- Schriftgröße +



 

 

Dienstag, 27. November. Er hatte es geahnt, vor etwas mehr als einer Woche, als er Casey Tcholok vor den Aufzügen des Struan’schen Firmengebäudes zum ersten Mal getroffen hatte. Er hatte sofort geahnt, dass irgendeine Gefahr von ihr ausging. Sie war überaus gut informiert und eine sehr aufmerksame Beobachterin. Ihr war sogar als Nicht-Hongkongerin aufgefallen, dass die Eingangstüren des Struan-Towers ein wenig schräg standen. Niemals würde er ihre großen Augen vergessen, als er ihr während der Aufzugfahrt erzählte, was es mit Feng-Shui und dem Erddrachen auf sich hatte. Sie war durch und durch Amerikanerin, in diesem Moment hatte sie der Zauber, der Bann von Hongkong noch nicht umfangen. Sie hatte es als völligen Schwachsinn abgetan.

Ian Dunross war zunächst auf der Hut vor ihr, weil er dachte, diese Gefahr ginge geschäftlich von ihr aus. Was auch zunächst der Fall zu sein schien. Als ihm bewusst war, dass sie auf ganz andere Art gefährlich war, war es bereits zu spät für ihn.

Er lächelte nun, als er sich erinnerte, wie sie am letzten Donnerstagabend auf die Dschunke im Hafen von Aberdeen kam, um mit ihm zu dinieren. Was als Geschäftsessen angedacht gewesen war. In dem Moment, als sie das Boot betrat, mit ihren schönen blonden Haaren, der schlanken Figur, den langen Beinen, war er rettungslos verloren. Er konnte es sich aber nicht eingestehen. Nicht an diesem Abend, nicht an denen, die darauf noch folgten. Im Prinzip bis heute nicht.

Sein Lächeln schwand auf dem markanten Gesicht, als er daran dachte, wie nah er mit dem Noble House dem Ruin gewesen war. Quillan Gornt und Lincoln Bartlett hatten ihn beinahe in die Knie gezwungen. Nur mit äußerster Anstrengung und großer Konzentration auf das Wesentliche war es ihm gelungen, diesen Angriff abzuwenden, zu parieren. Ja, Casey hatte ihren Anteil an diesem Spiel gehabt, aber selbst sie war zu guter Letzt beinahe schachmatt gesetzt worden, weil sie das böse Treiben nicht länger mitmachen wollte. Gut für ihn und das Noble House. Und auch dass China ihm zur Hilfe gekommen war, in letzter Minute. Die Interessen Chinas würden sich noch mehr auf Hongkong konzentrieren, die Regierung in Peking wollte selbstverständlich, dass Hongkong ein blühendes Wirtschafts- und Finanzzentrum blieb, auch wenn man das Territorium dann 1997 aus britischer Hand entgegen nehmen würde. Hongkong würde immer das bleiben, was es war, selbst unter chinesischer Führung.

Ian Dunross schloss kurz müde die Augen, nahm Daumen und Mittelfinger der rechten Hand und drückte mit diesen kurz die Augenwinkel, wie um die Müdigkeit zu vertreiben, eine typische Geste von ihm. Die letzten Tage waren eindeutig von zu wenig Schlaf geprägt gewesen. Erst waren etliche Partys gegeben worden, dann die erste Katastrophe am vergangenen Mittwoch, als man sich in letzter Minute vom brennenden Restaurantschiff Schwimmender Drache nur durch einen beherzten Sprung in das Hafenbecken retten konnte. Die enormen Probleme von Struans an der Börse, die brutale Ermordung John Chens, der tödliche Unfall seines Jockeys auf der Rennbahn am Samstag und schließlich der Erdrutsch von Aberdeen und das Zusammenstürzen des Apartmenthochhauses Rose Court. Dieses Ereignis hatte viele Todesopfer gefordert. Zu viele. Aber Hongkong würde – wie immer – recht schnell zur Tagesordnung übergehen. Jason Plumm von Asian Properties war tot. Vier-Finger-Wu ebenfalls, und mit ihm war seine junge Geliebte Venus Poon gestorben, die er Bankier Kwang abspenstig gemacht hatte. Richard Kwang würde sich daher nach einem neuen Spielzeug umsehen müssen, falls er sich das überhaupt noch leisten konnte, nach dem Zusammenbruch seiner Ho-Pak Bank. Für Hongkonger Verhältnisse war Kwang nun ein armer Mann, auch wenn er natürlich anderswo vielleicht sogar noch als Millionär durchgehen würde.

