Donnerstag, 29. November. Am nächsten Morgen begab er sich abermals zu dem zahnlosen Chinesen auf den schwimmenden Markt. Er hatte weitere Informationen für ihn dabei, außerdem wurde ihm ein Umschlag mit Geldscheinen überreicht. Für den nächsten, spätestens übernächsten Tag sollte die angeforderte Urkunde fertig sein. Zum Glück hatte er auf einigen Vorverträgen der letzten Woche die Unterschriften sowohl von Linc als auch von Casey gefunden. Orlandas Unterschrift hatte er einfach nachmachen lassen, die kannte bei Par-Con eh keiner. Seine eigene Unterschrift befand sich in dem Umschlag mit dem Geld. Für geschickte Fälscher war dies alles kein Problem.
Im Büro übertrug er Paul Choy die Hauptverantwortung für H.K. General Stores, diese Konzernerweiterung würde seine Bewährungsprobe werden. Dann rief Orlanda Ramos an: „Guten Tag Tai Pan, ich hatte versprochen mich zu melden.“
„Orlanda, schön Sie zu hören. Wie geht es Ihnen?“
„Ein klein wenig besser. Bitte, Tai Pan, wann wird die Beisetzung von Linc stattfinden, wissen Sie das schon?“
Nein, Casey hat darüber noch nichts verlauten lassen. Aber sie sagte, sie kümmert sich derzeit darum. Ich denke, sie wird es uns in Kürze wissen lassen.“
„Wahrscheinlich. Ich dachte nämlich allen Ernstes darüber nach, bereits dann schon nach Los Angeles zu fliegen, es würde ansonsten vielleicht komisch aussehen, wenn die Witwe nicht an der Beisetzung teilnehmen würde, finden Sie nicht?“
„Das halte ich für eine sehr gute Idee, Orlanda. Sie haben sich also entschlossen, das Spiel volles Risiko mitzugehen? Kann ich das Ihren Äußerungen entnehmen?“
„Ich habe intensiv darüber nachgedacht. Es geht mir nicht um die Ansprüche, die ich als falsche Witwe dort stellen kann. Es geht mir darum, dass ich mich – so merkwürdig das klingt – wirklich als seine Witwe fühle, mit allen Konsequenzen, Beerdigung eingeschlossen. Außerdem möchte ich sehen, wo er gelebt hat, wie er gelebt hat, und ich möchte das Land, das er so liebte, näher kennen lernen. Eröffnen sich mir dadurch weitere Perspektiven, umso besser. Es fällt mir zwar schwer, dies alles mit einer gefälschten Urkunde anzugehen, Sie wissen Tai Pan, dass bei mir alles immer korrekt zugehen muss, ich hasse Unehrlichkeit zutiefst, aber wenn es nicht anders geht…“
„Orlanda, ich bin froh, dass Sie das alles so sehen. Die Urkunde wird höchstwahrscheinlich morgen bereits fertig sein. Ich werde mit Casey sprechen und dann alles weitere veranlassen, wenn Ihnen das Recht ist.“
„Sicher Tai Pan. Und vielen Dank an Sie und auch an Casey.“
„Das war das Mindeste, was wir für Sie tun konnten. Machen Sie es gut, Orlanda“. Er legte auf.
Dann atmete er tief durch. Er würde Casey anrufen müssen, bald. Heute noch. Momentan allerdings war es dafür noch zu früh, es war zwar kurz nach fünfzehn Uhr am Nachmittag in Hongkong, aber in Kalifornien waren gerade erst alle ins Bett gegangen, ein klein wenig nach Mitternacht. Solche Gespräche musste er entweder am frühen Morgen erledigen, wenn es der Vorabend in Los Angeles war oder spätabends, wenn dort alle aufstanden und zur Arbeit gingen. Ian Dunross wählte die Hongkonger Nacht für das anstehende Gespräch.
Er kam sehr spät aus dem Büro. Claudia hatte wenigstens dafür gesorgt, dass ihm ein Dinner serviert wurde. Daher musste im Haus auf dem Peak zu später Stunde nichts mehr hergerichtet werden. Der Hausboy begrüßte den Hausherrn dementsprechend: „Guten Abend Tai Pan. Ihr Büro hat uns schon informiert, dass Sie bereits zu Abend gegessen haben. Darf ich Ihnen sonst noch irgendetwas bringen?“
„Guten Abend Lim-Chu. Ich muss noch ein längeres Telefongespräch führen, ich brauche nichts, danke… ah, doch – vielleicht wäre eine Tasse Tee ganz angebracht. Das wäre dann alles, Lim-Chu.“
Ian Dunross schaute auf die Uhr. Es war 22.40 Uhr. Er musste nicht rechnen, er wusste sofort, dass es in Los Angeles am gleichen Tag frühmorgens zwanzig vor acht war. Lim-Chu brachte den Tee, zog sich sofort wieder diskret zurück. Ian Dunross saß alleine in der riesigen Wohnlandschaft, hatte das silberne Teegeschirr und eine überaus kostbare Porzellantasse vor sich auf dem niedrigen Couchtisch stehen. Langsam griff er zum Telefon, zog es zu sich auf die Sitzpolster. Er wählte eine ziemlich lange Nummer, wenn er Glück hatte, erwischte er Casey noch zu Hause. Es läutete am anderen Ende.
