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John stand in seinem Wohnzimmer, das inzwischen halb ausgeräumt war. Einen Teil der Möbel und den alten Teppich hatte er schon auf eine Deponie gefahren, einen anderen Teil in andere Räume gestellt. Sein schneller Entschluss hatte ihn selbst überrascht. Vielleicht hatte alles mit der Ablehnung von Carols Heiratsantrag zu tun. Er hatte gemerkt, dass er selbst seinem Leben eine Wendung geben wollte und vielleicht auch konnte. Er würde mit Sicherheit nie das Geld haben in eins der Länder zu reisen, über die er so gerne las, aber er konnte sich sein Zuhause so gestalten, wie er wollte. In einem der Bücher hatte er ein Haus gesehen, das ihm gefallen hatte. Es hatte ihn irgendwie zufrieden gemacht; vielleicht würde er sich das Buch noch einmal ausleihen. Den alten Sessel würde er aufpolstern lassen. Es war das einzige Möbelstück, mit dem John Erinnerungen verband; als kleiner Junge hatte er bei seinem Großvater manchmal auf dem Schoß gesessen und der hatte ihm Geschichten erzählt, nicht oft, aber genug, um es in Erinnerung zu behalten. John schaute sich nochmals um; die anderen Sachen wollte er nicht mehr. Er würde die kleine Truhe, die er geschreinert hatte, hineinstellen und den Holzboden abschleifen. Die Tapete war alt und vergilbt, an einigen Stellen abgerissen; er würde eine neue brauchen.  Es klingelte an der Tür und John öffnete. Vor ihm stand eine unbekannte junge Frau. „Hallo, entschuldigen Sie die Störung. Sind Sie John Standring?“ John nickte überrascht, da fuhr die junge Frau schon fort. „Mein Name ist Maike Berger; ich wohne mit Sally Wakefield zusammen und…. Ich weiß, das klingt jetzt etwas wirr, aber Sally ist vor über drei Stunden zum Joggen gegangen und immer noch nicht zurück. Ich kenne hier noch fast niemanden im Ort und Sally hat Ihren Namen erwähnt und dass Sie ihr schon einmal geholfen haben….Vielleicht täusche ich mich ja auch und sie läuft heute einfach länger, aber…“ Sie zögerte. „Ich komme mit,“ sagte John, holte kurz seine Schlüssel und zog die Tür hinter sich zu. Zusammen machten sie sich auf den Weg in Richtung Wald. Verstohlen betrachtete Maike den großen Mann. Sie hatte ihn offensichtlich bei der Arbeit gestört. Er trug eine alte verbeulte und fleckige Cordhose, ein grünes Hemd schaute aus einem Pullover von undefinierbarer Farbe heraus. Seine brauen Haare waren lockig und sehr dick. Er war breit, aber nicht dick, soweit man das bei diesen unförmigen Klamotten beurteilen konnte und  etwa Ende Zwanzig. Seine Stimme war sehr angenehm gewesen.  An der ersten Gabelung im Wald blieb John stehen und überlegte. „Die meisten Leute, die sich noch nicht so gut hier auskennen, nehmen den Weg da links hoch. Da kann man sich eigentlich kaum verlaufen. Wahrscheinlich hat Sally den genommen.“ Zusammen mit Maike ging er den Weg zügig weiter, aber auch etwa fünfzehn Minuten später war weder etwas zu sehen noch zu hören. Auf einmal stutzte John und fing an zu rennen und Maike sah auch schon, warum.  Gestützt auf einen dicken Ast kam ihnen Sally entgegengehumpelt, die erleichtert innehielt, als sie John und Maike bemerkte und sich dann an den Wegesrand auf einen Baumstumpf setzte.  „Als du nach so langer Zeit noch nicht wieder da warst, habe ich mir Sorgen gemacht. Du hast beim Frühstück Mr. Standring erwähnt, also hab ich ihn gefragt ob er mir suchen hilft,“ erklärte Maike. „Ich bin gestürzt und habe mir eine Sehne gerissen,“ sagte Sally mit zusammengebissenen Zähnen. „Es tut höllisch weh.“ John sah auf ihren Knöchel, der dick angeschwollen war. „Ich werde mein Auto holen. Den kleinen Weg hier hoch komme ich mit dem Wagen allerdings nicht. Ich muss Sie da …runtertragen.“ John fühlte, wie ihm eine leichte Röte ins Gesicht stieg. „Wenn Sie wollen, kann ich den Krankenwagen rufen; die Sanitäter können Sie auch runterbringen.“ Sally sah John dankbar an. „Wirklich, das ist echt nett und die Sanitäter brauchen wir nicht und… wenn Sie möchten… Sie scheinen mein Retter vom Dienst zu sein. Vielleicht…“ Sie streckte ihm die Hand hin. „Ich heiße Sally.“ John zögerte kurz, dann ergriff er vorischtig ihre Hand. „John. – Jetzt müssen wir aber los. Fertig?“ Mühelos hob er sie hoch und trug sie den Berg herunter. Es war ein ganz seltsames Gefühl so nahe bei ihm zu sein. Sie fühlte seinen Herzschlag und … irgendwie roch er gut. Und was sie noch bemerkte: Dieser große, etwas unbeholfen wirkende Mann hatte wirklich schöne Hände. Bei einem Mann seiner Größe und seines Berufes hatte sie grobe Hände erwartet, aber er hatte schöne schlanke Finger. <i>Sally, du bist nicht ganz dicht</i> schalt sie sich selbst. <i>Du hast wahrscheinlich einen Bänderriss und jetzt denkst du über John Standrings Hände nach.</i> ~~~ Drei Stunden später saß Sally bei einer Tasse Tee in ihrem Zimmer. John hatte sie an der Waldgabelung abgesetzt und sein Auto geholt und sie dann zum Arzt gefahren. Es war, wie sie befürchtet hatte; eine Sehne war gerissen. Jetzt saß sie da mit einem Verband und einer Schiene und sollte das Bein ruhig stellen. Ruhig stellen! Sie <i>konnte</i> das Bein nicht ruhig stellen. Wenn sie am Montag nicht zur Arbeit erschien, konnte sie ihrem Job genauso gut Lebewohl sagen. Aber wie sollte sie dahin kommen? So konnte sie kein Auto fahren, Fiona konnte sie nicht mitnehmen, da sie völlig andere Bürozeiten hatte als Sally, und Maike hatte kein Auto. John konnte sie auch nicht fragen, denn der musste als Knecht immer sehr früh anfangen. Na großartig!  Zu allem Überfluss hatte euch noch ihre Mutter angerufen. <i>Ja, es ging ihr gut, ja, die Arbeit war befriedigend und ja, sie hatte nette Leute kennen gelernt.</i> Sally hatte sich gehütet, ihrer Mutter von dem Unfall zu erzählen; die Reaktion konnte sie sich gut vorstellen. Mia Wakefield war von vornherein dagegen gewesen, dass ihre Tochter diese Stelle hier annahm. Aber war ihre Mutter jemals mit etwas einverstanden gewesen, was Sally vorhatte? Sallys Eltern und ihr älterer Bruder Ethan waren alle drei Ingenieure und leiteten zusammen die kleine, aber in Fachkreisen renommierte Firma Wakefield  & Son in London. Von klein auf wusste Sally, dass auch von ihr erwartet wurde, einmal in die Firma einzutreten, doch es stellte sich schnell heraus, dass sie weder Talent für Technik noch Interesse daran hatte. Sie hatte immer gerne gemalt und gerne gelesen. Wäre Sally künstlerisch ein Genie oder wenigstens weit über Durchschnitt begabt gewesen, hätte ihre Mutter dies vielleicht noch akzeptiert, aber so war Sally einfach die <i>normal</i> begabte Tochter gewesen und Sally hatte lernen müssen, dass  es ein Vergehen war, durchschnittlich zu sein. Für ihre Eltern war die Firma das einzig wichtige auf der Welt, nein, das war falsch formuliert, die Firma <i>war</i> die Welt; nachdem Sally sich entschieden hatte kein Teil dieser Welt zu sein, war sie irgendwie unwichtig geworden. Sie wusste, dass dies von Seiten ihrer Eltern noch nicht einmal böswillig war. Wahrscheinlich, dachte Sally grinsend, fehlte irgendetwas in ihrem Gehirn, das den Rest der Welt wahrnahm. Ethan war zum Glück etwas anders -  noch, wie er nach zwanzig Jahren in der Firma sein würde, wollte Sally sich lieber nicht vorstellen. Wenn sie jedoch eine Sache von ihren Eltern geerbt hatte, so war es eine gewisse Sturheit. Sie war anders und wollte anders sein. Widerwillig hatte Mia Wakefield zur Kenntnis genommen, dass ihre Tochter „nur“ Bibliothekarin wurde. <i>Dann lass mich wenigstens ein paar Freunde anrufen, Kind, die dir eine gute Stelle in einer renommierten Bücherei besorgen könnten. Du hast es nicht nötig, in so einer Kleinstadtbibliothek anzufangen..“</i> Sally erinnerte sich noch gut an das Gespräch. Ihre Mutter hatte nicht verstanden, dass sie die Stelle nicht durch Beziehungen bekommen wollte. <i>Du bist alt genug, du musst wissen was du tust. Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.</i> hatte Sallys Mutter irgendwann gesagt. Beim Umzug hatte Ethan ihr geholfen; ihre Eltern waren zu der Zeit auf einer Geschäftsreise.  Wenn sie ihrer Mutter von dem Unfall erzählt hätte, hätte diese wahrscheinlich versucht sie zur Heimkehr zu überreden. Es war wirklich besser, dass sie nichts wusste. In dem Augenblick klopfte es an der Tür; Fiona kam herein und setzte sich neben Sally. „Mensch Sally, ich hab grad gehört, was dir passiert ist. So ein Mist. Tut’s sehr weh?“  „Im Moment nicht, aber darum mache ich mir nicht so die Sorgen. Ich muss am Montag zur Arbeit, sonst bin ich den Job los.“ Fiona überlegte. „Das kriegen wir schon hin. Verlass dich mal auf mich.“   




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