Und Linc Bartlett. Dieser Mann hatte ihm und dem Noble House gehörig zugesetzt in den Tagen, die er hier zusammen mit Casey verbracht hatte. Aber irgendwie war Ian ihm nicht böse. Er hatte das große Hongkonger Spiel um Macht und Geld mitspielen wollen, verständlicherweise. Unter etwas anderen Umständen hätten er und Linc sogar gute Freunde werden können. Doch jetzt befand er sich in einem Zinksarg irgendwo in der Luft über dem pazifischen Ozean.

Ian Dunross holte tief Luft und ging ins Haus. An der Anrichte schenkte er sich eine Tasse Kaffee ein und trank diesen in langsamen Schlucken.

Dann griff er zum Telefon und wählte: „Lando, es tut gut deine Stimme zu hören. Ja, ja, schreckliches Joss mit dem Erdrutsch. Es war eine furchtbare Nacht, das kannst du mir glauben. Ja, Casey ist heute früh nach Los Angeles geflogen und sie überführt Lincs Leichnam. Es geht ihr den Umständen entsprechend würde ich sagen. Sie war ziemlich fertig, aber sie wird nicht daran zerbrechen. Nicht Casey. Wie bitte? Lando, das weiß ich selbst. Nein, wir sind übereingekommen, dass sie zunächst einmal die Dinge in den USA regelt. Sie wollte Par-Con auch nicht führungslos lassen, das ist wohl verständlich. Lando, das sind allein meine Privatangelegenheiten, ich weiß es zu schätzen, dass du als mein Freund sprichst, aber – woher weißt du das alles überhaupt? Natürlich, die Wände in Macao und Hongkong haben Augen und Ohren, schon klar! Lando, ich weiß es einfach noch nicht. Ich muss abwarten. Und wir haben alle in der Zwischenzeit eine ganze Menge anderer Dinge zu tun. Hör mal, du hast sicher bereits davon gehört, dass Struans die Übernahme von H.K. General Stores durch American Superfoods angefochten hat. Ich schließe morgen mit Richard Hamilton die ersten Vorverträge ab. Und ich habe vom meinem Studienfreund Tsu-Yan, der nun der Vorsitzende der Great Wall International Trust Corporation in Peking ist, einen Revolving-Kredit in Höhe von 300 Millionen Dollar bekommen. Ja, und wir werden an der Börse mit 30 wieder eröffnen. Das Noble House ist und bleibt das Noble House. Danke, Lando. Natürlich steht nun nicht mehr zur Debatte, dass ich den Vorsitz im Syndikat der Spielcasinos von Macao übernehme. Struans wird noch mehr expandieren müssen, und ich bin und bleibe nun mal der Tai Pan. Aber ich hätte eine Alternative für diesen Posten. Bist du interessiert? Nein, warte, hör mir doch erst einmal zu: Ich empfehle dir, dafür meinen neuen Direktor Paul Choy einzusetzen. So hast du einen Fuß immer auch in Struans, im Noble House drinnen. Wer das ist? Das ist der Sohn eines guten, alten Freundes, der leider beim Unglück in Aberdeen am Wochenende verstorben ist. Nein, natürlich ist es nicht, weil ich einem alten Freund einen Gefallen schulde. Ich bitte dich, Paul Choy zu nehmen, weil ich denke, dass er befähigt dazu ist, dass er sowohl dir als auch mir in vielerlei Hinsicht behilflich sein kann. Du weißt, wie die Dinge auf chinesische Art gehandhabt werden! Gut, denke darüber nach! Aber bis morgen Mittag würde ich gerne eine Entscheidung von dir haben und du weißt, welche Antwort ich am liebsten hören würde. Also dann, mach’s gut!“

