Als John Standring sich zum Gehen wandte, hörte er die Bibliothekarin Alona Vaysey leise kichern. Er tat so, als ob er nichts bemerkt habe, aber natürlich wusste er, dass sie Sally in aller Ausführlichkeit über den „Dorfdeppen“ informieren würde und Sally ihn bei seinem nächsten Besuch, wenn überhaupt, nur mitleidig anlächeln würde. Es tat immer noch weh, nach all den Jahren, obwohl er sich inzwischen daran gewöhnt haben müsste. Hastig verließ er die Bücherei. Sally sah, wie sich Johns Schultern kaum merklich versteiften und drehte sich zu Alona um.
„Was ist denn so witzig?“ fragte sie, der gereizte Ton in ihrer Stimme nicht zu überhören.
„Also ehrlich, Sally,“ antwortete Alona, noch immer kichernd. „Weißt du denn nicht, wer das war? Wenn du nicht vorsichtig bist, versucht er vielleicht das nächste Mal bei dir zu landen. Wie der dich angeschaut hat! Ausgerechnet John Standring! Ich weiß noch nicht einmal, ob der die Reisebeschreibungen überhaupt liest oder nur die Bilder anschaut.“ Enttäuscht wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu, als sie feststellte, dass Sally keine Anstalten machte sie über John Standring auszufragen. Sally war wütend. Nicht nur, dass es einfach gemein war, über diesen netten Mann, der niemandem etwas tat, herzuziehen, Alona hatte es auch noch in Gegenwart von drei anderen Büchereibesuchern gemacht und natürlich hatten die alles mitgehört. Sally war noch nicht lange in der kleinen Stadt und kannte den Mann nicht, aber sie würde sich lieber die Zunge abbeißen als die Klatschbase Alona nach Mr. Standring fragen.
John kehrte in sein Haus zurück und legte die neuen Bücher auf den Wohnzimmertisch. Als er vorhin das Haus verlassen hatte, hatte er sich gut gefühlt, befreit, anders. Aber es war wohl doch nichts anders, hier im Dorf würden ihn die Leute nie ernst nehmen. Auch das Gefühl von Freiheit war irgendwie dahin; vielleicht würde er es beim Lesen der Reisebeschreibungen wieder finden. John setzte sich in seinen Sessel und nahm eins der Bücher, aber nachdem er den gleichen Satz drei Mal gelesen hatte ohne den Inhalt richtig aufzunehmen, legte er sein Buch zur Seite. Das Bild von Sally tauchte vor seinen Augen auf. Sie war bestimmt anders als Carol, aber unerreichbar für ihn.
Als John sich in seinem Wohnzimmer umschaute, fiel ihm das erste Mal auf, wie schäbig alles war. Die Tapeten hatte sein Großvater vor etwa 25 Jahren angebracht und die Möbel waren noch älter. John hatte nie etwas geändert -- wozu auch? Er lebte allein und es sah sowieso niemand, wie es bei ihm aussah. Aber jetzt störte es ihn plötzlich; er würde es ändern.
~~~
Fiona klopfte kurz und steckte den Kopf in Sallys Zimmer. „Sally, kommst du heute Abend mit? Wir gehen mit ein paar Mädels noch einen trinken und wenn du auf Dauer hier im Ort bleiben willst, musst du einfach raus und ein bisschen unter die Leute. Dein Zimmer hast du ja eigentlich eingerichtet und alles ausgepackt.“ Sally zögerte kurz, nickte dann aber. Eigentlich war sie soweit mit ihrem Zimmer. Sie hatte in einem kleinen gemieteten Lieferwagen ihre Möbel mitgebracht und ihr Bruder und ein Freund hatten alles hoch getragen. Inzwischen lag ein warmer Teppich auf den Dielen, Bilder, größtenteils selbst gemalte Aquarelle, hingen an den Wänden, und Blumen standen im Fenster und auf den Regalen. Die Vorhänge hatte sie wirklich gut ausgesucht, es war ein helles Grün, ein gute-Laune-Grün.. Auf der Schlafcouch türmten sich weiche Kissen in hellen Farben.
Als Sally sich in der kleinen Stadt um die Aushilfsstelle in der Bücherei beworben hatte, war ihr klar, dass sie würde umziehen müssen. Sie hatte die Stelle bekommen, jedoch von Anfang an gemerkt, dass sie mit Alona Veysey zwar zusammenarbeiten konnte, was das Fachliche betraf, dass sie aber ansonsten wie Feuer und Wasser waren. So war sie froh, dass sie vorerst nur ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft gemietet hatte, zumal dies ihre erste Stelle war und sie nicht viele Ersparnisse hatte.
Die anderen beiden jungen Frauen waren nett. Fiona war von zu Hause ausgezogen, weil sie es bei ihren Eltern, die jeden Schritt kontrollierten, obwohl sie schon 22 war, nicht mehr aushielt und Maike war eine deutsche Studentin, die ein einjähriges Auslandspraktikum machte. In dieser Hinsicht hätte es Sally kaum besser treffen können. Fiona hatte anscheinend recht gehabt; dies war wohl die einzige vernünftige Kneipe im Ort und anscheinend traf sich der halbe Ort dort, jedenfalls war ziemlich überfüllt. Schnell war Sally von ihren neuen Freundinnen getrennt, aber es machte ihr nichts aus. Sie hatte nicht vor, wie eine Klette an ihnen hängen zu bleiben und sie wollte sich sowieso erst einmal umschaun. Die Musik hier gefiel ihr. Aber zuerst brauchte sie etwas zu trinken. Suchend schaute Sally sich nach einem freien Platz um – da, an der Theke, war noch ein Barhocker frei. Sie setzte sich und bestellte ein Ale, mhm, tat das gut. Dann drehte sie sich herum und beobachtete die Leute. Sie blieb weitgehend unbeachtet, sie war nie jemand gewesen, der Blicke auf sich zog. Wenn sie sich hätte beschreiben sollen, hätte sie gesagt „normal aussehend “. Sie hatte glatte lange Haare, die glatt blieben, egal, was sie mit ihnen versuchte. Ihre Augen waren braun, einfach braun. Sie war 1,70 groß und recht schlank. Am wohlsten fühlte sie sich in Jeans und Sweatshirt. Am anderen Ende der Theke entdeckte sie John Standring. Sie lächelte ihn freundlich an, aber er blinzelte nur mehrmals und schaute dann verlegen in sein Bier.
Sally traf noch einige Leute wieder, die sie schon öfter in der Bücherei gesehen hatte und fand schnell Anschluss. Ja, sie würde wiederkommen, aber es war dann doch genug für heute. Sally bezahlte und machte sich auf den Weg zum Ausgang. Sie hatte Mühe sich einen Weg durch die Leute zu bahnen. „Lässt du mich grad durch?“ fragte sie einen jungen Mann, der die Tür fast versperrte. Er rückte ein bisschen zur Seite, aber nur so viel, dass sie ganz dicht an ihm vorbeimusste und ihn streifte, als sie die Kneipe verlassen wollte. „Mhm, blleib ma hier, füühlst dich guuut an,“ nuschelte der Betrunkene und fasste sie am Arm. Sally versuchte ihn weg zu schieben, aber der Griff wurde fester. Während Sally noch versuchte den Griff des Mannes zu lösen, hörte sie eine dunkle Stimme, die sie inzwischen kannte. „Ich glaube, du lässt das Mädchen besser in Ruhe.“ „Is ja schon guut, John,“ sagte der junge Mann und wandte sich wieder in Richtung Bar, er brauchte Nachschub. „Danke, Mr. Standring,“ sagte Sally. Für einen kurzen Moment kam das nette Lächeln in sein Gesicht, das sie schon kannte, dann schaute er wieder weg. Du meine Güte, hab ich jemals einen so schüchternen Mann gesehn? Wenn er lächelt, sieht er total nett aus. Der Pullover ist allerdings der schrecklichste, den ich je in meinem Leben gesehen habe. Das war sehr nett, nochmals vielen Dank,“ wiederholte Sally und verließ das Lokal.