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Palmströms Uhr, ein Gedicht über die Zeit….Es bestätigte eigentlich nur, was Philip längst akzeptiert hatte, dass er in die Vergangenheit gereist war und sich Dinge verändert hatten.. etwas, was er bis vor ein paar Tagen ins Reich er Phantasie verwiesen hätte. Dennoch war einiges in sich nicht schlüssig: Er hatte nicht ‚herzlich gebeten’ und es waren auch mehr als nur ein oder zwei Stunden gewesen, aber vielleicht war dies auch anders gemeint. Dann lächelte er, er glaubte an Zeireisen und erwartete Logik…. Philip spürte eine Lebendigkeit in sich, die er seit seinen Tagen als Pilot nicht mehr gefühlt hatte. Wenn er Dinge ändern konnte, dann konnte er vielleicht auch die Ansteckung mit Polio vermeiden, dann würde er vielleicht wieder laufen können…. Aber dann wurde ihm ernüchtert klar, dass er keinen Einfluss darauf hatte, wohin in die Vergangenheit er reiste. Ein Menschheitstraum, genau zu wissen, was passieren würde… Was hätte ich getan, wenn… Philip wusste jetzt, dass dies einem Albtraum glich. Etwas zu wissen und es nicht verhindern zu können, es niemandem sagen zu können, das war schlimmer als Nichtwissen. Wodurch wurden diese Reisen ausgelöst und wodurch die Rückkehr? Teilweise durch die Berührung des Buches, aber wieso war er beim Lesen der Tageszeitung wieder zurückgekehrt?  

Die Klingel unterbrach seine Gedanken. Er legte den Band weg und rollte zur Eingangstür, die er, noch ganz in Gedanken, einfach aufmachte ohne zu fragen, wer da sei. „Philip!“ ein hoch gewachsener Mann mit einem schelmischen Lächeln schaute ihn an: Matt! - Er hatte sich kaum verändert. Seine blonden Haare widerstanden wie schon früher jedem Versuch sie mit einer Bürste in eine bestimmte Richtung zu zwingen und sein Versuch sich einen Bart wachsen zu lassen, war anscheinend erfolglos geblieben, ein Dreitagebart, für den er vermutlich zwei Wochen gebraucht hatte. „Philip!“ wiederholte Matt. „Ich musste gleich kommen, als ich deinen Brief bekam, bevor du es dir wieder anders überlegst. – Darf ich reinkommen?“ Philip gab die Tür frei. Er freute sich, dass Matt gekommen war, auch wenn dessen Eintreten ihm schmerzlich bewusst machte, wie es war nicht mehr auf gleicher Augenhöhe mit seinem besten Freund zu sein. Matt legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich bin froh, dass du geschrieben hast. – So, und jetzt könnte ich eine Stärkung vertragen. Ist dein Tee noch immer so schlecht wie früher? Wenn ja, ziehe ich es vor, mir selbst einen zu machen; ich bin mittlerweile recht gut darin.“ Philip rollte in die Küche und Matt schlenderte hinterher. Er machte auch keine Anstalten Philip die Büchse mit dem Tee abzunehmen oder die Tassen aus dem Schrank zu holen wie dies manch andere taten, die anscheinend nicht verstanden, dass er zwar seine Fähigkeiten zu laufen verloren hatte, dass aber alles andere einschließlich seines Gehirns noch recht gut funktionierte. 

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„Du hättest mich doch den Tee machen lassen sollen.“ Matt verzog nach einem Schluck sein Gesicht. „ Er ist eindeutig noch genauso schlecht wie früher.“ Dann räusperte er sich. „Was hat dich zum Umdenken gebracht?“  Philip lächelte. Auch hierin war Matt noch wie früher, kein vorsichtiges Herantasten an ein Thema, sondern sofortiger Angriff. Sie waren so unterschiedlich, wie man sich zwei Menschen vorstellen konnte und dennoch hatte es nie jemanden gegeben, dem er so vollkommen vertraute wie Matt. Aber was würde Matt denken, wenn er ihm von den Zeitreisen erzählte? Vermutlich würde auch er ihn für verrückt halten oder zumindest für gestört und gefährdet. Er konnte ihm nichts sagen, zumal er einige Dinge seblst nicht wusste. Reiste er tatsächlich mit seinem Körper in die Vergangenheit oder war es nur sein Geist, der die Verbindung herstellte? Und wenn er in den nächsten Tagen wieder in die Vergangenheit reiste, was wäre dann nach seiner Wiederkehr, wäre Matt dann überhaupt noch hier? Natürlich hatte er sich über so etwas vorher keine Gedanken gemacht. Zeitreisen waren nicht möglich und in Büchern erwartete man nicht unbedingt Logik hinter jedem einzelnen Geschehnis. Was geschieht, wenn man in die Vergangenheit reist und seinen Großvater ermordet – das große Paradoxon….Aber es war etwas anderes, wenn man es selbst erlebte. 

„Mensch Philip, ich erwarte jetzt keine Geständnisse von dir;  aber wenn du so lange überlegen musst, warum du mir geschrieben hast…“ 

Philip blinzelte und grinste seinen Freund dann an. „Matt, ich kann nur sagen, dass ich sehr froh, dass ich es getan habe, und ich hätte es schon früher tun sollen. Wie lange kannst du bleiben?“ 

„Vorerst nur zwei Tage, aber….es muss ja nicht das letzte Mal sein. Ich soll dich übrigens von Celia grüßen und vielleicht wäre es Zeit, dass du deinen Patensohn mal wieder siehst. Hattest du heute was Spezielles vor?“  

„Matt, ich habe schon eine ganze Weile nichts Spezielles mehr vor,“ erwiderte Philip und seine alte Bitterkeit kam wieder ans Tageslicht.. „Vielleicht …. Ich habe einen Brief von einem ehemaligen Kollegen in Oxford bekommen. Sie würden sich freuen, wenn ich wiederkäme.  Aber außer dem Beruf und meinen Büchern wird mir nicht viel bleiben. Viel Auswahl an Gesellschaft hab ich nicht und ich kann es drehen und wenden wir ich will“ – Er sah Matt voll ins Gesicht –

„Einige Dinge sind unwiederbringlich vorbei..“ 

„Ich will dich nicht einfach aufmuntern und dir sagen, es würde alles wieder gut. Was ist mit Marys Familie? Hast du denn keinen Kontakt zu ihnen?“ fragte Matt stirnrunzelnd. 

„Ich kann nicht  sagen, dass ich ein herzliches Verhältnis zu ihnen hatte außer zu Leo und selbst er… Sie machen mich dafür verantwortlich, dass Mary tot ist; wäre ich nicht so neugierig gewesen…Und auch wenn sie es nicht täten….Wenn Mary nicht gestorben wäre, hätte ich mich scheiden lassen….“ 

Einige Sekunden verstrichen und man sah Matt an, dass er dies erst einmal verdauen musste.

 „Ich hätte sie nie heiraten sollen, Matt. Vielleicht hätte ich drauf kommen sollen, als du mir damals von Celia erzählt hast. Es war so anders zwischen euch.“ 

Matt holte umständlich eine Zigarette aus seinem Etui. „Du hast dich verändert, Philip,“ sagte er schließlich. „Damals hatte ich den Eindruck, du weißt überhaupt nicht, wovon ich rede und ich….jetzt kann ich es dir ja sagen…ich glaubte schon damals nicht, dass Mary Argyle die richtige Frau für dich war. Hat deine Krankheit dich einsichtig gemacht oder was ist passiert?“ 

„Spricht jetzt der Freund oder der Staatsanwalt?,“ erwiderte Philip leichthin und rollte zum Schrank, in dem sich Gläser und Flaschen befanden. „Komm, lass uns erst einmal anstoßen.“ Matt verstand, dass Philip nichts weiter über das Thema sagen wollte und nippte gehorsam an dem Madeira, den Philip ihm einschenkte. 

~~~ 

Es war schön gewesen in alten Zeiten zu schwelgen und Matt hatte es verstanden bestimmte Momente mit seinen Witzen aufzulockern und nicht zuzulassen, dass Philip in Selbstmitleid versank. Er konnte seit langer Zeit wieder lachen. Zufrieden legte sich Philip in sein Bett, während Matt es sich im Gästezimmer bequem machte. Philip wusste, dass er Matt wohl nie geschrieben hätte, wenn diese seltsamen Reisen in die Vergangenheit nicht gewesen wären. Selbst wenn sich dies nicht wiederholen sollte, dann hatte er doch gelernt, dass nicht nur die Geschehnisse bestimmten, wie es ihm ging, sondern dass es seine eigene Einstellung war. Wenn er nur von Anfang an gewusst hätte, dass es keine Träume, sondern Realität war. Dann hätte er Mary nie geheiratet….Vielleicht bekam er noch einmal eine Chance. Zögernd griff Philip nach dem Band, der auf seinem Nachttisch lag und öffnete ihn, doch nichts geschah. Es war, wie er schon vermutet hatte. Er hatte keinerlei Einfluss darauf, wann und wohin er reiste. Dennoch kreisten seine Gedanken immer wieder um die Frage „Was wäre gewesen wenn er sofort erkannt hätte, dass es kein Traum, sondern die Vergangenheit war, wenn er nicht Mary geheiratet hätte, sondern versucht hätte Hester zu gewinnen? Was hatte er getan, dass sie ihm so kühl begegnete? Sie war kein kalter Mensch, sondern warmherzig, lustig, freundlich….Und jetzt hatte er erst recht keine Chance mehr. Er war nur noch ein halber Mensch, ein halber Mann, nein, noch nicht einmal mehr das.  Philip schloss die Augen. Vor sich sah er Hester; sie strich ihm sanft über das Gesicht und küsste ihn…... Ihre Finger liebkosten sein Gesicht und dann wanderten ihre Hände tiefer….Oh, ja….oh….ja…. 

Sag mal, hörst du mir eigentlich zu? Ich sagte, ich würde gerne wieder nach Hause zurückfahren,“ sagte Mary leise und nahm einen Schluck Tee. „Dort haben wir mehr Zeit für uns. Ich verstehe auch nicht, warum du plötzlich ständig diese langen Spaziergänge machen willst. Das ist mir zu anstrengend und nur um hinterher von einer Klippe  eine bestimmte Aussicht zu haben… Du hast dich schon sehr verändert, Philip. Du bist wirklich nicht der Mann, den ich…“ Sie verstummte in ihrer Tirade, als sie sah, dass Philip sie verständnislos anschaute.

Das war ein mehr als raues „Erwachen“. Gerade eben hatte er noch die Illusion von Hesters Küssen gefühlt und jetzt… Er blinzelte erneut und ihre Worte drangen diesmal zu ihm vor. Noch vor einiger Zeit hätte Mary dies zwar gedacht, es aber nicht laut geäußert. Es war ein weiterer Beweis, dass die Ehe kaum mehr zu retten war und inzwischen wollte er es auch nicht mehr, selbst wenn er keine Aussicht hatte, Hester jemals zu gewinnen.  Es war nichts Dramatisches, sie stritten sich auch kaum, aber sie hatten einander nichts zu sagen. Nur eins hielt Philip davon ab die Worte zu sprechen, an die Mary inzwischen wohl selbst dachte, sich aber noch nicht traute zu Ende zu denken – Scheidung -   und das war das Wissen um den bevorstehenden Tod Rachel Argyles.  Ein Blick auf die Zeitung zeigte ihm, dass nur einige Tage vergangen waren; sollte ein System  hinter den Zeitabschnitten stecken, die vergingen, wenn er in die Vergangenheit reiste, so war es ihm bisher verborgen geblieben. Er wusste nur, dass er die Zeit schnell nutzen musste. Die anderen hatten ihr Frühstück längst beendet und so waren Mary und Philip die einzigen, die noch im Esszimmer saßen.

Die Tür öffnete sich und Kirsten brachte eine frische Kanne Tee. Kirsten – sie hatte den Mord für Jacko verübt. Und wenn er verhinderte, dass sie ihm half? Es überlief ihn heiß und kalt. Es war keine besonders gute Idee, aber die Zeit lief ihm davon. Kirsten schenkte Tee nach und Philip legte seine Serviette beiseite. „Hatte ich dir eigentlich schon gesagt, dass Jacko anscheinend  geheiratet hat? Ich glaube aber, es ist nicht gerade die Partie, die deine Mutter gutheißen wird.“ Die Teekanne zerschellte klirrend am Boden und Kirsten stand leichenblass und erstarrt daneben.

„Kirsten, was hast du?“ rief Mary erschrocken.

„Ich…mir war schon den ganzen Morgen nicht so gut….Vielleicht….“ 

„Kirsten, du musst dich hinlegen.“ Dankbar sah Kirsten Mary an, die sie umfasste und hinausbegleitete. Philip blieb nachdenklich zurück. Er wusste, Kirsten war kein schlechter Mensch, nur eine unglückliche, innerlich vereinsamte Frau, die nie in ihrem Leben von einem Mann geliebt worden war. Unter den richtigen oder besser gesagt falschen Umständen konnte jeder zum Mörder werden. Doch es gab auch Menschen wie Jacko und diese waren anders. Nur wenige Tage später verließ Kirsten die Argyles. Sie habe schon länger vorgehabt ein eigenes Leben zu beginnen und vielleicht sei jetzt der richtige Zeitpunkt. Als erstes werde sie ihre Schwester in Schweden besuchen und dann entscheiden, was sie weiter tun werde.  Kirsten hatte Tränen in den Augen, als sie ging.

„Es ist ein seltsames Gefühl,“ sagte Mary mit belegter Stimme. „Sie war ein Teil unseres Lebens und ich dachte, sie würde immer da bleiben, auch wenn wir sie natürlich nicht mehr brauchten wie früher, als sie noch unser Kindermädchen war. Ich dachte nie, dass sie etwas vermissen könnte.“

Philip nickte nur. Er konnte nicht zeigen, wie erleichtert er war. Kirsten war nicht zur Mörderin an Rachel Argyle geworden und geworden und auch Mary  würde damit überleben. Mary starrte dem Wagen hinterher, der Kirsten an den Bahnhof brachte. „Philip,“ sagte sie. „Können wir bald nach Hause fahren?“ 

„Wir fahren übermorgen, Mary,“ entgegnete er und fasste sie um die Schulter. Er liebte sie nicht, aber er war froh, dass sie in der Zukunft leben würde. Mary blickte dankbar an ihm hoch und lächelte ihn an, während sie seine Hand ergriff und geistesabwesend streichelte „Ich bin froh, Philip.“ 

~~ 

Der Abschied von Kirsten machte Hester noch bewusster als zuvor, wie eingesperrt sie sich fühlte. Sie war volljährig und niemand würde ihr etwas verbieten, aber sie wusste genau, wie ihre Mutter reagieren würde, wenn sie ihr von den Wünschen und Träumen erzählte, die sie hegte. "Natürlich verstehe ich dich, Kind. Glaube nicht, dass ich nicht ähnliche Träume hatte, als ich in deinem Alter war. Du hast schon Verschiedenes versucht, bist du denn sicher?.... Ich möchte dich nur vor Fehlern bewahren….".Sie würde nie begreifen, dass Hester sich das Recht wünschte ihre eigenen Fehler machen zu können. Rachel Argyle würde den Universitätsbesuch von Hester nicht verhindern, indem sie sich weigerte zu zahlen, aber sie würde Hester weder unterstützen noch beraten. Es war fast ein Fluch die Tochter einer so reichen Familie zu sein; wie wünschte Hester sich manchmal sie wäre ein Mann, dann hätte sie ihre Mutter leichter überzeugen können, dass sie auf die Universität wollte, aber so wurde von ihr erwartet, dass sie Teeparties beiwohnte, etwas ehrenamtliche Arbeit tat und ansonsten wartete, bis der passende Mann auftauchte. Es war, als ob die Frauenbewegung spurlos an der Familie vorbeigegangen wäre und das paradoxerweise, obwohl Rachel Argyle die Zügel fest in der Hand hielt.

Dieses „Nicht arbeiten-müssen“ war für ihre Mutter sehr wichtig. Als Hester während des Krieges im Lazarett geholfen hatte, hatte Rachel Argyle dies akzeptiert; schließlich musste jeder seine Pflicht für das Vaterland tun, aber ein Studium, das später zum Lebensunterhalt dienen sollte, war nichts, was ihre Billigung finden würde Wer sollte ihr helfen?

Ihr Bruder Mickey hatte nur gelacht, als sie angedeutet hatte sie wolle etwas Sinnvolles tun. „Du wirst dein Leben lang genug Geld zum ausgeben haben, Hes, was solls? Hab ein bisschen Spaß und beleg einen Malkurs…Und ausgerechnet Geschichte….“ Er schüttelte den Kopf und verzog das Gesicht. „Tut dich mit Philip zusammen; ihr ergäbt ein prima Team. Ihr müsst nur jemanden finden, der dann ab und zu den Staub von euch abwischt.“ 

Hester wusste selbst nicht, wie sie auf Geschichte gekommen war. Ihr war inzwischen klar, dass ihr versuch Schauspielerin zu werden nur Rebellion gewesen war. Aber Geschichte…sie hatte ihrem Vater immer gerne bei seinen historischen Recherchen und beim Katalogisieren geholfen, wenn Gwenda nicht da war. Dennoch wusste Hester, dass sie auch von ihm keine Unterstützung erwarten konnte. Er hatte zwei Bücher über angelsächsische Geschichte geschrieben; er war lieb, herzlich und nett, aber auf seine Art hoffnungslos altmodisch. Wie sollte sie vorgehen – einfach an die Universität schreiben? Philip – der Gedanke, von Mickey im Scherz dahingesagt….Die Bemerkung ihres Bruders ließ sie nicht mehr los. Sie würde nur etwas Hilfe brauchen und wenn sie dann erst an der Universität wäre, bräuchte sie ihn überhaupt nicht mehr zu sehen. Außerdem hatte sie gehört, dass Philip und Mary übermorgen nach Hause zurückkehren würden.  Er würde nie merken, was sie für ihn empfand; er sah in ihr sowieso nur die kleine Schwester seiner Frau und neben Mary verblasste sie sowieso.

Die leise Stimme, die ihr sagte, es sei besser wie bisher Distanz zu Philip zu wahren, unterdrückte sie.

 






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