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Freitag, 30. November. Der neue Jockey Tom Leung, Ersatz für den vor knapp einer Woche beim Rennen ums Leben gekommenen Alexi Travkin, nahm seine Arbeit auf. Ian Dunross verbrachte den halben Vormittag deswegen auf der Rennbahn. Noble Star war sichtlich nervös, der Rassehengst war seit dem Tag des Unglücks mit Travkin nicht mehr richtig gearbeitet worden. Mehr als einmal war Dunross selbst versucht, sich in den Sattel zu schwingen. Er unterließ es dann aber tunlichst, er hatte nicht die körperlichen Voraussetzungen eines Renn-Jockeys, er war viel zu langbeinig und groß gewachsen für diesen Job. Aber er nahm sich bei dieser Gelegenheit vor, demnächst einmal wieder einen ordentlichen Ausritt zu absolvieren, vielleicht mit dem zwar temperamentvollen, aber umgänglichen Warmblutwallach Principal, eines von vielen anderen Pferden in den Stallungen des Noble House. Die New Territories waren zum Ausreiten ideal, ein Stück Richtung chinesische Grenze, viel freie Flächen, Agrarland, das bot sich dafür an.

Im Büro instruierte Ian Dunross dann Claudia über die Angelegenheit mit Orlanda Ramos. Claudia wurde beauftragt, sich mit Orlanda in Verbindung zu setzen, ihr ein Flugticket für den übernächsten Tag zu besorgen, ihr mit allen Vorbereitungen behilflich zu sein und außerdem Phillip Chen zur Fälscherbande nach Aberdeen zu schicken, damit dieser die so dringend benötigte Heiratsurkunde herschaffte. Claudia hatte als langjährige Sekretärin von mittlerweile drei Tai Pans mehr als genug gehört und gesehen. Sie wunderte sich so schnell über nichts mehr. Außerdem war man in China, und da tickten die Uhren sowieso ein bisschen anders. Ian Dunross konnte davon ausgehen, dass alles zu seiner Zufriedenheit erledigt und mit absoluter Diskretion gehandhabt wurde.

Phillip Chen kam am frühen Abend mit einem Umschlag zu ihm ins Büro: „Guten Abend Tai Pan, ich komme direkt von Fu-Chang, es war nicht leicht, ihn zu überzeugen, dass ich in Ihrem Auftrag komme um die Urkunde abzuholen, aber letztendlich hat er doch klein beigegeben. Mangelnde Loyalität kann man ihm nicht gerade unterstellen.“

„Das ist schön, danke Phillip. Wir haben nicht mehr viel Zeit, Orlanda wird übermorgen bereits fliegen, sie möchte rechtzeitig zu Lincs Beerdigung in Kalifornien sein.“

„Da hat sie sich aber ziemlich rasch entscheiden müssen, wie mir scheint. Fliegen Sie auch, Tai Pan?“

„Nein, ich kann hier nicht weg. Das Ganze wird auch ohne mich über die Bühne gehen, glauben Sie mir.“

„Nun ja, ich dachte nur wegen – Miss Tcholok vielleicht…“ Der Ex-Komprador des Noble House kam nicht dazu, den Satz zu vollenden, denn ein sehr scharfer Blick des Tai Pan hinderte ihn daran.

„Phillip, ich möchte Sie darauf hinweisen, dass derart persönliche Dinge hier absolut nichts zu suchen haben, das müssten gerade Sie doch wissen. Was auch immer Sie glauben zu wissen oder gesehen oder gehört zu haben, behalten Sie es bitte für sich.“

Ian Dunross hatte einen schneidenden Ton drauf und seine grünen Augen waren zu Schlitzen verengt, die förmlich Blitze zu schleudern schienen. Er nahm Chen das Papier aus der Hand und öffnete ruhig den Umschlag. Er zog die Urkunde heraus und nahm sie prüfend in Augenschein.

Dann, nach etwa einer Minute, sagt er in einem sehr freundlichen und einladenden Ton, geradeso als hätte zuvor kein Gewitter in der Luft gelegen: „Schauen Sie es sich mal an, ich glaube, es ist eine hervorragende Arbeit.“ Und mit diesen Worten schob er das Papier über den Schreibtisch zu Phillip Chen.

Dieser betrachtete es eingehend, nickte dann anerkennend und meinte: „Ja, das finde ich auch. Ich kann nichts daran aussetzen. Wir sind damit ganz bestimmt auf der sicheren Seite.“

Ian Dunross nahm die Urkunde wieder an sich, steckte sie in den Umschlag zurück und ging damit an den Safe. Dort schloss er die Papiere ein: „Das will ich hoffen. Allein schon wegen Orlanda. Sie hat viel mitgemacht.“ Er entließ Phillip mit ein paar abschließenden Worten.

Jedes Mal, wenn Ian Struan Dunross den Drang verspürte, in Los Angeles anzurufen, war es für ihn ein großes Ärgernis, dass die Welt so groß und rund war und somit in verschiedene Zeitzonen eingeteilt. Meist hatte er Nachmittags mal fünf Minuten Luft und hätte sich ein solches Gespräch gewünscht, nur kurz versteht sich, nicht so ausdauernd lange wie die beiden, die er in den letzten Tagen spätabends mit ihr geführt hatte. Aber es barg eben auch genau diese Gefahr, nämlich dass er nicht strikt die fünf oder zehn Minuten einhalten konnte. So war es eigentlich ganz gut, dass es zu den Telefonaten nicht kam. Er nahm sich aber vor, sie heute Abend spätestens gegen halb elf anzurufen, damit sie wenigstens heute pünktlich zur Arbeit kam. Obwohl – sie konnte als Präsidentin von Par-Con Industries ins Büro kommen, wann es ihr beliebte. Aber man ging ja gerne mit gutem Beispiel voran, was auch stets seine Maxime war.

Das 'Shangri La Hotel' in Kowloon, darin das Restaurant 'Shang Palace'

Er hatte Paul Choy zum Essen eingeladen, beide nahmen im Shang Palace Restaurant des Hotels Shangri La in Kowloon Platz. Es war ein recht unterhaltsamer Abend, Ian Dunross stellte fest, dass Paul Choy ein überaus intelligenter junger Mann war, der den Bogen sehr schnell raus haben dürfte, was die Geschäfte der Hochfinanz in Hongkong anlangt. Sein Vater, der mittlerweile beigesetzt war, hatte ihm zwar sehr viel Geld hinterlassen, mit dem Paul allerdings nichts anfangen mochte, da es durch illegale Opiumgeschäfte erworben war. Er hätte nicht arbeiten müssen, aber er wollte es, und er wollte es bei Struans. Das imponierte dem Tai Pan. Sie redeten eine Weile über den Verantwortungsbereich, der Paul übertragen worden war, nämlich die Übernahme von H.K. General Stores. Die anderen Direktoren, wie Dunston Barre, die dem unerfahrenen Paul noch zur Seite standen, hatten sich überwiegend positiv geäußert. Seine mangelnde Kenntnis in einigen Bereichen machte er durch schnelle Auffassungsgabe und aufmerksames Beobachten wieder wett. Er lernte rasch, saugte alles fast wie ein Schwamm auf. Paul hatte die Opiumflotte seines Vaters dessen alt gedientem Kapitän Goodweather Poon überlassen. Er wollte mit diesen Dingen nichts mehr zu tun haben.

Ian Dunross lehnte sich zufrieden im Stuhl zurück und blickte auf die Uhr. Wenn er mit Casey telefonieren wollte, dann musste er langsam los. Er verabschiedete sich von Paul Choy, schwang sich elegant hinter das Steuer des Mercedes 560 SEC und fuhr mit der für ihn typischen hohen Geschwindigkeit, die aber immer kontrollierbar war, durch den Harbour Tunnel zurück nach Hongkong Island, raste die Peak Road hinauf und bremste vehement in der Auffahrt zum Haus. Die Uhr zeigte 22.26 Uhr. Mit ausladenden Schritten ging er auf seinen Schreibtisch zu, nahm sofort das Telefon zur Hand und wollte gerade abheben und wählen, als es klingelte. So unerwartet, dass Ian Dunross fast zusammenzuckte.

Er nahm ab: „Hallo?“

„Ich dachte, ich rufe heute zur Abwechslung mal wieder an. Wie schön, dass ich dich diesmal gleich erwische!“

„Du hast Glück, ich bin noch keine zwei Minuten im Haus. Und gerade eben wollte ich dich anrufen.“

„Hast du wieder so lange gearbeitet?“

„Nein, nicht direkt. Ich hatte aber ein Geschäftsessen mit Paul Choy. Es war ein recht interessanter Abend.“

„Paul Choy? Ist das nicht der junge Mann, dessen Vater auch in Rose Court umgekommen ist?“

„Genau der. Er arbeitet jetzt für Struans.“

„Oh, wie kommt das?“

„Ähm, ich schuldete ihm und seiner Familie einen Gefallen, außerdem bringt er gute Voraussetzungen für unser Geschäft mit.“

