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Leo Argyle begrüßte ihn herzlich und Philip wusste, dass sich eine Freundschaft zwischen ihm und seinem Schwiegervater entwickelt haben musste. Was er nicht verstand war, wieso ihm jegliche Kenntnis hiervon fehlte. Er war die gleiche Person, aber er starrte wie ein Fremder auf das Geschehen. Vieles war gleich, aber durch seine Entscheidung einen anderen Beruf zu ergreifen befand er sich in einer Vergangenheit, die sich offensichtlich geändert hatte. Micky und Tina waren höflich, aber anscheinend hatte er keine nähere Beziehung zu ihnen. Ebenso offensichtlich war die Zurückhaltung von Rachel Argyle; sie war eine Frau, die sich an ihre Adoptivkinder klammerte, die meinte bestimmen zu können, was gut für diese Kinder, die schon lange keine mehr waren, war; ein Professor, auch wenn es an der Universität Oxford war, war nicht ganz das, was sie sich als Schwiegersohn vorgestellt hatte.  

Er lächelte Hester kurz zu und sie grüßte ihn kurz aber kühl, wie dies ihm gegenüber immer ihre Art war. An Marys Gesichtsausdruck sah er, dass selbst sein kurzes Lächeln ihr nicht gefiel. Der Abend verlief dennoch angenehm, bis ein Blick auf den Kalender Philip erstarren ließ: Es war der 14. Oktober, der Tag, an dem Jacko hier aufgetaucht war und seine Mutter angegriffen hatte, weil sie nicht bereit war für seine Schulden weiter aufzukommen. Philip nahm einen Zigarillo aus seinem Etui und schaute auf seine Uhr. Es würde nicht mehr lange dauern und Jacko würde kommen. Er erinnerte sich gut; Rachel Argyle hatte sich das erste Mal in ihrem Leben geweigert und Jacko war ausgerastet und hatte sie gewürgt. Der Mord war nicht lange danach geschehen. Es nutzte nichts, dass er jetzt wusste, was geschehen würde. Wer würde ihm glauben? Im Gegenteil, wenn er Jacko oder Kirsten konfrontierte, wären sie gewarnt und würden ihren Plan ändern. Er musste etwas tun ohne dass sie bemerkten, dass er Bescheid wusste. Philip griff nach seinem Whiskeyglas und drehte es in seiner Hand. Dann stürzte er die Flüssigkeit hinunter und stand auf; er würde Jacko erwarten.

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„Jacko!“ sagte Philip herablassend und Jacko runzelte die Stirn. Was wollte Philip von ihm? Er hatte den Ehemann von Mary nie weiter beachtet. Philip stand vor der Haustür und machte keine Anstalten auch nur einen Zentimeter von der Stelle zu weichen.. „Du bist hier nicht erwünscht, Jacko“, sagte Philip ruhig, aber bestimmt.  

„Ich glaube nicht, dass du hier etwas zu sagen hast, “ zischte Jacko, doch dann verstummte er im Bewusstsein, dass es wohl besser wäre vorsichtig zu sein.  Er hatte Philip noch nie so entschlossen gesehen und wurde sich bewusst, dass er ihn wohl unterschätzt hatte. Philip war bei der Luftwaffe gewesen; er war knapp 1,90 groß und breitschultrig und Jacko wusste, dass er hier nur verlieren konnte. Weder würde er Philip überreden können ihn doch noch hereinzulassen noch hatte er Aussicht einen Kampf zu gewinnen. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ging davon, seine ganze Haltung ein beredtes Zeichen seiner unterdrückten Wut.  Philip wartete noch eine Weile und ging dann wieder ins Haus. Niemand hatte den Zwischenfall bemerkt.  

