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Mittwoch, 2. Januar. Linbar Struan öffnete die Tür zum Büro des Tai Pan: „Ich wollte mich verabschieden, mein Flug nach Sydney geht noch heute. Es war schön, Weihnachten und Silvester hier verbringen zu können. Auch wenn ich jetzt wohl nicht mehr die Nummer Eins in der Thronfolge bin.“

Ian Dunross setzte seinen undurchsichtigsten Gesichtsausdruck auf: „Linbar, was soll das? Du weißt ganz genau, dass es keine feste Nachfolgeregelung gibt. An wen ich einmal den Titel des Tai Pan weitergebe, ist ganz allein meine Sache, meine Entscheidung. Und wenn du dich hier im Haus auf Gerüchte einlässt, dieses Thema betreffend, bist du selbst schuld. Es ist wahr, ich habe mir immer eigene Kinder gewünscht. Als das alles mit Penelope den Bach runter ging, dachte ich, den Wunsch könnte ich ein für allemal begraben, aber nun, wo Casey in mein Leben getreten ist und auch das Baby gleich mit…. Linbar, es ist nicht gesagt, dass dieses Kind mal Tai Pan wird. Kinder haben oft ihre eigenen Vorstellungen und möchten naturgemäß nur selten das, was man ihnen vorlebt und, ja – eben auch aufzwingt. Es ist zwar richtig, dass das Kind durch seine Eltern sehr nahe an der Spitze eines Weltkonzerns aufwächst. Aber es ist noch nicht einmal auf der Welt, es dauert noch mindestens fünfundzwanzig Jahre, bis überhaupt daran zu denken ist, dass es einmal Tai Pan wird. Weißt du, was sich in fünfundzwanzig Jahren alles ereignen kann? In weniger als zehn Jahren ist Hongkong kein britisches Protektorat mehr. Es gehört dann zur Volksrepublik China, wenngleich auch mit einem Sonderstatus. Die Zukunft ist sehr ungewiss, und das gilt für uns alle.“

„Es tut mir leid, dass ich so eigensinnig war, Tai Pan.“ Linbar Struan klang nun sehr einsichtig, fast devot. Dann sprach er wieder in familiärerem Ton weiter: „Doch bitte, Ian, sage mir eines und ich weiß sicher, dass du es festgelegt hast: Wen hast du für den Fall, dass dir unerwartet etwas zustößt, als deinen Nachfolger bestimmt?“

Ian sah seinen Cousin prüfend an. Dann seufzte er und sagte: „Natürlich habe ich dich für diesen Fall vorgesehen, wen sonst? Du kannst also ganz beruhigt nach Australien zurückfliegen und dort wieder Kängurus zählen. Deine Position im Noble House ist also für mindestens fünfundzwanzig Jahre gesichert. Aber nicht, dass ich nun einem plötzlichen Attentat zum Opfer falle, Linbar, das wäre allzu offensichtlich.“ Beide Männer mussten jetzt lachen, reichten sich die Hände und drückten diese lange und fest.

„Es ist wirklich ein Jammer, dass ich schon abreisen muss. Zu gerne wäre ich noch bis zu eurer Hochzeit geblieben. Aber das ist wohl unser Los, das Privatleben steht immer hinten an, nicht wahr? Nur du, du scheinst mir inzwischen die rechte Balance gefunden zu haben. Du hast ja auch eine wundervolle Frau, die das alles mit trägt und selbst eine große Firma leitet. Wirklich gutes Joss, Ian. Mach’s gut!“

Beeindruckend und einmalig markant - die Fassade des 'Struan-Towers'

 

Nach dem Gespräch mit Linbar fuhr Ian Dunross von der 43. in die 50. Etage. Dort war die Hongkonger Zentrale von Par-Con untergebracht, im Struans Tower fast ganz oben, denn das Hochhaus hatte insgesamt 52 Stockwerke. Ein anderes komplettes Stockwerk hatte nicht zur Verfügung gestanden. Er trat aus dem Aufzug und war in einer deutlich amerikanischeren Welt als im Rest des Hauses. Das Logo von Par-Con prangte an der Wand im Flur. Auch sonst war kaum ein chinesisches Möbelstück oder Dekoteil zu sehen.

Aber es gab chinesische Angestellte, so die junge Frau am Empfang: „Guten Tag, Tai Pan. Schön, dass sie so oft hier vorbeischauen. Soll ich im Büro von Miss Tcholok Bescheid sagen, dass sie kommen?“

„Nein danke, ich habe meine Frau… meine zukünftige Frau schon angerufen, sie weiß, dass ich auf dem Weg zu ihr bin.“

Er ging zielstrebig auf die Bürotür von Casey zu. Kurz bevor er sie aufmachen konnte, wurde sie auch schon schwungvoll aufgerissen und die Chefin von Par-Con stand im Türrahmen. „Hallo, was verschafft mir die Ehre?“

Er knurrte: „Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten kommen.“

„Oh, zur Abwechslung mal was Christliches, nichts von Konfuzius oder so?“

Er lachte, als er in ihr Büro eintrat. „Ja, wenn ich schon mal meinen sozialen Tag habe… ich habe dir nämlich etwas mitgebracht.“ Er zog einen Schlüsselbund aus seiner Anzugtasche und schwenkte ihn vor ihrer Nase.

Sie fragte: „Was ist das?“

„Dreimal darfst du raten!“

„Ein Schlüssel.“

„Sehr gut.“

„Aber für was?“

„Weiter raten.“

„Ian, ich habe keine Zeit, ich erwarte ein Telefax aus Los Angeles und muss dann gleich einige Anrufe tätigen.“

„Okay, kürzen wir die Sache ab. Für einen ordentlichen Kuss verrate ich es dir.“

„Habe ich dir eigentlich schon mal gesagt, dass du unmöglich bist? Mich derart von der Arbeit abzuhalten!“

Er lachte: „Ich glaube, das habe ich in letzter Zeit öfter von dir gehört, ja.“

Sie ging um ihren Schreibtisch herum auf ihn zu, schlang beide Arme um seinen Nacken und hauchte eine Andeutung von Kuss auf seine Lippen.

„Was war das? Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dir dafür sage, was es mit dem Schlüssel auf sich hat. Ich hatte doch ausdrücklich von einem ordentlichen Kuss gesprochen.“

Sie küsste ihn etwas hingebungsvoller.

„Oh nein, Miss Tcholok, das kann ich nicht durchgehen lassen. Sie haben eine letzte Chance, dann verschwindet der Schlüssel nämlich wieder in meiner Jackentasche.“

“Du bist ein gemeiner Erpresser, Ian Dunross. Jetzt verstehe ich auch, wie es dazu kommen konnte, dass deine Familie seit mehr als 150 Jahren hier das Sagen hat.“

Dann zog sie seinen Kopf ein kleines Stück weiter zu sich runter – der nächste Kuss artete in eine wilde Knutscherei aus. Casey entwand ihm dabei in einem unachtsamen Moment den Schlüssel. Sie hielt ihn Ian triumphierend hin.

Dieser hörte mit dem Küssen abrupt auf und stieß etwas atemlos hervor: „Und du, meine Liebe, bist eine ganz gerissene Diebin. Ziemlich raffiniert.“

„Was kann ich nun mit dem Schlüssel aufschließen?“

Das Geschenk: Ein Jaguar - man stelle sich den Wagen bitte in rot vor!

 

Er nahm sie an der Hand und zog sie zu dem bullaugen-ähnlichen Fenster, das so typisch für die Architektur des Struans-Towers war: „Schau hinunter. Siehst du das rote Auto? Ja? Gut, dafür ist der Schlüssel. Ich dachte, du brauchst dringend einen eigenen Wagen in Hongkong. Es ist ein Jaguar XJ-S Convertible. Nicht so eine protzige Limousine wie die von Quillan. Etwas Feineres, Sportlicheres für dich. Was sagst du?“

Sie sagte nichts, machte sich aber daran, dort wieder anzufangen, wo sie beim Schlüsselentwenden aufgehört hatten.

 






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