Schnell warf sich Ian Dunross ein Jackett über, nahm die Schlüssel des gold-metallic lackierten Mercedes vom Silbertablett in der Halle und setzte sich mit einer geschmeidigen Bewegung ans Steuer. Mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, aber keinesfalls leichtsinnig oder auch nur eine Sekunde ohne Konzentration raste er die Peak Road hinunter, zielstrebig auf das Bürogebäudes von Struans zu. Er parkte mit quietschenden Reifen vor dem Haupteingang, sofort sprang ein Parkwächter herbei, um die Schlüssel zu übernehmen und den Wagen in die Tiefgarage zu bringen.

Der "Struans-Tower" in Hongkong

Ian Dunross fuhr mit Aufzug in die 43. Etage, wo sein Büro sich befand. Wie immer blickte ihm mit einem verhaltenen Lächeln seine Sekretärin Claudia entgegen, die schon für seine beiden Vorgänger, seinen Onkel Tai Pan Alastair Struan und seinen Vater Tai Pan Colin Struan Dunross, gearbeitet hatte. „Guten Morgen Tai Pan. Ist Miss Tcholok gut weggekommen? Mr. Linbar hat wieder aus Sydney angerufen, außerdem wollte Mr. Choy kurz mit ihnen sprechen. Soll ich ihn rufen lassen?“

Er blickte die erfahrene Kraft kurz an: „Danke Claudia. Miss Tcholok ist auf dem Weg nach Los Angeles, ja. Und ich glaube, ich sollte in der Tat den armen Linbar nicht mehr länger zappeln lassen, ich rufe ihn nachher gleich an. Mr. Choy hat jedenfalls noch Zeit, vielleicht bestellen Sie ihn für den Nachmittag her. Das wäre erst einmal alles, danke sehr.“ Damit verschwand er in seinem Büro.

Er hatte viele Telefonate geführt. Mit Tip Tok-Toh, dem Chef der Bank of China. Mit Tsu-Yan in Peking. Mit dem Börsenkomitee und mit dem Vorstand des Rennclubs. Sodann hatte er sich darum gekümmert, dass die Firmenanwälte sich mit der Fusion mit H.K. General Stores auseinandersetzen. Er wollte sich, was den amerikanischen Markt anlangte, nicht nur auf Par-Con verlassen. Zuletzt hatte er sich durchgerungen, Linbar Struan in Australien anzurufen, der ihm auf Treu und Glauben versicherte, dass Struans dort unten wieder völlig saniert wäre und auf gesunden Füßen stünde. Gut, wenn Linbar das tatsächlich zustande gebracht hatte, war es ein Sorgenkind weniger auf der Liste. Und er besprach noch weitere wichtige Dinge mit Jacques de Ville.

Schließlich erschien Paul Choy bei ihm im Büro. Ian Dunross setzte seine undurchsichtige Miene auf, als der junge Mann den Raum betrat: „Paul, wie ich höre, haben Sie sich bereits bei Struans eingerichtet. Ich hoffe, dass Sie alles zu Ihrer Zufriedenheit vorgefunden haben.“

Der Chinese nickte: „Danke, es ist alles in Ordnung, Tai Pan. Konnten Sie bezüglich der Sache mit Lando Mata bereits tätig werden? Ich weiß, es ist alles ein wenig durcheinander, vor allen Dingen wegen der Katastrophe von Rose Court, aber vielleicht hatten Sie ja Gelegenheit…“.

Ein scharfer Blick seines Gegenübers ließ ihn rasch verstummen: „Paul, Sie haben mir die halbe Münze gegeben und haben Gegenleistungen dafür verlangt. Die zum größten Teil, soweit es meinen Einflussbereich angeht, erfüllt wurden. Ich hatte Ihnen gesagt, dass ich Lando Mata nicht zwingen kann, Sie zum Vorsitzenden des Spielersyndikats zu machen. Das kann nur er ganz alleine entscheiden. Soweit haben wir beide also den Teil der Abmachung eingehalten. Und da ich Ihnen nichts mehr schulde, muss ich Ihnen klipp und klar sagen, dass ich der Tai Pan bin und die Entscheidungen hier fälle. Ich bitte Sie also, mir nichts vorschreiben zu wollen. Ich hoffe, wir haben uns da verstanden, Paul?“

Dieser senkte den Kopf ein wenig und nickte dann.

