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Nachdem er Sally in ihrer Wohnung abgesetzt hatte, war John nach Hause zurückgekehrt. Im Bad wusch er sich das Gesicht mit kaltem Wasser ab, um  wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Noch immer spürte er, wie es gewesen war, Sally auf den Armen zu halten. Wie wäre es gewesen, sie wirklich zu halten und nicht nur, weil sie verletzt war? Außer Carol hatte er nie ein Mädchen im Arm gehabt, und an sie dachte er nur voller Scham zurück. John schaute hoch in den Spiegel: Wer wollte schon einen Kerl wie ihn? Besser war es keinen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, besser, sich an die Arbeit zu machen; das würde ihn ablenken. Entschlossen ging er daran die restlichen Möbel auszuräumen. 

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Es war wirklich unglaublich gewesen, wie Fiona einen kleinen Fahrdienst für Sally organisiert hatte, sie war hier geboren und kannte viele Leute. Die Nachbarn von nebenan hatten sich ebenfalls angeboten, Sally einmal mitzunehmen. Das war wirklich anders in einer Kleinstadt, die Leute kümmerten sich anscheinend umeinander. Alona Veysey hatte etwas säuerlich gelächelt, als Sally mit ihrer Schiene in die Bücherei kam und spitze Bemerkungen darüber gemacht, dass sie nun einen Teil von Sallys Arbeit mitmachen müsse, da diese ja nur eingeschränkt arbeitsfähig sei. Sally konnte nicht mehr einfach schnell aufstehen und für einen Kunden ein Buch raussuchen, sondern es dauerte alles seine Zeit. Den Büchereibesuchern machte es nicht viel aus. Sie kamen gerne einmal zu Sally herüber um eine kleines Schwätzchen zu halten. Alles in allem lief es wesentlich besser, als Sally gedacht hatte. John Standring hatte sie allerdings in dieser Woche noch nicht gesehen; irgendjemand hatte gesagt, dass er dabei sei sein Haus zu renovieren. Maike hatte ihr erzählt, dass er ohne zu zögern sofort mitgekommen war, obwohl er beschäftigt gewesen war. Wie konnte Alona Veysey nur so hässliche Witze über einen so netten Mann machen? Wer so jemanden wie John zum Freund hatte, konnte wirklich froh sein. Sally beschloss bei ihm vorbeizugehen und sich bei ihm zu bedanken; sie hatte schließlich zwei Krücken und es war ja nicht weit.  

 

John hatte die Farbschichten vom Boden im Wohnzimmer abgeschliffen. Zum Vorschein gekommen war ein wunderschöner Dielenboden, den er neu gewachst hatte. Auch einen Großteil der alten Tapete hatte er inzwischen abgerissen. Er war froh gewesen, jeden Tag nach der Arbeit eine Beschäftigung zu haben, die in voll in Anspruch nahm. Obwohl John sich wiederholt sagte, dass er sich überhaupt keine Hoffnung darauf machen brauchte, dass ein Mädchen wie Sally jemals an ihm interessiert sein würde, schob sich ihr Bild wieder und wieder in seine Gedanken. Auch jetzt, während er bei seinem Abendbrot saß, sah er ihre großen brauen Augen vor sich. Die Türklingel unterbrach seine Gedanken. Als er die Tür öffnete, stand Sally mit ihren Krücken vor ihm.  „Hallo John. …Darf ich reinkommen?“ fragte sie etwas unsicher, als John keine Anstalten machte sie zu begrüßen. „Natürlich! Entschuldigung,“ erwiderte John und half Sally die zwei Stufen hinauf. Dann ging er in die Küche voraus. „Hier ist im Moment alles durcheinander, ich renoviere,“ erklärte er. „Setz dich doch.“  Sally nahm vorsichtig Platz; und John setzte sich wieder hin, nachdem er hastig sein Essen weggeräumt hatte. Sally holte ein kleines Päckchen aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch. „Ich wollte mich bedanken und dachte, du würdest dich vielleicht darüber freuen.“ John schaute Sally überrascht an – ein Geschenk? Als er das Geschenkpapier vorsichtig löste, kam eine Reisebeschreibung über Norwegen zum Vorschein aus der Serie, die er gerne las.  „Ich hab auf deiner Büchereikarte nachgeschaut. Die anderen hattest du ja schon fast alle ausgeliehen und ich dachte… Gefällt es dir nicht?“ fragte sie verunsichert, als sie Johns verdattertes Gesicht sah. „Doch, natürlich!“ protestierte John und lächelte verlegen. „Du hättest nur nicht…Das hätte jeder gemacht und ich habe keine Belohnung oder so dafür erwartet.“ „Das hab ich auch nicht so gemeint. Ich wollte dir einfach eine Freude machen und…“ Sie schluckte. „Ich fänd es schön, wenn wir Freunde sein könnten.“ Hatte sie einen Fehler gemacht? John schien von ihrem Vorschlag überhaupt nicht begeistert zu sein. Er war rot geworden und sagte nichts. „Ich, ich will mich nicht aufdrängen,.“ Sally biss ihre Unterlippe. Himmel, war das peinlich!. Sie stand auf. „Na jedenfalls vielen Dank noch mal.“ „Nein warte, Sally. …Ich….ich fänd das auch sehr schön.  -- Uhm, soll ich dir zeigen, was ich  diese Woche hier im Haus gemacht habe?“ Sally war überrascht. War dies Johns Art ihr zu zeigen, dass sie tatsächlich Freunde werden konnten? „Ja, John, sehr gerne.“ Sie humpelte auf ihren Krücken John hinterher. „Oh John, der Holzboden ist ja wunderschön! “ Dann verzog sie das Gesicht und grinste. „Gut, dass du die Tapete abreißt. Die ist ja wirklich grauenhaft.  

Als Sally später nach Hause zurückkehrte, konnte sie kaum glauben, wie lange sie sich noch mit John unterhalten hatte; sie war über eine Stunde bei ihm gewesen. Dieser Mann, der sonst nie den Mund aufbekam, konnte reden, wenn es um Holz und um Reisen ging. Wie konnte irgendjemand, der sich jemals richtig mit ihm unterhalten hatte, nur denken, er sei zurückgeblieben! Aber das war wohl das Problem, das passierte höchstwahrscheinlich selten. 

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John wusste, dass er einen Fehler gemacht hatte, als er Sallys Vorschlag Freunde zu werden akzeptiert hatte. Er hätte irgendeine Ausrede finden sollen; sie war ja schon fast gegangen, als er er nichts gesagt hatte. Was hatte ihn nur geritten? Oh, er wusste genau, was es war. Er wollte mehr als Freundschaft und tief im Innern hoffte er, dass sie ihn eines Tages anders anschauen würde als nur als einen ihrer Freunde, obwohl er genau wusste, und das würde nie geschehn. In den letzten Jahren hatte John sich damit abgefunden, dass er Junggeselle bleiben würde. Die Mädchen, denen es nichts ausmachte, mit jemandem wie ihm gesehen zu werden, wollte er nicht. John seufzte; vielleicht konnte er damit zufrieden sein, einfach nur ein Freund zu sein, denn sie war wirklich nett, ja das war es, nett,  Sallys Unfall hatte ihr mehr Bekannte gebracht als sie sich vorstellen konnte. Während man Zugezogenen gegenüber sonst immer eine Weile brauchte, bis man „auftaute“, hatten der Unfall und seine Folgen alles geändert. Natürlich kam hinzu, dass Fiona mit von der Partie war und sie überall mit hinnahm. Manchmal war dieser ganze Trubel für Sally auch zu viel und sie war froh, wenn sie John besuchen konnte. Sie verspürte so ein Gefühl der Ruhe, wenn sie bei ihm war. Er redete nie viel, aber er konnte gut zuhören und inzwischen war er ihr gegenüber auch etwas lockerer geworden. Er konnte wirklich wunderbar mit Holz arbeiten und hatte ihr eines Tages sogar seine kleine Werkstatt gezeigt; sie merkte allerdings, dass er lieber allein arbeitete und knuffte ihn freundschaftlich, während sie die Werkstatt verließ. „Männer und ihre Spielzeuge soll man besser allein lassen. Tschüss, John.“

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Endlich war die Schiene ab1 Es würde zwar noch eine Weile dauern, bis Sally das Bein wieder richtig belasten konnte und erst recht, bevor sie wieder laufen konnte, aber es war schon ein Riesenfortschritt gegenüber vorher. Sie konnte wieder Auto fahren und brauchte den „Fahrdienst“ nicht mehr. Als sie den Kofferraum öffnete, um ihre Einkäufe herauszuholen, hörte sie ein Auto hinter sich und kurz darauf eine Männerstimme. „Hallo, Schwesterchen. Ich dachte, ich komm dich mal besuchen.“ Sally blickte auf und sah ihren Bruder neben seinem Wagen stehen. „Ethan!“ Sie lief auf ihn zu und er nahm sie herzlich in den Arm und hob sie hoch. Ethan war etwa 1,95 groß und neben ihm kam sie sich wie eine Zwergin vor. „Oh, ich freu mich so, dass du mal kommst. Warum hast du nicht vorher angerufen? Komm, hilf mir grad die Einkäufe hochtragen und dann erzählen wir.“ Als Ethan die Tüten aus dem Auto holte, sah Sally John auf der gegenüberliegenden Seite der Straße. Stimmt, er hatte ja heute bei ihr vorbeikommen wollen. Doch John stand da und schaute nur, hob dann kurz seine Hand  und wandte sich zum Gehen. „John! Warte! Bleib hier!“ rief Sally über die Straße und zog ihren Bruder auch schon hinter sich her.  John blieb nichts anderes übrig als stehen zu bleiben. Offensichtlich war dieser Mann Sallys Freund, so wie sie ihn umarmt und geküsst hatte. Warum hatte sie nichts von ihm erzählt? „Ethan, das ist ein guter Freund von mir, John Standring. John, das ist mein Bruder Ethan. Ich wusste nicht, dass er kommt; er hat vorher nicht Bescheid gesagt. Können wir uns dann morgen treffen?“ John nickte, gab Ethan die Hand und verabschiedete sich dann hastig. Sally starrte ihm hinterher. Der Ausdruck in Johns Gesicht und in seinen Augen, als er ihren Bruder betrachtet hatte… zuerst verschlossen, dann überrascht und zuletzt hoffnungsvoll. In dem Augenblick wusste Sally, dass John weit mehr für sie empfand als nur Freundschaft.  

 






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