„Also die chinesische Art, dass alte Freunde alten Freunden helfen müssen?“

„Ja, so ungefähr.“

„Ob ich das jemals verstehen werde?“

„Wenn du erst einmal lange genug hier lebst, sicherlich.“

„Ian, war das eine Einladung?“

„Natürlich. Warte Casey, ich möchte erst ein paar andere Dinge mit dir besprechen, bevor wir uns dem privaten Teil des Gesprächs widmen. Geht das?“

“Klar, leg los!“

„Orlanda hat einen Flug übermorgen früh gebucht bekommen. Die Urkunde ist fertig, sie sieht täuschend echt aus, also ich würde keinerlei Verdacht schöpfen, wenn man sie mir vorlegen würde. Und Casey – wir beide sind als Trauzeugen aufgeführt. Wie du es dir gewünscht hast.“

„Du bist wirklich ganz wunderbar, hatte ich dir das schon mal gesagt?“

„Nein, noch nie!“ Er lachte leise ins Telefon. „Zurück zum Thema. Orlanda wird in den ersten Tagen und Wochen sicherlich eine direkte Ansprechperson brauchen. Ich bin mir nicht sicher, ob du das bei deiner vielen Arbeit schaffen wirst. Hast du eventuell einen anderen Vorschlag?“

„Hmh, ich hatte schon darüber nachgedacht. Ich denke nicht, dass Lincs bisherige Sekretärin die geeignete Person dafür wäre. Sie ist nicht so wie deine Claudia, weißt du, sie würde anstatt Orlanda zu helfen, wahrscheinlich nur mehr Verwirrung stiften. Angela war sehr auf Linc fixiert, wenn du verstehst was ich meine, aber er nicht auf sie. Ich werde eine gute Freundin von mir bitten, sich um Orlanda zu kümmern. Sie ist absolut vertrauenswürdig, aber natürlich weiß auch sie nicht, dass die Sache mit der Witwenschaft nur vorgetäuscht ist. Aber sie ist eine ganz zauberhafte Person und Orlanda und sie werden gut miteinander auskommen. Ihr Name ist Debbie.“

„Gut, ich wusste, dass du dich ebenfalls um derlei Dinge sorgen würdest und natürlich auch gleich Abhilfe schaffst. Danke.“

„Ich denke immer vorausschauend.“

„Ich weiß. Wolltest du mir vorhin nicht noch etwas anderes sagen?“

„Ich? Nein, ich wüsste nicht.“

„Ich meine mich zu erinnern, dass ich das Gespräch dann wieder schnell auf das eigentliche Thema zurückbringen musste, damit wir erst die arme Orlanda abhandeln konnten. Aber jetzt hätte ich ein offenes Ohr für das, was du mir darüber hinaus zu sagen hättest.“

„Ian!“

„Ja?“

„Forderst du mich heraus?“

„Das würde ich nie wagen, da zöge ich vermutlich den Kürzeren.“

„Du möchtest doch jetzt nicht etwa hören, dass du ganz wunderbar bist, oder?“

Er schwieg einen Moment, dann antwortete er: „Normalerweise beachte ich solche meist unaufrichtig gemeinten Komplimenten gar nicht, aber wenn du das sagst…“

Sie ließ ihn nicht ausreden: „Was ist, wenn ich das sage?“

„Es klingt so… so wundervoll aus deinem Mund.“

„Schön, dass es dir gefällt. Soll ich es noch einmal sagen?“

„Ich habe nichts dagegen.“

Ian Struan Dunross, du bist einfach wunderbar! Und ich vermisse dich!“

Er amtete tief durch: „Ich muss ehrlich gestehen, dass mir diese Telefongespräche so langsam nicht mehr genügen. Du bist erst knapp vier Tage weg, wie soll das die nächsten Wochen weitergehen? Das Allermerkwürdigste daran ist, dass mir die Trennung so schwer fällt, es überrascht mich selbst total. Casey, ich glaube… ich möchte… also ich denke, wir sollten ernsthaft über einen Weg nachdenken, der es uns erlaubt, unsere Beziehung dauerhaft zu festigen.“

Casey gab keine Antwort. Er reflektierte seinen letzten Satz und fand ihn – mal wieder – total an den eigentlichen Emotionen vorbei.

Endlich hörte er ihre Stimme: „Ian, was zur Hölle wolltest du mit diesen Worten eben ausdrücken? Es ist bei mir nicht so richtig angekommen.“

Er räusperte sich: „Ja, den Eindruck hatte ich auch, entschuldige. Casey, ich habe keinerlei Übung in diesen Dingen. Ich kann dir alle Börsenkurse von heute auswendig herunterrattern, jedenfalls was den Handel in Hongkong anlangt, aber ich schätze, ich bin nicht in der Lage, meine Gefühle korrekt wiederzugeben. Bist du mir böse?“

„Nein, natürlich nicht. Möchtest du es nicht noch einmal versuchen? Vielleicht mit ein wenig Hilfe von meiner Seite?“

„Gerne.“

„Du sagtest also, dass dir unsere Trennung sehr schwer fällt, richtig?“

„Ja, das stimmt, ich habe sogar gehörig daran zu knabbern, aber Casey, das ist genau das, was mich so unglaublich beunruhigt. Weil… weil ich so etwas einfach noch nicht erlebt habe. Es macht mich konfus, und das wiederum finde ich nicht gut, denn ein Tai Pan der konfus ist, ist einfach indiskutabel.“

„Deine Gefühle beeinflussen also deine Arbeit?“

„Ich versuche, es gar nicht erst soweit kommen zu lassen, aber es ist nicht einfach.“

„Aber jetzt, im Moment, da arbeitest du doch nicht.“

„Nun, eigentlich nicht, aber mir ist eingetrichtert worden, dass ein Tai Pan immer, in jeder Minute seines Lebens, für das Noble House tätig zu sein hat. Das bekommt man wohl nur schlecht wieder raus.“

„Ian, denke nicht an das Noble House. Nicht jetzt, okay?“

„Wieso wusste ich, dass du das nun sagen würdest?“

„Tja, wieso wohl?“

Casey, du bist auch ganz wunderbar.“

„Weiter, hör nicht auf, bitte.“

„Ich denke sehr oft an dich, zu oft, denn es lenkt mich manchmal schon von der Arbeit ab.“

„Und?“

„Ich möchte dich so schnell wie möglich wieder sehen, ich…, ich sehne mich nach dir.“

„Das hast du schön gesagt, wirklich. Schade, dass ich nun zur Arbeit muss…“

Er rief es fast durchs Telefon, konnte es selbst nicht glauben, dass er das tat: „Nein, warte noch, bitte! Ich… ich war noch nicht ganz fertig. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das am Telefon, ob ich es überhaupt sagen kann. Gib mir Zeit, ja?“

„Ian?“

„Ja?“

„Wie war das mit deiner Frau? Du hast nie viel davon erzählt.“

„Großer Gott, weil es einfach nichts zu erzählen gibt. Es war eine Ehe, die von vorneherein zum Scheitern verurteil war, wenn Penelope nicht überfahren worden wäre, hätten wir uns sicher über kurz oder lang scheiden lassen.“

„Gefühle?“

„Machst du Witze? Ich wusste damals wahrscheinlich nicht einmal, wie man dieses Wort buchstabiert.“

„Aber ihr habt doch… ich meine, ihr habt schon miteinander geschlafen, oder?“

„Casey!“

„Ich habe eine ganz normale Frage gestellt.“

„Natürlich haben wir das. Zumindest anfänglich.“

„Verstehe. Ich muss jetzt los, ich möchte nicht wieder zu spät kommen.“

Er knurrte in die Sprechmuschel: „Verdammte Zeitverschiebung.“

„Was hast du gesagt?“
“Nichts. Einen schönen Tag für dich.“

„Sonst noch etwas?“

„Nein… ja, warte! Ich möchte dir noch sagen, dass…, dass… mein Gott Casey, so hilf mir doch!“

Sie stieß einen kurzen, undeutlichen Laut aus: „Ian Dunross, du bist Tai Pan des Noble House und bringst es nicht fertig, mir über den pazifischen Ozean hinweg etwas Nettes, Gefühlvolles zu sagen? Armer Tai Pan! Du hast mir gesagt, dass du mich vermisst, du hast mir gesagt, dass du dich nach mir sehnst. Was kann da noch folgen? Welches Stichwort verlangst du von mir? Nein, auch wenn ich weiß, wie schwer dir das alles fällt, weil deine Erziehung sich keinen Deut um deine Gefühlswelt gekümmert hat, aber da musst du nun ganz alleine durch, du musst früher oder später über deinen eigenen Schatten springen. Mach’s gut Ian. Grüße bitte Orlanda von mir und sage ihr, dass ich mich auf sie freue!

„Casey, also gut…“ er hörte den Klick in der Leitung, sie hatte aufgelegt. Er ging miserabel gelaunt ins Bett.

 






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