Dunross fuhr fort: „Gut, ich habe bereits mit Lando telefoniert, aber er konnte und wollte sich noch nicht festlegen. Hätte ich an seiner Stelle auch nicht getan. Er wird mir morgen Bescheid geben. Genügt Ihnen das als Antwort?“

Wiederum ein Nicken des Chinesen: „Ja, natürlich. Entschuldigen Sie Tai Pan, ich wollte Sie nicht…“.

Ian Dunross schnitt dem jungen Mann abermals das Wort ab: „Ist schon gut, Sie dürfen nun gehen Paul.“

Ein 14- bis 16-Stunden-Tag war normal für Ian Dunross. Er war ein Arbeitstier. Selbst als er noch nicht Tai Pan war, als sein Onkel Noble House leitete, und er jung verheiratet war. Seine Frau hatte Hongkong nie gemocht. Sie, die kühle Schönheit aus dem ländlichen Berkshire, konnte der asiatischen Lebensweise, der völlig anderen Welt dort nichts abgewinnen. Mit Mühe und Not konnte Ian sie dazu bewegen, wenigstens die Hälfte eines Jahres in der Kronkolonie zu verbringen. Aber sie hatte kaum Interesse an ihrer Umgebung dort gezeigt. Sie zog es vor, die meiste Zeit fernab von ihrem Mann, auf dem feudalen Landsitz ihrer Eltern oder in London bei Freunden, zu verbringen. Und wenn sie mal in Hongkong weilte, hatte Ian nur selten Zeit für sie. Er arbeitete stets. Zuviel, wie er heute wusste. Aber es machte Penelope sowieso nicht wieder lebendig. Unsinnigerweise war sie nicht in dem ihr verhassten brodelnden Hexenkessel von Hongkong überfahren worden, sondern zu Hause, direkt vor der Einfahrt zum Haus ihrer Eltern. Der Todesfahrer war betrunken gewesen.

Mehr als neun Jahre war das nun her. Er dankte inzwischen Gott dafür, dass sie keine Kinder hatten. Er musste fast ein zynisches Auflachen unterdrücken. Es wäre ohnehin kaum möglich gewesen, erstens hatten sie mehr Zeit getrennt als gemeinsam gelebt und zweitens hatte sie den Vorgängen im Ehebett eher distanziert gegenüber gestanden. Zu Anfang war Penelope wohl auf das Romantischste in den gut aussehenden, enorm reichen, mit Charme und guten Manieren ausgestatteten Erben der Hongkonger Struans-Dynastie verliebt gewesen. Doch sie merkte schnell, dass er auch eine chinesische Hälfte (wenn auch nicht genetisch, so doch vom sozialen Standpunkt her) hatte. Und dass er unnachgiebig, hart, und besessen von seiner Arbeit war. Die Verliebtheit wich sehr schnell einer gründlichen Ernüchterung. Das in ihren Augen fürchterliche Hongkong mit seiner ihr unverständlichen Philosophie tat ein Übriges dazu. Je mehr er sie wegen der Arbeit vernachlässigte, desto mehr verweigerte sie sich ihm im Bett. Es endete tragisch. Nach einer lautstarken Auseinandersetzung packte sie ihre Koffer, flog (mal wieder) nach England. Sie kam nie im Haus ihrer Eltern an.

Ian Struan Dunross setzte sich spätabends in sein Auto und wollte nach Hause fahren. Doch bevor er auf die Peak Road einbog, drehte er einer plötzlichen Eingebung folgend um. Von Wan Chai aus fuhr er durch den Harbour Tunnel nach Kowloon.

 

Das Peninsula-Hotel, Eingangsfront

 

Einige Zeit später hielt er vor dem Peninsula an. Er ging durch die Lobby, erinnerte sich daran, dass er gestern erst dort vor der Sitzgruppe Casey geküsste hatte. In der Hotelhalle! Er, der Tai Pan des Noble House! Zweifelsohne, diese Frau schien etwas in ihm zu bewirken. Aber was? Er musste nachdenken. Unbedingt. Und mit ihr telefonieren, ebenfalls unbedingt. Er schaute auf die Uhr. Vielleicht noch nicht der rechte Zeitpunkt. Das Flugzeug benötigte rund 14 Stunden nach Los Angeles. Die waren zwar mittlerweile vorüber, aber zu Hause war Casey deswegen noch lange nicht. Er würde noch warten müssen mit seinem Anruf. Er ging zum Empfang. Der Chinese hinter dem Tresen neigte leicht den Kopf: „Guten Abend, Tai Pan. Kann ich Ihnen behilflich sein?“

Ian Dunross war nur selten verlegen, gerade nun hatte er aber dieses Gefühl: „Ähm, ja, ich wollte fragen, ob Sie die Suite von Miss Tcholok schon weiter vermietet haben, oder ob das Zimmer eventuell frei ist.“

Der Concierge schaute auf eine Liste, dann strahlte er Ian Dunross an: „Sie haben Glück, Tai Pan, die Suite ist frei.“

„Gut“, Ian Dunross klopfte unruhig mit den Fingern auf den Marmor der Tischplatte, „ich nehme es. Schicken sie mir bitte ein komplettes Paket an Ausstattung nach oben, ich habe nichts dabei, danke!“ Wenn sich der Concierge nun wunderte, verbarg er es gut, ein Vorteil der guten Personalschulung des Hotels. Er händigte dem Tai Pan den Schlüssel aus und versicherte ihm, dass alles prompt erledigt werden würde.

Die Schritte von Ian Dunross wurden im Flur immer langsamer, je näher er der Zimmertür kam. In goldenen Ziffern prangte die Zahl 549 auf der Tür. Er steckte den Schlüssel in das Schloss und drehte den Knauf. Fast vermeinte er, einen Hauch von Caseys Parfum zu erschnuppern. Doch sicher hatte er sich getäuscht.

Es klopfte dezent an der Tür. Ein Hotelboy brachte eine kleine Tasche mit Utensilien. Ian Dunross gab ein Trinkgeld und schloss die Tür hinter dem Pagen. Er stellte die Tasche auf ein Sofa und schaute kurz hinein. Das Hotel hatte einen hervorragenden Ruf, die Fünf-Sterne-Plus mussten sich ja irgendwie rechtfertigen. Es schien alles da zu sein: Ein Pyjama, Rasierzeug, alles zum Zähneputzen, Kamm und Bürste, Pantoffeln, sogar ein Morgenmantel. Außerdem ein Zettel, der darauf hinwies, dass im Badezimmer noch Bademantel, Föhn und komplettes Duschzeug zur Verfügung standen.

Ian Dunross stand unter der Dusche. Das heiße Wasser rann in Strömen an seinem Körper herunter. Irgendwie hatte für ihn die Vorstellung, dass er nun hier duschte, wo gut einen halben Tag zuvor noch Casey geduscht hatte, eine überaus anregende – er blickte an sich herab und korrigierte sich schnell – nun ja, eher erregende Wirkung. Er wickelte sich in den Bademantel und frottierte heftig seine fast schwarzen, mittlerweile mit einigen wenigen grauen Strähnchen durchzogenen Haare. Zweimal fuhr er mit dem Kamm durch, dann war der Fall für ihn erledigt.

Er schaute auf die Uhr. Gut fünfzehneinhalb Stunden. Er würde noch eine Stunde in etwa warten, dann wollte er Casey anrufen. Er legte sich auf das Bett und schaltete den Fernseher ein. Er wusste gar nicht, wann er das letzte Mal Gelegenheit gehabt hatte, länger als fünf Minuten in ein Fernseh-Gerät zu schauen. Das musste Jahre her sein. Er blieb an einem Nachrichtensender hängen, der ausführlich über den Erdrutsch berichtete. Die Bilder machten ihm schmerzhaft bewusst, wie nah er selbst und Casey dem Tode gewesen waren. Das hatte er bislang noch gar nicht registriert. Er nahm den Telefonhörer auf und rief Claudia zu Hause an. Er sagte ihr, wo er notfalls zu erreichen war.