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Hester blickte hoch, als er den Raum betrat. Er schien in Gedanken und schaute sie nicht an. Mary saß noch immer neben ihrer Mutter und unterhielt sich mit ihr. Hester hatte eine leichte Spannung zwischen ihr und Philip bemerkt; Marys Unterlippe war leicht vorgeschoben, wie immer, wenn sie schmollte.  Verstohlen betrachtete sie Philip. Er sah noch besser aus als damals, als Mary ihn das erste Mal zum Essen mitgebracht hatte. Seine dunklen Haare fielen ihm in die Stirn; er hatte helle, grau-blaue Augen, die sie jedes Mal zu durchdringen schienen, wenn er sie anschaute. Am meisten jedoch liebte sie sein Profil. Er hatte keine kleine Nase, aber jede andere hätte in diesem Gesicht falsch ausgesehen. Auf Anhieb hatte sie sich in Philip verliebt, sich jedoch nie etwas anmerken lassen. Zu Anfang hatte sie sich eingeredet, sie sei leicht zu begeistern und es sei nur eine harmlose Schwärmerei für ihren gut aussehenden Schwager. Doch bald merkte sie, dass es mehr war. Sie träumte von seiner Stimme, sah im Traum seine langen schlanken Finger, die sie und nicht Mary liebkosten.   

Sie ertappte sich, wie sie ihn immer wieder anstarrte, wenn er zu Besuch war, wie sie jede seiner Bewegungen verfolgte. Sie war mit Mary nie ausgekommen, aber sie würde ihr nie den Mann stehlen. Das Ganze musste ein Ende haben; sie musste sich Philip aus dem Kopf schlagen – Hester begann auf Distanz zu Philip zu gehen und wechselte kaum mehr als ein paar Worte mit ihm. Dennoch konnte sie nicht verhindern, dass ihre Gedanken immer wieder zu ihm wanderten. Sie hatte sich damals gefragt und fragte sich immer noch, warum Philip Mary geheiratet hatte. Natürlich war eine der ersten Vermutungen das Vermögen gewesen, das für Mary und ihre Geschwister in einem Fonds angelegt war,  - und auch jetzt konnte Mary fast beliebig viel Geld ausgeben - aber sie hatte sich wohl getäuscht, denn Philip lebte fast ausschließlich von seinem Einkommen als Professor.  

Hester gestand ihrer Schwester zu, dass sie wirklich gut aussah; sie war zierlich und hatte eine ebenmäßiges, fast madonnenhaftes Gesicht und auf den ersten Blick ein ebenso sanftes Wesen, aber Hester als ihre Schwester wusste, dass dies täuschte. Nur bei ihrer Adoptivmutter hatte sich fast immer nachgegeben, wohl wissend, was sie tat.  

Marys Eleganz war etwas, worum Hester sie immer beneidet hatte; sie selbst war schon als Kind ein Wirbelwind gewesen, das sich überall die Knie aufgeschlagen und die Kleidung beschmutzt hatte. Mary war die Brave gewesen, der blonde Engel, der nie etwas anstellte und von allen bewundert wurde. Einzig Leo Argyle hatte die wilde Hester bevorzugt, was von Mary nicht gut aufgenommen wurde. Mary hatte immer etwas Besitz ergreifendes an sich gehabt und sie machte auch schnell klar, dass ihr Ehemann ihr „gehörte“. Mary begriff nicht, wieso sich Philip so viel gefallen ließ.  Philip merkte, dass er beobachtet wurde und als er hoch schaute, begegnete er Hesters Blick. Für einen kurzen Moment waren ihren Augen nicht kühl, sondern warm und interessiert und….was war das? Philip blinzelte, aber dann sah er, dass er sich wohl getäuscht hatte, denn Hesters Blick war wie immer und glitt desinteressiert über ihn hinweg. Er wusste nicht, was sie gegen ihn hatte. Er hatte sie seines Wissens nie beleidigt; doch dann fiel ihm ein, dass ihm diese entscheidende Kenntnis vielleicht fehlte.  

 Hester – Philip wusste nicht einmal, wann er sich in sie verliebt hatte. Sie war klein und dunkelhaarig, mit einer Stupsnase und braunen Augen. Hester war das Enfant terrible der Familie, aber dennoch war Philip seltsam enttäuscht, gewesen, als er von ihrer Affaire mit einem verheirateten Mann erfahren hatte. Alles andere, ihr Wunsch Schauspielerin zu werden und ihre Versuche sich von ihrer Mutter abzunabeln, hatten ihn erfreut. Es war etwas gleichzeitig Bewundernswertes und Naives in diesen Versuchen gewesen. Hester war lebendig und verstand es selbstständig zu denken. Philip lächelte, als er an das eine Mal zurückdachte, wo er sie auf beim Vorsprechen gesehen hatte. Er hatte durch Zufall davon erfahren und sie wusste bis heute nicht, dass er im Halbdunkel am Eingang gestanden hatte. Sie war einfach grauenhaft gewesen.   

Mary war die schönere Frau von beiden, aber sie hatte in vielem die Lebendigkeit einer Schaufensterpuppe und das war es wohl auch, was er zu spät registriert hatte. Sie hatte keine Phantasie, besaß keine Neugier, am liebsten sollte alles so bleiben wie es war. Ihre eisernen Klauen hatte er erst nach der Hochzeit bemerkt. Vielleicht war der alte Spruch doch wahr und Männer achteten mehr auf Äußerlichkeiten als gut für sie war.  „Ich bin ungerecht,“ schoss es Philip durch den Kopf. „Mary kann nicht aus ihrer Haut.“ Plötzlich fühlte er, wie es ihm einkalt den Rücken hinunterlief. Hier dachte er von Mary als lebendiges Wesen, aber in der Zukunft, die er kannte, war sie tot, hatte ihr Leben verloren um ihn zu retten. „Wie verlogen und überheblich bin ich eigentlich?“ Philip war erschrocken über sich selbst. Er stand auf, ging zu Mary hinüber und legte ihr die Hand auf die Schulter. Doch sie war offensichtlich nicht in der Stimmung darauf einzugehen; er spürte sofort, wie sie sich versteifte. Anscheinend hatte sie ihrer Mutter ihr Leid geklagt, denn Rachel Argyle blickte ihn fast feindselig an. ‚Wie kannst du es wagen meiner Tochter solche Dinge zu sagen’, sagte ihr Blick mehr als deutlich.  

 Abrupt drehte Philip sich um; er hatte es nicht nötig zu Kreuze zu kriechen. Er würde versuchen müssen den Mord an Rachel Argyle und damit alles was damit zusammenhing zu verhindern, aber ob er seine Ehe retten konnte, bezweifelte er inzwischen. Er hätte Mary nie heiraten dürfen, aber der Fehler lag mit bei ihm und er würde Mary nicht alleine dafür verantwortlich machen. Kurz hatte ihn der Gedanke an Scheidung durchzuckt, aber er hatte ihn wieder verworfen. Was wäre damit gewonnen? Die Frau, in die er sich wirklich verliebt hatte, zeigte ihm deutlich, dass sie ihn ablehnte. Er setzte sich wieder hin und griff aus Gewohnheit nach seinem Glas, das er jedoch plötzlich so heftig absetzte, dass die Eiswürfel klirrten; Mary blickte ihn irritiert an, schaute aber dann wieder weg.  

Was war mit Philip los? Da war mehr als nur die Unstimmigkeit mit Mary; dessen war sich Hester sicher. Er wirkte besorgt und in sich gekehrt. Philip war nie ein Mann gewesen, der viel geredet hatte, aber irgendetwas war anders. Wie er sich mit der Hand über die Stirn fuhr, wie er gerade sein Glas abgestellt hatte….Seltsam…Sie sollte besser ihre Distanz halten, aber irgendwie brachte sie es diesmal nicht fertig. Er wirkte fast ein bisschen verunsichert.  