„Hallo?“
„Hallo Casey, Ian hier.“
„Oh Ian, du hast Glück, gerade wollte ich mich auf den Weg ins Büro machen.“
„Habe ich mir fast gedacht, nur bin ich selbst erst vor einigen Minuten ins Haus gekommen, es war viel zu tun bei Struans.“
„Das glaube ich. Ist mit H.K. General Stores alles glatt gegangen?“
„Hmh, ja, wir haben gestern die ersten Vorverträge gemacht. Sieht alles sehr viel versprechend aus. Ähm, ich hatte Gelegenheit mit Orlanda zu sprechen. Sie ist der ganzen Sache nicht abgeneigt und möchte wissen, wann die Beisetzung stattfindet.“
„Deswegen hätte ich sowieso heute noch angerufen. Es ging alles überraschend schnell hier, so wird die Beerdigung bereits in vier Tagen, am Montag, sein.“
„Das ist knapp, aber es könnte reichen.“
„Reichen für was, Ian?“
„Orlanda möchte bei der Beisetzung anwesend sein, wie sonst könnte man eure Par-Con Präsidenten besser davon überzeugen, dass es eine trauernde Witwe gibt? Das ist die Gelegenheit, Orlanda einzuführen. Die Heiratsurkunde wird hieb- und stichfest sein, wir haben die beiden in der portugiesischen Botschaft den Bund fürs Leben schließen lassen, das schien uns am plausibelsten.“
„Uns? Wer ist uns?“
Er lachte leise ins Telefon: „Oh, ein zahnloser Chinese, der der rührige Boss einer ganzen Bande von Fälschern ist, sowie Phillip Chen und meine Wenigkeit.“
„Okay. Ich danke dir, dass du dich der Sache so nett angenommen hast.“
„Tja, ich hatte zuallererst so meine Zweifel, aber mittlerweile finde ich die Idee ziemlich gut.“
„Schön, vor allen Dingen, dass Orlanda sich bereit erklärt hat, herzukommen. Darauf freue ich mich.“Sie zögerte ein wenig, dann legte sie die Frage doch nach: „Und du? Hast du dir nicht auch überlegt, wenigstens für die Beisetzung herzukommen? Das würde mich auch freuen.“
„Casey, selbst wenn ich es noch so gerne möchte, es gibt tausend Gründe, die dagegen sprechen. Die wichtigsten: Es würde unglaubwürdig aussehen, wenn ich als einer von hunderten von Geschäftspartnern und noch dazu als ein geprellter, wenn man es genau nimmt, extra von Hongkong zu dieser Beerdigung geflogen kommen würde. Zweitens bin ich hier absolut unabkömmlich, weil genau jetzt ein neuer Jockey für Noble Star seine Arbeit aufnimmt, worüber ich sehr froh bin, noch ein Tag länger und ich hätte den Hengst selber reiten müssen. Ich muss daher in Hongkong erreichbar bleiben.“ Er klang schon wieder zu nüchtern, er merkte es selbst, deswegen beeilte er sich hinzuzufügen: „Ich würde wirklich gerne kommen, aber es geht leider nicht.“ Dann setzte er noch eins drauf: „Was ich natürlich sehr, sehr schade finde.“
Sie klang ein wenig enttäuscht, als sie sagte: „Schon klar. Was würdest du sagen, wenn ich in knapp vier Wochen, nach den vereinbarten dreißig Tagen nicht nach Hongkong zurückkommen würde, weil hier die Arbeit noch nicht erledigt ist?“
Er brauchte nicht lange nachzudenken: „Ich würde nicht gerade in Begeisterungsstürme ausbrechen, aber ich würde es akzeptieren.“ Und er fügte schnell hinzu, denn das Gespräch begann endlich, eine private Wendung zu nehmen: „Zähneknirschend allerdings.“
Sie lachte: „Es würde dir auch kaum etwas anderes übrig bleiben. Sollte ich das deiner Meinung nach denn tun, die dreißig Tage nicht einhalten?“ Es klang nun deutlich flirtend.
