinlich Recht, ich hätte ihn nicht heiraten sollen. Er ist so anders als früher. Ich verstehe es einfach nicht…Aber ich will es versuchen. Er muss einfach einlenken. So wichtig sind diese alten Sprachen doch nicht, auch wenn es Oxford ist.“
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Die Tür zur Bibliothek stand halb offen und Hester sah Philip am Schreibtisch stehen. Dies war die letzte Gelegenheit ihn allein zu sprechen. „Hallo, Philip!“ Wie üblich verließ sie ihr gesamter Witz, wenn sie ihm gegenüberstand. „Ich habe den Brief gestern abgeschickt und ich möchte dir Danke sagen.“ Sie streckte ihm ein kleines Päckchen hin, das er nach kurzem Zögern ergriff. „Willst du es nicht auspacken?“ Ihr Ton zeigt ihm wie wichtig es ihr war; er entfernte das zarte Seidenpapier und schaute auf ein goldenes Zigarettenetui mit seinem Monogramm. Darauf lag eine kleine weiße Karte mit dem Wort Danke, sonst nichts. „Ich habe das Etui gleich gestern besorgt und gewartet, bis sie deine Initialen eingraviert hatten.“ Philip starrte auf das Etui und dann auf Hesters Gesicht. In diesem Augenblick begriff er, dass keine Rede davon sein konnte, dass Hester ihn nicht mochte. All die Ablehnung, die sie ihm gezeigt hatte, hatte einen völlig anderen Grund. Für einen kurzen Augenblick zeigten ihre Augen die ganze Sehnsucht, die sie empfand. Philip griff nach ihrer Hand. „Hester, ich….“
Ihr Gesichtsausdruck wurde fast panisch und sie zuckte zurück. „Ich muss gehen, Philip. Leb wohl.“ Philip starrte ihr nach, als sie fluchtartig das Zimmer verließ. Als er Marys Stimme in der Halle hörte, steckte er das Zigarettenetui langsam in seine Tasche. Hester, sie hatte sehr wohl Gefühle für ihn, aber sie war gegangen…Leb wohl…
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Philip musste es Mary zugute halten, dass sie es wirklich versuchte, aber wahrscheinlich war die Ehe nicht mehr zu retten. In Gedanken war er oft bei Hester, auch wenn er sich oft genug sagte, dass es unfair gegenüber Mary sei und Hester zwar ihre Gefühle verraten, ihm aber dennoch zu verstehen gegeben hatte, dass sie ihn nicht wieder sehen wollte.
Nur eine Woche nach ihrer Heimkehr saß Philip abends in seinem Arbeitszimmer; Mary war übers Wochenende zu ihrer Mutter gefahren und er hatte einen Entschluss gefasst. Er würde mit ihr sprechen; er würde die Scheidung einreichen. Es war, als ob ihm ein Stein vom Herzen gefallen wäre. Er stand auf und ging zur Kredenz, wo er sich ein Glas Whiskey einschenkte. Und nach der Scheidung würde er….
„Ein Penny für deine Gedanken, Philip“ sagte da eine Stimme hinter ihm und als er herumfuhr, blickte er das lächelnde Gesicht von Jacko und in die Mündung einer Pistole.
„Bevor du mir die übliche Frage stellst, wie ich hier hereingekommen bin, lass dir gesagt sein, dass Schlösser für mich nie ein Problem waren. Was ich jedoch nicht gedacht hätte war, dass du für mich zum Problem werden könntest. Ich weiß auch nicht, was du bezweckst. Vielleicht bist du doch mehr am Vermögen der Alten interessiert als du zugibst….Erst die Begegnung mit dir vor der Tür, dann die Bemerkung zu Kirsten – Ich glaube nicht an Zufälle.“
Philip machte Anstalten aufzustehn, aber mit einer kurzen Bewegung bedeutete ihm Jacko, dass er dies besser ließe. „Ich weiß, dass Mary übers Wochenende weg ist; ich habe also Zeit mir deine Erklärungen anzuhören. Nun? Philip schluckte. Was sollte er sagen? Dass er durch eine Zeitreise alles schon wusste? Sehr glaubwürdig! „Tztz, du glaubst, du kommst mit Schweigen weiter? Du weißt, dass du diesen Raum nicht lebend verlassen wirst, aber du hast selbst in der Hand, wie du stirbst, mit einer einfachen Kugel oder….etwas schmerzhafter. Glaub mir, mir fallen da schon noch ein paar Sachen ein.“
Schweißperlen hatten sich auf Philips Stirn gebildet. Er wusste, dass dies keine leere Drohung war; er würde hier und heute sterben. Er hatte diese Zeitreise für eine zweite Chance gehalten und hatte versucht die Vergangenheit zu verändern und jetzt… Er starrte vor sich hin. Als Philip damals klar geworden war, dass er nie wieder würde laufen können, hatte er sich oft gewünscht, er hätte seinem Leben rechtzeitig ein Ende machen können, hätte eine Pistole zur Hand gehabt. Mary hatte dies irgendwie geahnt und dafür gesorgt, dass seine Pistole verschwand und er nie allein war. Später, nach ihrem Tod, hatte er wieder daran gedacht, aber irgendwie war es nie dazu gekommen. War doch noch etwas Lebenswille in ihm gewesen? Jetzt sah es fast so aus, als bekäme er seinen damaligen Wunsch erfüllt. Er finge leise an zu lachen.
„Was soll das?“ zischte Jacko. „Du machst einen Fehler, wenn du meinst mich nicht ernst nehmen zu müssen.“ Seine Augen hatten sich zu Schlitzen verengt und er starrte Philip hasserfüllt an.
Philip blinzelte, als Jackos Stimme zu ihm durchdrang..„Ich nehme dich ernst. Ich fragte mich nur grade, ob es so etwas wie Schicksal gibt, das vorherbestimmt ist und dem man nicht entrinnen kann.“
„Du kannst dir dein philosophisches Gequatsche sparen. Ich weiß, dass du immer auf mich herabgeguckt hast…Der Professor an der Universität von Oxford….Das wird dir jetzt nicht helfen. Also heraus mit der Sprache! Wie ich schon sagte, ich glaube nicht an Zufälle. Was weißt du und wer weiß noch davon? – Nimm deine Hände hoch, steh auf und komm langsam herüber,“ fügte er hinzu, als Philip nicht reagierte. „Stop! Stehenbleiben!“ sagte Jacko, als Philip noch drei Schritte von ihm entfernt war. "Jetzt werden wir gleich sehen, ob du immer noch so tapfer bist, wenn du siehst, wie ernst ich es meine. Du warst doch Pilot, bist aber nie verwundet worden, oder? Weißt du, was Schmerzen sind, Philip?“ Er lächelte, während die Mündung der Pistole sich langsam nach unten bewegte und auf Philips Bein zielte. „Du brauchst dir keinerlei Illusionen machen, Philip. In Kriminalromanen versucht der Bösewicht immer etwas Dummes und der Held kann ihn dann überwältigen. Aber wir befinden uns in der Realität. Also, los, das ist deine letzte Chance auf eine saubere Kugel.“
Philip schluckte. „Ich ahnte, dass du Geld brauchen würdest. Wir haben den gleichen Buchmacher.“ Jacko lachte glucksend. „Sieh da, sieh da, der seriöse Herr Professor, auch nicht besser als unsereiner. Ich hatte also doch Recht, du bist auch hinter dem Geld der Alten her.“ Er überlegte und nach einer Pause fragte er, „Und wie heißt mein Buchmacher?“
Philip wusste, dass er verloren hatte. Es war ein verzweifelter Versuch gewesen eine plausible Erklärung zu liefern und Jacko hatte ihn durchschaut. „Du meinst, du kannst mich auf den Arm nehmen - der dumme Jacko, der das Spiel nicht durchschaut?" Jackos Gesicht verzerrte sich und dann drückte er ab.
Ein fürchterlicher Schmerz durchzuckte Philip und er schrie auf, als die Kugel seinen Oberschenkel traf. Stöhnend fiel er zu Boden; ein dunkler Blutfleck breitete sich auf seiner Hose aus und er presste seine Hand darauf.
„Kein Grund, so zu schreien, Philip,“ sagte Jacko höhnisch lächelnd. „Ich kann gut schießen, weißt du? Das ist nur eine Fleischwunde.“ Er griff eine Decke, die auf einem Tischchen lag und warf sie Philip zu. „Wir wollen doch nicht, dass du vorzeitig abkratzt. Hier, binde die Wunde ab.“ Mit zitternden Händen nahm Philip das Stück Stoff und band es um sein Bein. „Nächste Chance, Philip. Wer weiß noch davon?“ Er hob die Pistole.
„Niemand, niemand weiß davon,“ stöhnte Philip. „Ich weiß, dass du immer in Geldnot bist und mir war klar, warum du kamst. Das mit deiner Frau war Zufall; ich habe gehört, …aaah….wie sie sich im Kino mit einer Kollegin…. „Das könnte wahr sein; sie war schon immer etwas redselig.“
Jacko lächelt unangenehm. „Aber du wirst verstehen, dass ich sichergehen will.“ Sein Finger krümmte sich und er drückte erneut ab. Philip schrie gellend, als der Schuss seine Kniescheibe zerschmetterte. „Nun, Philip? Du siehst, dass du es dir sparen kannst irgendwelche Spielchen zu treiben. Ich wiederhole, wer weiß davon?"
„Niemand,“ keuchte Philip. Der Schmerz breitete sich in seinem ganzen Körper aus und er konnte nicht mehr klar denken. „Guter Junge,“ sagte Jacko. „Ich glaube, du sagst die Wahrheit und ich habe noch andere Dinge zu tun. Es wird Zeit, dass wir die Sache beenden.“ Wie durch einen Schleier sah Philip auf Jackos höhnisches Gesicht. Er sah das Mündungsfeuer, fühlte einen stechenden Schmerz in der Brust und dann nichts mehr.
Jacko sah auf die regungslose, verrenkte Gestalt am Boden und die Stelle auf Philips Brust, wo das Blut den Pullover dunkel färbte. Dann schaute er sich im Zimmer um; er hatte genug Erfahrung es wie einen Einbruch aussehen zu lassen. Nur wenige Minuten später verließ er das Haus.