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Es war, als ob das Wetter die Stimmung zwischen Philip und Mary ausdrücken wollte; es regnete. Marys Lippen waren leicht zusammengepresst und ihre Stimme etwas kühler als sonst, für jemanden, der sie nicht kannte, kaum zu bemerken. Philip sagte nichts, sondern schaute ihr nur lange in die Augen, aber er konnte ihr kein Lächeln entlocken. Philip konnte sich denken, was in ihr vorging. Mit seiner Bemerkung über ihre Enttäuschung hatte er einen Nerv getroffen. Sie war unzufrieden gewesen, aber sie hatte sich bisher damit getröstet ihren Mann ansonsten in die von ihr gewünschte Richtung lenken zu können. Ihre Mutter, die immer der Meinung gewesen war, dass Philip nicht gut genug für Mary sei, würde sie in allem unterstützen, auch in einer Scheidung. Hatte Philip aus einem anderen Grund darüber nachgedacht, so wurde ihm bewusst, dass vielleicht Mary den Weg aus dieser Ehe suchen würde. Andererseits war ihr die öffentliche Meinung immer sehr wichtig gewesen und was würden die anderen denken, wenn sie sich ohne guten Grund scheiden ließe?  Ein weiterer Gedanke durchzuckte ihn. Wenn er sich scheiden ließe, dann wäre er in der verhängnisvollen Nacht nicht im Haus gewesen, dann hätte Kirsten nicht versucht ihn zu ermorden und Mary würde noch leben. Vielleicht wäre es tatsächlich besser so, aber er musste zuerst einen Weg finden den Mord an Rachel Argyle zu verhindern und das konnte er nur, wenn er nach wie vor ungehindert Zugang zu ihrem Elternhaus hatte.  

Philip hielt die Times in der Hand ohne den Artikel überhaupt gelesen zu haben und legte sie jetzt achtlos beiseite. „Gibt es eigentlich irgend etwas Neues von deinem Bruder Jacko?“ fragte er nach einer Weile beiläufig.

Mary schaut ihn zuerst an, als wisse sie nicht, von wem er überhaupt rede. „Jacko?“ sagte sie dann geistesabwesend. „Nein, warum?“  

„Ich habe gehört, er hätte mal wieder ziemlich hohe Wettschulden und die Buchmacher wollten ihm an den Kragen.“  

„Das kann schon sein,“ erwiderte Mary, „Aber ich habe schon lange aufgehört mich für das zu interessieren, was Jacko tut. Er wird sich wohl nie ändern und irgendwann wird auch Mutter einsehen, dass es wie ein Fass ohne Boden ist, wenn sie ihm Geld gibt.“  Sie begann das Frühstücksgeschirr wegzuräumen und schien plötzlich etwas entspannter, vielleicht, weil sie nicht weiter über Philip und ihre Beziehung zu ihm nachzudenken brauchte.  „Wie kommst du überhaupt darauf? Du hast dich doch sonst auch nicht um Jacko gekümmert?“  Philip war sich bewusst, dass es schwierig würde einen guten Grund zu finden, den er Mary nennen konnte. Plötzliche Sorge um Marys Mutter würde selbst sie etwas wundern.   

„Ich weiß nicht, ob es dein Vater war, der es mir sagte aber ich glaube, dass Jacko inzwischen an den Fonds selbst möchte, weil er mit den Zinsen, die ihr alle bekommt, nicht auskommt. Das berührt euch alle. Auf jeden Fall solltet ihr alle aufpassen; eure Mutter war schon immer zu nachgiebig, was Jacko betrifft.“  Philip wusste selbst, dass dies recht fadenscheinig klang, aber dies fiel Mary zum Glück nicht auf.  Sie nickte und verließ dann das Esszimmer. Philip griff wieder nach seiner Zeitung und begann den Leitartikel zu lesen, der plötzlich vor seinen Augen verschwamm.  Er blinzelte und schaute auf das Gedicht von Morgenstern und den kleinen Band, den er in den Händen hielt.  

Palmströms Uhr ist andrer Art,
reagiert mimosisch zart.

Wer sie bittet, wird empfangen.
Oft schon ist sie so gegangen,

wie man herzlich sie gebeten,
ist zurück- und vorgetreten,

eine Stunde, zwei, drei Stunden,
je nachdem sie mitempfunden.

Selbst als Uhr, mit ihren Zeiten,
will sie nicht Prinzipien reiten:

Zwar ein Werk, wie allerwärts,
doch zugleich ein Werk - mit Herz.

 

 






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