Er begann, sich zu entspannen, streifte die Schuhe von den Füßen und legte die Beine hoch: „Was willst du hören, Casey?“ Mist, er konnte dieses Turteln einfach nicht. Er schalt sich selbst einen verdammten Idioten.
„Was denkst du wohl, was ich hören will?“
Also gut, neue Chance, neuer Versuch, er atmete tief durch: „Wenn du in genau achtundzwanzig Tagen nicht hier vor mir stehst, fliege ich nach Los Angeles und hole dich!“
Sie lachte erleichtert: „Mein Gott, das würdest du tun?“
„Worauf du dich verlassen kannst.“
Sie ging den eingeschlagenen Weg weiter: „Und warum würdest du mich holen kommen?“
Die Kurve war ihm fast schon zu scharf genommen: „Ähm, warum, ja… weil wir es so vereinbart hatten und… weil… ich dich gerne wieder sehen würde:“ Puh, mit Glück gerade noch die erwähnte Kurve gekriegt.
Sie fragte: „Ian, sag mal, hast du deine Krawatte noch an?“
Er blickte an sich herab, war verwundert: „Ja, woher weißt du das?“
Erneutes Lachen von ihr: „Das merke ich an deinen Antworten, etwas steif und zugeknöpft. Ganz der Tai Pan eben.“
„Casey!“
„Na, wenn es doch wahr ist.“
Er schloss die Augen, stellte sich vor, Casey wäre jetzt hier bei ihm, auf dem Sofa. Die Vorstellung zauberte ein Lächeln auf seine ernsten Gesichtszüge. Er atmete wieder tief ein: „Ich würde dich holen, weil ich dich vermisse, und das nicht erst seit heute. Weil dreißig Tage eine gottverdammt lange Zeit ist und weil ich dich lieber heute als morgen wieder bei mir hätte.“
Es herrschte einen Moment lang spannende Stille in der Leitung, dann hörte er sie sagen: „Ian, mir geht es genauso. Ich denke viel öfter an dich als meine Arbeit es zulässt, ich träume sogar von dir. Ich bin gerade mal zweieinhalb Tag weg von Hongkong und wünschte, ich wäre nie gegangen. Wenn Par-Con nicht wäre…“
Er unterbrach sie: „Ja, wenn Par-Con nicht wäre, wenn das Noble House nicht wäre. Aber beide Unternehmen existieren und das soll auch so bleiben. Deswegen arbeiten wir so hart, du und ich. Und deswegen ist alles Weitere, was uns betrifft, so ungewiss.“
„Wir werden einen Weg finden, bestimmt.“
Diesmal lachte er, aber leicht bitter: „Da wäre ich mir nicht so sicher. Glaub mir, ich habe mir schon einige Gedanken gemacht. Du bist Tai Pan von Par-Con, du wirst diese Position so schnell nicht aufgeben. Ich bin der Tai Pan, ich stehe dem ältesten und erfolgreichsten Handelshaus Hongkongs vor, und auch ich habe nicht vor, dies in absehbarer Zeit zu ändern. Von welchem Weg redest du also?“
„Ian, ach Ian. Warum bist du so negativ eingestellt? So kenne ich dich ja gar nicht. Du weißt doch sonst für alle Situationen einen Ausweg.“
„Entschuldige. Du hast Recht. Es wird sich schon irgendetwas ergeben. Hauptsache, du bist bald wieder da.“ Er ergänzte schnell, bevor er ins Nachdenken kam, denn dann hätte es er sicher nicht mehr herausgebracht: „Ich möchte dich hier bei mir haben, Casey. Ich möchte dich sehen, dich berühren…“ Er brach ab, mehr ging nicht. Noch nicht.
Die Casinos von Macao
Ihre Stimme klang um einige Nuancen tiefer, als sie antwortete: „Warum hast du aufgehört, du warst gerade so schön in Fahrt? Soll ich darauf direkt eingehen? Also gut. Gestern Abend habe ich mir noch einmal unsere Nacht von Macao vor Augen gehalten. Ich habe so etwas noch niemals zuvor empfunden. Du hast zwei Seiten an dir, die absolut faszinierend sind, und zusammen ergeben sie den mächtigen und wundervollen Tai Pan Ian Dunross. Zärtlich und grob, einfühlsam und rücksichtslos, eiskalt und feurig, leidenschaftlich und gleichmütig, großzügig und kleinlich, hart wie Stahl und doch weich wie Butter.“
Er musste sich zusammenreißen, um nicht aufzustöhnen: „Casey, so siehst du mich? Du ahnst nicht, wie glücklich mich das macht, denn es trifft den Nagel auf den Kopf. Es können sich nicht viele Leute rühmen, mich und mein Innerstes zu kennen. Aber leider hast du zu schnell von unserer Nacht in Macao abgelenkt, sollte da nicht noch mehr folgen?“
„Hmh, das wollte ich eigentlich dir überlassen.“
Im Haus von Lando Mata in den grünen Hügeln von Macao (nicht filmgetreu!)
Er lachte laut auf: „Aha, das habe ich mir so gedacht. Ich warne dich aber, ich bin völlig ungeübt und ungeeignet für diese Art von Unterhaltung. Doch ich versuche es, dir zuliebe. Gut, dass das Haus von Lando klimatisiert war. Allein schon deine Küsse haben mir den Schweiß auf die Stirn getrieben. Ich konnte mich fast nicht mehr beherrschen, meine Güte war ich froh, als die Zimmertür hinter uns ins Schloss gefallen war. Ich hatte mich so sehr nach dir gesehnt, bereits als wir einen Tag zuvor uns zum Dinner auf der Dschunke getroffen hatten und es da ja noch nicht zum Äußersten gekommen war, obwohl wir nahe dran waren, erinnerst du dich?“
Sie klang etwas heiser, als sie flüsterte: „Ja, natürlich erinnere ich mich daran. Es war mir sehr schwer gefallen, brav zu bleiben, das kannst du mir glauben. Auch ich wollte schon damals mit dir schlafen, mehr als alles andere.“
„Ich weiß. Es war haarscharf daran vorbei. Aber dann in Macao – endlich! Du hast wunderschön ausgesehen, so voller Leidenschaft und als ich dich im Bett in meinen Armen hielt, konnte ich mein Glück kaum fassen!“
"Joss?“
„Ja, Joss vom Feinsten. Gutes Joss. Casey, wenn ich mir das alles wieder in Erinnerung rufe, dann wird mir bewusst, wie schmerzlich ich dich vermisse. Ich sage diese Dinge nicht leichthin, ganz im Gegenteil, ich sage so etwas sonst nie. Wirklich niemals.“
„Dann weiß ich es umso mehr zu schätzen. Mir geht es da ähnlich.“
„Casey, ich wollte es dir schon bei unserem ersten Telefonat vorgestern sagen, aber irgendwie brachte ich es nicht fertig. Ich vermisse dich wahnsinnig!“
„Na, das war doch nun gar nicht so schwer, oder?“
„Nein, war es nicht. Es war eigentlich ganz einfach.“
„Ian, ich muss dringend los, weißt du wie spät es ist?“
„Nein, keine Ahnung. Besser ich weiß es nicht. Casey, tust du mir einen großen Gefallen? Bitte schicke mir noch heute ein Bild von dir, ich möchte es hier bei mir haben. Damit ich wenigstens ein bisschen was von dir ansehen kann. Und – schicke es Express, ja?“
„Oh, natürlich, das mache ich. Gute Nacht Ian, schlaf gut – ich wünschte, ich könnte jetzt bei dir sein.“
Er lachte trocken: „Ich sage dir lieber nicht, was mir dazu gerade einfällt. Einen schönen, arbeitsreichen Tag wünsche ich dir. Komische Zeitverschiebung, wirklich. Bis bald, süße Casey!“
Als er den Hörer auflegte, fühlte er sich so beschwingt wie selten zuvor. So ein Gefühl konnte bislang nur der Anblick von Landos Goldbarren im Tresorraum der Victoria Bank in ihm auslösen. Adrenalin pur. Er stand auf, der Tee war eiskalt. Achtlos ließ er das Teegeschirr auf dem Couchtisch stehen. Er hatte genug Hausangestellte, die alles wegräumen würden. Auf dem langen Weg durch das riesige Anwesen bis zu seinem Schlafzimmer hatte er sich so halbwegs wieder unter Kontrolle gebracht. Wenn ihm das jemand vor gut zehn Tagen gesagt hätte, dass er einmal verliebt wie ein Schuljunge sein würde, er hätte ihn glatt ausgelacht! Zwar war eine gemeinsame Zukunft mit Casey das, was er sich derzeit sehnlichst wünschte, doch stand er zu sehr mit beiden Beinen auf der Erde, um derartigen Träumereien nachzugehen. Die Fakten sprachen sowieso eine ganz andere Sprache, sie waren eindeutig gegen die Verbindung von Casey und ihm. Sie leitete ein riesiges Firmenimperium in Amerika, er war hier an Struans gebunden, so wie es aussah, noch eine sehr lange Zeit.
Und Ian Dunross, der stets seinen messerscharfen Verstand einzusetzen wusste und immer analytisch dachte, war in dieser Hinsicht mehr als ratlos.