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Sie hatte ihn nicht versetzt, sie hatte seinen Brief nur nie bekommen….Während er noch dastand und Beatrice Worte langsam einsanken, wurde Philip so einiges klar. Er hatte nicht verstanden, wie ihm die Hester der Zukunft sagen konnte, dass sie ihn schon von Anfang an geliebt hatte, aber dann auf seinen Brief hin nicht gekommen war. Es hatte sie wahrscheinlich sehr verletzt, dass sie nichts von ihm gehört hatte, obwohl er ihr sein Leben zu verdanken hatte. Und Beatrice…. Sie empfand weit mehr für ihn als sie zugegeben hatte. Philip wusste, dass er selbst durch sein Verhalten mit dazu beigetragen hatte, dass sie sich Hoffnungen auf eine Beziehung gemacht hatte. Sie war eine nette junge Frau, die vielleicht eines Tages jemanden finden konnte, der sie liebte. Sie tat ihm fast leid und im Moment überwog die Freude, die er empfand, dass vielleicht noch alles gut würde. 

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Ein kurzes Klopfen an der Tür und dann stürzte Ella ins Zimmer, ihr Strahlen unübersehbar. „Hester, ich muss dir unbedingt….Sag mal, geht es dir nicht gut?... Du siehst irgendwie bedrückt aus. Ich dachte, du freust dich, dass dein Vater wieder geheiratet hat.“ Ella schaute ihre Freundin besorgt an.

Hester war blass und einsilbig, etwas, was Ella gar nicht an ihr kannte. Als Ella sie fragend anschaute, holte sie tief Luft. „Vielleicht ist es Zeit, dass ich mal drüber rede. Ich habe es bisher niemandem gesagt. …“ Ella setzte sich und Hester fuhr fort. „Über den Mord an meiner Mutter und dass Jacko auf meinen Schwager Philip angeschossen hatte, weiß jeder Bescheid; das war in den Zeitungen. Doch nicht sehr viele wissen, dass ich Philip gefunden hatte. Es war…ich hatte ihm ein Zigarettenetui geschenkt und …das hat die Kugel abgelenkt, sonst hätte er nicht überlebt. Er hat sehr viel Blut verloren und lang im Koma gelegen. Sein Bein ist steif geblieben und er war noch lange im Krankenhaus. Ich hatte ihn seither nicht gesehen, aber ich dachte, er meldet sich bei mir…Als ich dann in der Universität anrief…Er hat nicht einmal zurückgerufen. Und jetzt habe ich ihn auf der Hochzeit gesehen und er tat doch tatsächlich, als ob er Grund hätte böse auf mich zu sein….“ 

Sie stockte und Ella schaute sie sinnend an. „Das Wichtigste hast du nicht ausgesprochen, oder, Hester? Du liebst ihn…“ Ella nahm ihre Freundin in den Arm. „Weiß er, was du für ihn empfindest?“ 

„Ich glaube nicht,“ sagte Hester langsam. „Ich habe mich in ihn verliebt, als Mary ihn das erste Mal mitgebracht hat, aber Ich habe von Anfang an so getan, als ob ich ihn nicht leiden könnte. Es war Selbstschutz, und ich hatte immer Angst, dass irgendeiner etwas merkt. Vater fragte mich mehr als einmal, ob ich mich ihm gegenüber nicht etwas freundlicher benehmen könnte. gut miteinander aus. Die beiden kommen sehr gut miteinander aus. Ich glaube, ich habe alle getäuscht. Ich habe ihn auch immer gemieden, nur einmal, als ich wusste, ich musste auf die Universität, da habe ich ihn um Hilfe gebeten und da war es auch, dass ich ihm als Dankeschön das Zigarettenetui gekauft habe. Als ich es ihm gegeben habe, hat er mich auch ganz seltsam angeschaut und für einen Moment dachte ich….Aber das war Einbildung….“ Sie schüttelte den Kopf. „Es hat mich ziemlich mitgenommen ihn jetzt zu sehen. Du hast ihn nie kennen gelernt. Ich meine, du hast ja Steven, aber wenn du einmal in seine Augen geblickt hättest….Ich rede Unsinn…“ Hester biss sich auf die Lippen. „Das Beste ist, wir reden nicht mehr drüber.“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass du dich täuschst, Hester,“ erwiderte Ella. „Er weiß doch, dass er dir sein Leben zu verdanken hat. Vielleicht hat es nur ein Missverständnis gegeben, gerade wenn er so seltsam reagiert hat bei der Hochzeit. Warum rufst du ihn nicht an? Im Übrigen hast du Recht.“ Sie grinste wieder. „Ich habe meinen Steven, aber dein Philip muss ja wirklich toll aussehen, wenn du so schwärmst. Du hast doch bestimmt ein Bild?“

 „Er ist nicht mein Philip,“ erwiderte Hester. „Ja, ich habe ein Bild und ich zeige es dir, damit du Ruhe gibst. Ich weiß, du meinst es gut, aber…“ Das Bild war einmal auf einer Familienfeier aufgenommen worden und inzwischen  ziemlich abgegriffen.

Ella sah, wie vorsichtig und liebevoll Hester das Bild anfasste und schüttelte den Kopf, während sie es in die Hand nahm. „Ich glaube, du belügst dich selbst. Du musst es klären, denn sonst kommst du nie über ihn weg. Ich kenne dich inzwischen gut genug…..Er sieht wirklich sehr gut aus…Ist er immer so ernst?“

„Er lacht selten,“ erwiderte Hester. „Aber wenn er lacht, dann meinst du…“ Sie wurde rot und brach ab. „Ich weiß, dass du mir irgendetwas sagen wolltest. So, wie du reingekommen bist. Was gibt es?“ 

Ella merkte, dass Hester nicht weiter über Philip sprechen würde und drang nicht weiter in ihre Freundin. „Ja, es gibt etwas, was ich dir gerne erzählen würde. Kommst du mit in das kleine Café am Rande vom Campus?“

~~~

Vielleicht hätte er doch vorher anrufen sollen. Hester hatte wohl keine Vorlesung und schien auch nicht in ihrem Zimmer zu sein, denn auf sein Klopfen öffnete niemand. Philip wandte sich enttäuscht ab, als eine junge Frau ihn auf der Treppe ansprach. „Sie wollten zu Hester Argyle? Die haben Sie knapp verpasst; sie ist eben in Richtung Café gegangen.“  

Philip merkte, wie sein Herz klopfte, als er sich dem Café näherte. Er hatte damit gerechnet allein mit ihr reden zu können. Verdammt, er fühlte sich wie ein Schuljunge mit seiner ersten Liebe und nicht wie ein Professor! Gleichzeitig war er froh, dass er wusste, dass er so fühlen konnte. Er öffnete die Tür und trat ein. Das Café war recht voll und es dauerte eine Weile, bis er sie an einem Tischchen am anderen Ende des Raumes entdeckte.  

 

Es war immer schwierig in dem Gewühl einen freien Tisch zu ergattern, aber Steven wartete bereits auf Ella und Hester. Er hatte wie immer ein freundliches Lächeln für Hester, aber als er Ella anschaute, wurde Hester wieder bewusst, wie sehr sie sich nach so einer Liebe sehnte.  Kurze Zeit später stellte die Bedienung Tee und Scones vor sie hin und Hester schaute ihre Freundin erwartungsvoll an. „Du hast vollkommen Recht gehabt,“ strahlte Ella. „Ich wollte dir etwas Wichtiges sagen. Steven, magst du…?“ 

„Ella und ich werden heiraten und zwar schon bald. Wir sehen keinen Grund länger zu warten, denn wir sind uns sicher…“ Er schaute Ella zärtlich an und fuhr dann, an Hester gewandt, fort. „Hester, wir wollten dich fragen, ob du unsere Trauzeugin sein möchtest.“ 

„Von ganzem Herzen,“ erwiderte Hester. „Ich freue mich so für euch.“ Sie hatte schon länger damit gerechnet und es war richtig. Gerührt blinzelte sie und fühlte, wie ihre Augen feucht wurden. „Nicht, dass ihr meint, ich breche in Tränen aus, weil ihr beide heiratet; ich freue mich so für euch.“ 

Ella schluckte; sie wusste, wie schwierig es für ihre Freundin sein musste, eine so glückliche Liebe zu sehen, wenn ihr dies selbst versagt blieb. Aber Hester war nie missgünstig gewesen und Ella wusste, dass sie sich wirklich von Herzen freute. Sie merkte, wie ihr selbst die Tränen in die Augen traten und stand schnell auf. „Ich bin gleich wieder da.“ Damit entfernte sie sich in Richtung Waschraum. Das hätte noch gefehlt, zwei heulende Frauen hier im Café!

Steven und Hester blieben zurück. „Habt ihr schon ein Datum festgesetzt?“ fragte Hester und Steven nickte. „Es wird nur eine kleine Feier, denn wir haben beide keine große Verwandtschaft. Meine Eltern leben beide nicht mehr. Der Termin ist in drei Monaten.“ Hester lächelte Steven an. „Ich meinte, was ich sagte. Ella könnte keinen besseren Mann bekommen als dich und ich weiß, ihr werdet glücklich.“ 

„Danke,“ lachte Steven und drückte ihre Hand.  Philip stand neben der Eingangstür und sah Hester den Mann, der ihr gegenübersaß, glücklich anlächeln. Er drückte ihre Hand und Philip wusste, er war zu spät gekommen; Hester hatte jemand anderen gefunden. Wie betäubt starrte er auf die beiden. Die Hester, die ihm gesagt hatte, dass sie ihn liebte, war nicht aus der Zukunft gewesen, sondern hatte ihm lediglich gezeigt, was hätte sein können, hatte nur seine Wunschträume abgebildet. Es war nicht möglich dies hier misszuverstehen und vielleicht hätte er es sich auch denken können. In der Realität gaben sich reiche Erbinnen nicht mit verkrüppelten Professoren ab. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Café. 

Ella kam aus dem Waschraum und ihr Blick streifte einen Mann, der in der Nähe des Eingangs stand. Er stand da, auf einen Stock gestützt, und schaute mit starrem Blick in den Raum hinein. Das war doch….Ella folgte seinem Blick und, richtig, er schaute in Richtung des Tisches, an dem Steven und Hester saßen. Doch er trat nicht näher, sondern wandte sich abrupt ab und verließ das Lokal.Als Ella an den Tisch zurückkehrte, sah Hester sofort an ihrem Gesichtsausdruck, dass irgendetwas nicht stimmte. „Sag mal, Hester, hast du den Mann gesehen, der gerade am Eingang stand?“ Als Hester den Kopf schüttelte, fuhr sie fort. „Du hattest mir doch vorhin das Bild gezeigt, aber ich bin nicht ganz sicher. Hat Philip dunkle wellige Haare und helle Augen und sagtest du nicht, dass sein Bein steif geblieben ist?“

Hester holte noch einmal das Bild aus ihrer Handtasche, während Steven die beiden etwas ratlos betrachtete. „Steven, ich erkläre dir das später,“ lächelte Ella und betrachtete das Foto, das Hester ihr reichte, eingehend. „Das war er, Hester, er war gerade hier und hat zu dir rübergeschaut. Er wollte bestimmt zu dir.“ 

„Und warum ist er dann gegangen? Du täuschst dich, Ella, das war er nicht.“ „Er ist gegangen,“ sagte Ella nach einer Weile triumphierend, „weil er, als er hier herübergeschaut hat, das gleiche gesehen hat wie ich – einen Mann und eine Frau, die sich anlächeln. Nur wusste er nicht, was es wirklich zu bedeuten hat. Hester, das war dein Philip, ich bin ganz sicher und er war eifersüchtig. Du hättest mal seinen Gesichtsausdruck sehen sollen. Ich hab mich zuerst gewundert, aber es ist eigentlich ganz klar.“

Hester war wie vom Donner gerührt. Ella hatte Recht; sie musste zu Philip. „Würdest du mich hinfahren, Steven?“ bat sie. 

„Ich weiß zwar immer noch nicht, worum es geht,“ antwortete Ellas Verlobter. „Aber ich fahre dich natürlich hin.“ 

Nur zwei Stunden später erreichten sie Philips Haus, doch auf Hesters Klingeln hin blieb alles ruhig. Vielleicht war er noch anderswo hingefahren. Was sollte sie tun? Wieder wegfahren, wieder riskieren, dass sie ihn nicht sah und dass ein Missverständnis wieder nicht geklärt wurde. Sie würde bleiben; im Garten gab es eine kleine Bank und sie hatte ihren Mantel an. Im Auto lag noch eine Decke….Ja, sie würde warten.

„Könnt ihr mir einen Gefallen tun?“ bat Hester Ella und Steven. „Ich würde gerne auf ihn warten; vielleicht könnt ihr…im Städtchen unten gibt es einen kleinen Landgasthof, und wenn ihr dort ….Ihr könntet mich abholen, bevor es dunkel wird. Das sind noch mindestens drei Stunden. Wenn er bis dahin nicht zurück ist….“ 

Kurze Zeit später fuhren Ella und Steven die Straße in das kleine Städtchen hinunter. Hester saß auf der Bank und hatte die Decke um sich geschlungen. Es war kein Winter mehr; der Frühling schickte schon seine ersten Boten aus und kleine blaue und gelbe Blumenköpfchen streckten sich aus der Erde. Die Luft war wunderbar und die Erde duftete, aber die sonne wärmte noch nicht richtig und allmählich merkte Hester, wie ihre Zehen kalt wurden. 

Ich kann nicht ins Haus zurück! Philip war niemand, der seine Frustration laut herausschrie. Matt hatte ihm mehr als einmal gesagt, dass er viel zu wenig über seine Gefühle redete, aber er konnte nicht über seinen Schatten springen. An der kleinen Schlucht in der Nähe des Hauses zu stehen und hinunterzuschauen auf den Wald und den kleinen Fluss, auf die Hecken und Wiesen, half ihm eher. Wenn er diese Dinge sah, wurde ihm wieder bewusst, was er hatte und wie dankbar er sein konnte. Noch vor wenigen Monaten war er ein Mann gewesen, der im Rollstuhl saß und sich langsam aber sicher zu Tode zu trinken drohte. Philip atmete tief durch. Es wurde jetzt wirklich Zeit, dass er sich von den Träumen verabschiedete; er würde den Gedichtband verbrennen. Noch eine halbe Stunde, dann würde die Sonne untergehen; Philip machte sich auf den Weg nach Hause. 

Es hatte wohl keinen Zweck mehr. Philip schien nicht zu kommen oder vielleicht hatte Ella sich doch getäuscht; aber sie war so sicher gewesen. Sie stand auf und ging den kleinen gewundenen Gartenweg nach vorne. Wahrscheinlich würden Steve und Ella bald kommen. Da, sie hörte Autogeräusch, da waren sie schon. – Nein, das war Philips Auto, er war zurückgekommen.  

Hester? Was wollte Hester hier? Sie hatte eine Decke um sich geschlungen und musste wohl schon eine Weile warten; er sah auch kein Auto… Philip stellte den Motor ab und stieg aus dem Wagen, während Hester näher kam. Er sah sofort, dass sie vor Kälte zitterte. „Komm schnell ins Haus,“ sagte er und schloss die Tür auf.  Er führte sie in das kleine Wohnzimmer und legte ein paar Scheite in den Kamin, während sie sich auf das Sofa setzte.

Bis jetzt hatte sie noch kein Wort gesprochen. Die Flammen flackerten auf, aber es würde noch eine Weile dauern, bis es warm würde. Hester hatte die Decke immer noch um und hatte auch ihren Mantel noch nicht ausgezogen, aber langsam kehrte die Farbe wieder in ihr Gesicht zurück. Philip legte noch einen Scheit auf und drehte sich dann wieder zu Hester um.  Völlig ohne Einleitung fragte sie, „Warst du das heute Nachmittag im Café?“ 

„Ja, das war ich,“ sagte er langsam. „Aber ich hätte wohl gestört. Ich darf wohl gratulieren, oder?“ 

Ella hatte Recht gehabt! Er war eifersüchtig! Philips Lippen waren zusammengepresst und seine Stimme tonlos. Hester schaute Philip unverwandt an und fuhr fort, „Du könntest gratulieren, wenn du die Braut kennen würdest, meine beste Freundin Ella.“ 

Mehrere Sekunden vergingen, bis Philip begriff, nicht Hester, sondern ihre Freundin… Er schluckte. „Du bist nicht… du hast keinen…Freund?“ 

„Nein, ich habe keinen Freund…“ 

„Hester,“ sagte Philip heiser und kam näher. Sie stand langsam auf und ließ die Decke achtlos auf den Boden gleiten. Dann stand er vor ihr und schaute sie an, schaute ihr in die Augen. „Willst du nicht…?“ Doch bevor er aussprechen konnte, fing sie an ihren Mantel aufzuknöpfen; auch er fiel auf den Boden. „Philip!“ Tränen waren in Hesters Augen und liefen ihre Wangen hinunter; Philip wischte sie zärtlich mit den Fingerspitzen weg.

Er umfasste sie und atmete den Duft ihrer Haare ein. „Hester, du weißt nicht, wie ich mich danach gesehnt habe dich in meinem Armen zu halten. Ich hatte dir einen Brief geschrieben, den du aber nie bekommen hast. Ich wollte dich treffen und dachte, du wolltest mich nicht sehen. …Hester!.... Du bist immer noch eiskalt,“ flüsterte er, als er sie umfing.  „Dann wärme mich, Philip, wärme mich.“ Er küsste sie und fühlte ihre Lippen, diesmal keine Erscheinung aus der Zukunft, keine Möglichkeit, sondern Wirklichkeit, die er nicht mehr loslassen würde. Die beiden hörten nicht das Geräusch eines Autos, das vorfuhr, eine Weile wartete und sich dann wieder entfernte und es wäre ihnen auch wohl gleichgültig gewesen, dass Steven und Ella sie im hell erleuchteten Wohnzimmer eng umschlungen stehen sahen. Sie waren in ihrer eigenen Welt angelangt. Es schien wie eine Ewigkeit und doch zu kurz, als sich Hester und Philip voneinander lösten. Er schaute ihr in die Augen und wusste, er wollte keine Zeit mehr verlieren. 

„Heirate mich, Hester,“ flüsterte er und sie nickte und küsste ihn. Worte waren unnötig. 

 




Ende
Marianne ist Autor von 4 anderen Geschichten.



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