Er lehnte sich in die Kissen zurück. Einzuschlafen verbot er sich, obwohl er hundemüde war. Er war ein äußerst disziplinierter Mensch, was sehr hilfreich war, sonst hätte er die letzten Jahre, vor allen Dingen die Zeit seit seinem Antritt als Tai Pan, nicht überstanden. Er war jetzt Ende Dreißig. Casey war – er bemerkte plötzlich, wie wenig er doch privat über sie wusste, denn ihm war nicht einmal ihr Alter bekannt. Casey schätzte er also auf höchstens Mitte Dreißig. Sollte sich also eine feste Bindung ergeben, dann würde man bald schon über Nachwuchs nachdenken müssen.

Ian Dunross schoss aus den Kissen hoch! Was hatte er da gerade gedacht? Oder war er doch eingeschlafen und hatte seine wirren Gedanken nur geträumt? War er vollkommen übergeschnappt? Er kannte sich selbst nicht wieder. Er war nicht einmal hundertprozentig sicher, dass Casey überhaupt nach Hongkong zurückkehren würde, wer weiß, was in Kalifornien alles auf sie einstürzte. Und er lag hier und dachte allen Ernstes über ein Kind nach?

Er musste den Verstand verloren haben. Und doch, der Gedanke war so abwegig nicht. Über kurz oder lang würde er sowieso über einen Nachfolger nachdenken müssen. Bislang waren sich unter vorgehaltener Hand alle einig, dass sicherlich Linbar seinem Cousin einst als Tai Pan nachfolgen würde. Bis vor wenigen Stunden hätte auch Ian selbst diese Variante für die wahrscheinlichste gehalten. Allerdings war Linbar nur um knappe zehn Jahre jünger als er. Was wäre aber, wenn er einen eigenen Erben vorweisen könnte? Das wäre ganz wunderbar. Sein Kind und Caseys Kind. Die Fantasie ging mit ihm jetzt durch, etwas was er sich sonst niemals gestattete. Das hätte außerdem den Vorteil, dass dieses Kind einmal einem Weltkonzern vorstehen könnte: Par-Con und Struans! Er schüttelte unwillig den Kopf. Nein, alles an den Haaren herbeigezogen, völliger Schwachsinn, eine unrealistische Ausgeburt seines übermüdeten Hirnes.

Er schaute wieder auf das Fernseh-Programm, da schrillte plötzlich das Telefon. Er griff zum Hörer: „Hallo?“

„Ian? Bist du das?“

„Casey, ja. Woher wusstest du, wo ich erreichbar bin?“

Ein kurzes Lachen war in der Leitung zu hören: „Claudia beugt immer vor, sie hatte mir vor einiger Zeit bereits ihre Privatnummer gegeben, nur zur Sicherheit. Als ich dich weder im Büro noch auf dem Peak erreichen konnte, habe ich Claudia eben angerufen. Sie hat mir die Nummer des Hotels genannt. Was machst du dort?“

Jetzt war es an ihm, kurz trocken zu lachen: „Das sollte ich dir besser nicht sagen! Ich kann es selbst nicht glauben, dass ich spontan zu so etwas fähig war!“

„Ian, was hast du gemacht?“

„Ich habe mich für heute Nacht im Peninsula in deine Suite eingemietet. Derzeit liege ich in deinem Bett. Ich wollte dich gerade selbst anrufen, war aber nicht ganz sicher, ob du auch wirklich schon angekommen warst. Wie war der Flug?“

Es herrschte ein kleiner Moment des Schweigens, dann fragte Casey: „Du schläfst in meinem Bett? Wie kommt das? Und lenke jetzt nicht mit meinem Rückflug ab, ich bin zwar hundemüde, aber sonst ist eigentlich alles in Ordnung.“

Er fuhr sich nervös durch die Haare bevor er antwortete: „Ich weiß es nicht, ich wollte nach Hause, aber dann habe ich es mir einfach anders überlegt und nun bin ich eben hier. Ich denke, es sind die Auswirkungen der letzten anstrengenden Tage.“

Sie sprach nun wieder: „Hör mal, wahrscheinlich haben wir beide den Schlaf bitter nötig, deswegen beeile ich mich lieber mit dem Anliegen, das ich habe.“

„Anliegen? Was für ein Anliegen denn?“

„Ich brauche deine Hilfe und das ziemlich schnell. Nein, es ist nichts Geschäftliches, keine Angst. Aber ich habe eine Notlüge gebraucht, heute nach der Landung, als der Firmenvorstand mich und natürlich den Sarg von Linc am Flughafen in Empfang genommen hatte.“

„Casey, von was redest du? Eine Notlüge?“

„Ja, ich hatte während des Fluges lange Zeit nachzudenken. Und ich war nicht sicher, wie ich Orlanda am besten würde helfen können. Da kam mir das Empfangskomitee am Flughafen gerade recht. So hatte ich nämlich die zündende Idee. Ich sagte ihnen, dass Linc in Hongkong eine Witwe hinterlassen hätte. Die selbstverständlich ein Anrecht darauf hätte, von der Firma versorgt zu werden. Zumal das Testament nicht geändert worden war, es ist weiterhin zu meinen Gunsten abgefasst, weil er und Orlanda erst am Tag seines Todes geheiratet hätten. Jetzt bräuchte ich allerdings eine Heiratskurkunde, die wasserdicht ist, das heißt, der Prüfung durch unsere Anwälte standhält. Könntest du da etwas machen?“

Er glaubte, sich verhört zu haben: „Du hast was? Habe ich das eben richtig verstanden, dass du Orlanda zur rechtmäßigen Witwe von Linc gemacht hast, damit sie irgendwie versorgt ist? Hätte man das nicht anders regeln können?“

„Ian, es war die einzige Möglichkeit, diese Aasgeier hier in die Schranken zu weisen, glaub mir. Kannst du mir helfen?“

Er dachte einen Moment nach, im Prinzip gab es nichts, was es in Hongkong nicht gab, was nicht irgendwie machbar wäre: „Also gut, ich versuche es. Das heißt aber nicht, dass ich das alles für gut befinde.“

„Ja, natürlich, das verstehe ich. Danke, dass du dich darum kümmern wirst. Wie geht es dir sonst?“

Er brummte: „Mir? Soweit gut. Ich werde morgen den ersten Vertrag mit Hamilton unterschriftsfertig haben. Ich sollte dich eher fragen, wie es dir geht. Und was bei dir als nächstes ansteht.“ Er klang zu geschäftsmäßig, das war ihm plötzlich bewusst, aber er konnte nicht anders.

Ihre Stimme tönte durch den Hörer: „Zunächst werde ich mich noch ein wenig um die Beisetzung kümmern und dann natürlich um die Sache mit Orlanda. Ich habe mich da vielleicht ein bisschen weit aus dem Fenster gelehnt, ich weiß, aber als ich die gesamte Aufreihung an gedeckt-grauen Zweireihern und dunkelblauen Nadelstreifenanzügen sah, war mir auf einmal danach. Vielleicht wäre es auch eine schöne Geste, wenn man uns beide als Trauzeugen aufführen könnte, was meinst du?“

Ian Dunross seufzte halblaut, gerade so, dass man es durch das Telefon nach Los Angeles nicht hören konnte: „Wenn es sein muss! Ja, also gut, ich sehe was sich machen lässt.“

Casey fuhr fort: „Dann lasse ich Orlanda hierher kommen, sie kann in Lincs Haus wohnen, das dürfte gar kein Problem sein. Und sie hat dann Zeit genug, sich hier nach einem geeigneten Job umzusehen, es gibt hunderte von Sendern hier, da wird wohl der ein oder andere dabei sein, der eine schöne und sprachgewandte Frau wie Orlanda zu schätzen weiß. Außerdem gibt es bei Par-Con für mich mehr als genug zu tun, wir werden sehen, dass wir ebenfalls einen Fuß in H.K. General Stores hinein bringen, so dass wir damit indirekt auch Struans behilflich sein können. Was hältst du davon?“ Jetzt klang sie sehr geschäftsmäßig, sie vermieden es anscheinend beide krampfhaft, in allzu private Themen einzutauchen.

„Ja, klingt gut. Morgen ist auch die Börse hier wieder geöffnet. Wir stehen wohl wieder ziemlich gut da, zum Glück.“

„Hmh, du hast unverschämtes Glück gehabt, mein Lieber. Wie sagt ihr doch so schön: Joss, nicht wahr?“

„Joss, ja.“

„Ian?“

„Hmh?“

„Ich bin völlig fertig, ich muss unbedingt eine Runde schlafen. Lass uns wann anders weiter reden, ja?“

„Natürlich Casey, entschuldige, ich wollte dich nicht über Gebühr beanspruchen.“ Großer Gott, hatte er das eben wirklich so nüchtern gesagt? Über Gebühr beanspruchen, das hörte sich ja schrecklich an.

Er wollte ganz andere Dinge zu ihr sagen, er holte tief Luft und versuchte es: „Ich… ich… also - ich wünsche dir eine gute Nacht, schlaf gut.“ Er hätte sich sogleich ohrfeigen können, er hatte es natürlich nicht heraus gebracht.

Ihre Antwort ließ nicht lange auf sich warten: „Es ist zwar Morgen hier, aber trotzdem danke, schlaf du auch gut.“

Dann lachte sie leise und fügte hinzu: „In meinem Bett.“ Damit legte sie sofort auf.

Er war völlig durcheinander. Seine Emotionen fuhren Achterbahn. Wo er diese doch sonst stets so gut unter Kontrolle hatte. Niemals gestattete er sich, emotional an irgendwelche Dinge heranzugehen. Das führte nur zu Verwirrungen. Er ging alles immer sachlich, nüchtern und mit kühlem Kopf an. Nur ab und zu brach sein hitziges Temperament mal durch, aber auch da versuchte er stets, seine Wut oder seinen Zorn zu unterdrücken. Er hatte einer Ehe mit Penelope zugestimmt, weil sie so überaus naiv zu ihm herauf geblickt hatte und ihn damals anhimmelte. Das hatte ihm, er gab es zu, zu dieser Zeit sehr geschmeichelt. Aber wenn er ganz ehrlich war, geliebt hatte er Penelope nie. Von daher war er sich auch nie untreu gewesen, denn die Worte ‚Ich liebe dich’ waren ihm gegenüber Penelope nicht über die Lippen gekommen. Er hatte also nicht geheuchelt.

Er musste erst lernen, mit Emotionen umzugehen. Darin hatte er nur wenig Erfahrung. Seine Ausbildung war auf das völlige Gegenteil ausgerichtet gewesen, auf knallharte Fakten, sachliche Sprachführung und Geschäft, Geschäft, Geschäft. Deswegen war er auch mit Penelopes Gefühlsausbrüchen so überfordert gewesen. Nichts und niemand hatten ihn darauf vorbereitet. Er war hilflos, wenn sie weinte, weil sie die Stadt verabscheute und zu ihren Eltern nach England zurück wollte. Er war machtlos, wenn sie trotzig wurde und ihm die Schlafzimmertür vor der Nase zuknallte. Er war ratlos, wenn sie immer öfter viele Monate von ihm getrennt leben wollte. Immerhin wusste er heute, dass er mit seiner geschäftsmäßigen Unterkühltheit sehr viel zu dieser Misere beigetragen hatte, symbolisch gesprochen hatte er nicht mal beim Sex mit ihr seinen Maßanzug ausgezogen. Wie gesagt, rein symbolisch gesprochen.

Er wollte kein Witwer mehr sein. Er sehnte sich plötzlich danach, eine Familie zu haben. Ebenfalls ein neues Gefühl für ihn. Was war nur los mit ihm? Cousin Linbar ersetzte ihm kein eigenes Kind. Penelope war einfach nicht die richtige Frau für ihn gewesen, er würde gerne noch einmal… er gestattete sich endlich, den Gedanken konsequent zu Ende zu denken – heiraten!

 






Bitte gib den unten angezeigten Sicherheitscode ein: