- Schriftgröße +



 Er wusch und rasierte sich; es fühlte sich gut an nach dieser langen Zeit wieder auf seinen Beinen zu stehen, das Kribbeln in den Zehen zu spüren, auch wenn es nur ein Traum war. Philip schaute sich im Spiegel an; ja, so hatte er damals ausgesehen, als noch alles möglich war, als ihm die Welt noch offen stand. Der bittere, zynische Zug um den Mund fehlte. Während er die restliche Rasierseife wegwischte, klopfte es an der Tür. „Einen Moment!“ rief er und zog sein Hemd über. Das musste Mary sein. Sie war damals in die Pension gekommen und hatte ihn abgeholt um ihn ihren Eltern vorzustellen. Philip knöpfte sein Hemd zu, öffnete die Tür und blickte auf die junge Frau, die ihn mit leuchtenden Augen anschaute. Damals hatte er sich geschmeichelt gefühlt, aber jetzt wusste er, was kommen würde. Was kommen würde? Was redete er da für einen Unsinn! Das war ein lebhafter Traum, nichts weiter, auch wenn er sich verdammt echt anfühlte. 

Mary war eine hübsche junge Frau mit ebenmäßigen Zügen und einer ruhigen Eleganz. Ihre Haare trug sie in einem Chignonknoten und an ihren Ohren hatte sie kleine Perlenohrringe. Sie schaute sich im Zimmer um, während Paul sein Jackett holte. „Oh, sagte sie, “ Ich wusste gar nicht, dass du Gedichte liest.“ Paul erstarrte. Der kleine zerlesene Gedichtband lag auf dem Nachttisch neben seinem Bett. „Ich kann mit Gedichten nichts anfangen.“ fuhr Mary stirnrunzelnd fort und blätterte achtlos durch den Band. Philip hätte sie am liebsten angefahren, sie solle das Buch wieder hinlegen, aber er beherrschte sich. „Bist du fertig? Können wir gehen?“ Mary lächelte ihn an und er wusste wieder, warum er sich damals in sie verliebt hatte. Während er die Tür öffnete und ihr den Vortritt ließ, schaute er noch einmal auf den Nachttisch zurück. Im kleinen Frühstückszimmer der Pension war bereits für ihn gedeckt. Die Wirtin brachte ihm Tee und er aß schweigend. Die Höflichkeit hätte es geboten, dass er sich mit Mary unterhielt, aber er fühlt sich unwohl in ihrer Gegenwart, wusste nicht, was das alles zu bedeuten hatte. Wieso war er in einem Traum und wusste, was passieren würde? Träume waren anders und wieso träumte er am helllichten Tag? Etwas war anders gewesen – er hatte damals keine Gedichte gelesen und diesen Band hatte er erst viel später gekauft. 

Rachel Argyle empfing ihn mehr als zurückhaltend. Es war offensichtlich, dass sie sich für ihre Tochter jemand anderen als Ehemann gewünscht hätte. Es war seltsam, aber diesmal war Philip im Vorteil; er kannte sie bereits, wusste alles von ihr, er wusste, wie sie versuchen würde Mary von den Ehe abzubringen und seltsamerweise fühlte er sich jetzt besser als vorhin in der Pension. Hier in diesem Traum hielt er die Fäden in der Hand und konnte den Ablauf der Dinge ändern. Hier war er der Herr des Geschehens. Damals hatte er versucht Rachel Argyle zu beeindrucken; er war verliebt gewesen und Mary war eine Frau gewesen, die einmal ein Vermögen erben würde, was nicht unwichtig für ihn war. „Mr. Durrant, was werden Sie machen, wenn der Krieg zu Ende ist? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, waren Sie vorher an der Universität und haben alte Sprachen studiert. Das ist sicherlich sehr interessant, allerdings….“ Sie beendete den Satz nicht, sondern nahm einen Schluck Tee und schaute Philip bedeutungsvoll an.  Ja, er hatte einmal Pläne gehabt zu investieren und Rachel Argyle zu beweisen, dass sie mit ihrem Urteil ihm gegenüber Unrecht hatte. Jetzt wusste er, dass dies nicht sein Weg war. Es war nicht nur Pech gewesen; er hatte einfach nicht die Nase und die Skrupellosigkeit für bestimmte Geschäfte. „Ich habe einen guten Abschluss gemacht und ich werde versuchen zu lehren. Einer meiner Professoren wird mich in Oxford empfehlen.“ 

Mary blickte ihn überrascht an. „Das hast du mir ja gar nicht gesagt, Philip. Ich dachte du wolltest etwas mit Finanzen machen. Du möchtest Professor werden?“ Leo Argyle, der bisher nur höflich dabeigesessen hatte und außer ein paar Begrüßungsworten noch nichts zum Gespräch beigesteuert hatte, schien angenehm berührt. „Erzählen Sie mir mehr, Mr. Durrant,“ bat er und Philip merkte, dass er dieser Bitte gerne nachkam.  Als der Nachmittag zu Ende kam, wusste Philip, dass er bei seiner zukünftigen Schwiegermutter keinerlei Pluspunkte hatte sammeln können, aber das hatte er auch nicht erwartet. Dies war ein von vornherein aussichtsloses Unterfangen. Leo Argyle dagegen hatte ihm freundlich die Hand geschüttelt. Mary war den ganzen Nachmittag über recht schweigsam gewesen. Erst als sie im Auto saßen, sprach sie ihn an. „Philip, warum hast du mir vorher nichts darüber gesagt? .Mutter war nicht begeistert, als sie hörte, dass wir heiraten wollen, und deine Pläne an einer Universität zu lehren…Ich weiß nicht warum, aber sie hat so etwas immer als brotlose Kunst bezeichnet und jetzt…“ 

Philip schaute Mary sinnend an. „Es ist mir selbst erst kürzlich klar geworden.“ Er zögerte. „Vielleicht sollten wir unseren Entschluss zu heiraten, noch einmal überdenken, wenn du ein Problem damit hast.“ 

„Nein, Philip! Natürlich nicht, es ist nur…Ich möchte, dass du glücklich bist.“ Das hatte sie ihm sehr oft gesagt, aber sie hatte ihn erstickt. „Philip? Bist du dir…bist du dir nicht mehr sicher?“ Philip schaute auf Mary herunter, die ihn fast flehend ansah, sah die Unsicherheit in ihrem Blick. Nein, er war nicht mehr sicher, aber das konnte er ihr nicht sagen und erst recht nicht, warum. Also lächelte er sie an und küsste sie zart auf den Mund. „Doch, Mary, ich bin mir sicher.“ An der Tür zur Pension verabschiedete er sich von Mary. Sie hatte noch verschiedene Sachen zu erledigen und Philip würde morgen wieder zu seinen Kameraden zurückkehren. „Ich liebe dich, Philip,“ sagte Mary und er streichelte ihre Hand zart zum Abschied. Philip schloss die Tür zu seinem Zimmer auf und war mit zwei Schritten neben seinem Bett. Liebevoll glitten seine Finger über das Leder und er schlug das Buch an der Seite auf, wo ein Lesezeichen herausschaute.  

Christian Morgenstern….. Er hatte nie ein Gedicht von Christian Morgenstern gelesen, geschweige denn in seinem Gedichtband gehabt.

 

 Sein Lieblingsgedicht war von Shakespeare. Nicht mit den Augen lieb ich dich. Die sehen genau, dass, dass du voll Fehler bist. Es ist mein Herz, das liebt, was sie verschmähn. Und dir, trotz Augenschein verfallen ist…Als er dieses Gedicht zum ersten Mal gelesen hatte, hatte es ihn wie ein Blitz getroffen und er fragte sich später, ob er sich da insgeheim eingestanden hatte, für wen er so empfand und nicht empfinden durfte. Nein, Morgenstern war ihm völlig fremd. Philip blätterte vor und zurück, aber natürlich fand er nichts von diesem Dichter. Er würde wirklich mit Dr. Myers sprechen müssen. In jedem Fall würde er weder das Buch noch den Whiskey in den nächsten Tagen anrühren. 

~~~~ 

Das Wetter hatte sich aufgeklart und die Luft war frisch. Philip hatte einen Entschluss gefasst; er rief den Wildhüter an und dieser war froh sich ein paar Shillinge dazu verdienen zu können, indem er Philip im Rollstuhl ausfuhr. Philip war dankbar, dass der Mann anscheinend keinen Drang verspürte ein Gespräch anzufangen. Er genoss die Luft, die Farben der Wolken und den Geruch der Pflanzen. Wie sich die Wünsche verschoben! Früher hatte er keinen Gedanken daran verschwendet; das alles war einfach da gewesen. Die Polio hatte nicht nur sein Leben, sondern auch ihn selbst verändert. Zwei Tage später kam Dr. Myers zu einer der Routineuntersuchungen. Philip hatte nicht mehr geträumt, aber trotzdem fragte er den Hausarzt nach Nebenwirkungen der Tabletten. Myers runzelte die Stirn. Nein, soweit er wusste, gab es keine Nebenwirkungen dieser Art. Es untersuchte Philips Augen und stellte weitere Fragen, die Philip jedoch mit einem Lächeln herunterspielte. Er legte keinerlei Wert darauf für verrückt gehalten zu werden. Wahrscheinlich ist es normal nach diesen Erlebnissen einige Träume zu haben,“ meinte er und der Arzt nickte. 

~~~ 

Philip trank seinen Tee und las zum ersten Mal seit langer Zeit die Times wieder mit Interesse. Die Träume hatten doch ihr Gutes gehabt, denn er hatte so etwas wie Lebensfreude wieder gewonnen. Der Postbote brachte wenig später die Bücher, die Philip bestellt hatte und einen Brief, den er erst einmal zur Seite legte. Manche dieser Bücher hatte Philip sich aus Antiquariaten oder von Auktionen besorgen lassen, es waren gälische Schriften darunter und natürlich auch einige Klassiker in besonderen Ausgaben. Dann griff er, noch in Gedanken versunken, nach dem Brief. - Jeremy Brickdon, University of Oxford  - Der Absender war ihm unbekannt. Philip hielt den Brief für ein paar Momente unschlüssig in der Hand, bevor er zum Brieföffner griff. 

Lieber Philip, 

Du wirst dich wundern, dass ich mich so lange nicht bei dir gemeldet habe. Ich wusste ehrlich gesagt nicht, was ich tun sollte, als Du nach deiner Krankheit deine Kündigung schriebst, weil Du, wie Du sagtest, keine Lust hättest, dich im Rollstuhl in den Vorlesungssaal zu setzen und anstarren zu lassen. Jetzt drängte es mich Dir zu schreiben. Wir waren keine Freunde, aber Du warst ein guter Kollege. Dein Nachfolger konnte dir nicht das Wasser reichen und er wird uns zum Ende des Semesters verlassen. Dies ist also ein halb offizieller Brief. Der Dekan wäre mehr als froh, wenn Du zurückkämst. Ich würde mich freuen von Dir zu hören. Bitte ruf mich an. 

Jeremy Brickdon 

Wie versteinert saß Philip da und starrte auf den Brief. Er hatte Leo Argyle gesagt, dass er nach dem Krieg an die Universität in Oxford wollte, aber das war ein Traum gewesen. Es gab keine Möglichkeit, dass irgendjemand von diesem Traum wusste und ihm einen Streich spielen wollte. Philip untersuchte das Briefpapier; es sah echt aus und trug den Briefkopf der Universität. Darauf war auch eine Telefonnummer vermerkt. Er wählte. „Hallo, University of Oxford….“  

„Guten Tag, ich hätte gerne Professor Brickdon gesprochen…“ 

„Einen Moment bitte…“  Philip hängte auf. Seine Finger zitterten. Die andere Möglichkeit war noch unwahrscheinlicher, nicht nur unwahrscheinlicher, sie war unmöglich. Er war ein erwachsener Mann und glaubte nicht an solche Sachen. Hatten die Träume etwas verändert? Sie waren immer dann aufgetreten, wenn er den Gedichtband zur Hand genommen hatte. In den vergangenen Tagen hatte er ihn nicht angerührt und er lag noch immer auf dem kleinen Tischchen in der Bibliothek. Philip rollte hinüber und griff danach. Er schlug das Buch auf  und sein Blick fiel auf Morgensterns Gedicht. Diesmal gelang es ihm sich die erste Zeile zu merken…Palmströms Uhr ist andrer Art…  

~~~ 

Der Foliant, das er in den Händen hatte, wog mindestens sechs Kilo und wäre ihm beinahe aus den Händen gefallen. Philip fand sich vor einem Regal stehend, in den Händen ein Buch von Aristoteles. „Willst du nicht eine Pause machen, Philip?“ Mary hielt ein Tablett mit Keksen und Tee in ihren Händen und lächelte ihn an. „Ich bin noch nicht fertig mit meinen Vorbereitungen, vielleicht in einer Stunde,“ erwiderte er automatisch und fragte sich sogleich, woher er das wissen wollte. Mary runzelte die Stirn. „Es tut dir aber nicht gut, wenn du so viel arbeitest. Ich weiß, dass du deine Arbeit ernst nimmst, aber du übernimmst dich. Außerdem wollten wir später noch zu meinen Eltern fahren. Du weißt, dass sie uns zum Dinner erwarten.“ Der Vorwurf in ihrer Stimme war nicht zu überhören.  Schon wollte er seufzend das Buch beiseite legen, da wurde ihm bewusst, wie sehr er sich wieder von ihr manipulieren ließ. Die nach außen so sanftmütige Mary besaß einen eisernen Willen und Philip war klar, dass er sich in der Vergangenheit-  was war jetzt überhaupt Vergangenheit? – einiges hatte bieten lassen, da er viel von ihrem Geld in riskanten Geschäften verloren hatte. War er ein Waschlappen geworden, der seine Frustration in Whiskey ertränkte und sich zu nichts mehr aufraffen konnte? Er hatte es satt, wirklich satt, und es wurde Zeit, dass er etwas änderte. Er hätte Mary nie heiraten dürfen; er ging langsam aber sicher an dieser Ehe kaputt und er wusste jetzt auch, dass er sie nie richtig geliebt hatte. Was hatte sich geändert? Er hatte einen anderen Beruf ergriffen, er hatte keine großen finanziellen Verluste erlitten, aber alles andere war unverändert geblieben. Seine Ehe mit Mary war so geworden, wie er es vor ein paar Tagen befürchtet hatte – waren es ein paar Tage oder was war überhaupt mit der Zeit los?Das Schlimme war, er wusste selbst nicht, wer er war. Im Krieg war er Pilot gewesen und Matt hatte einmal gesagt, er sei im Cockpit der schlimmste Draufgänger, den er je kennen gelernt hatte. Das hatte Mary offensichtlich angezogen. Sie selbst war immer sehr ruhig und auf Sicherheit bedacht gewesen und Philip wusste, dass sie sich selbst als langweilig empfand. Vielleicht sollte er der Ausgleich sein für etwas, was sie selbst nicht besaß. Seltsamerweise war auch er im sonstigen Leben eher ruhig; war das auch für ihn ein Ausgleich gewesen? Und jetzt als Professor? War er einfach ein Langweiler geworden? Und bekam er jetzt die Chance etwas zu ändern? 

„Setz dich, Mary,“ sagte er. Sie öffnete den Mund zu einer Erwiderung. „Setz.dich!“ wiederholte er und Mary besann sich eines Besseren und setzte sich. „Ich vermute, wir haben beide von dieser Ehe etwas anderes erwartet. Du hast einen Piloten geheiratet und der ist jetzt Professor und wohl für dich eine Enttäuschung. Aber auch ich hatte andere Vorstellungen und eine davon ist, dass ich ein eigenständiger Mensch bin, der seine Entscheidungen selbst trifft. Wie es zwischen uns weitergeht, wird mit daran liegen, ob du das respektierst.“ 

Mary starrte ihn an:. Anscheinend hatte er noch nie so mit ihr geredet. Sie erwiderte nichts, aber ihre zusammengekniffenen Lippen verrieten, wie ärgerlich sie war. 

 






Bitte gib den unten angezeigten Sicherheitscode ein: