Montag, 31. Dezember. Den Silvesterabend verbrachte man ebenfalls traditionsgemäß in Hongkong, sofern man dem Gregorianischen Kalender folgte und nicht auf das chinesische Neujahrsfest warten wollte. Casey hatte die Woche vor Silvester damit verbracht, sich in ihrem Büro und der neu eröffneten Par-Con-Tcholok-Etage einzurichten und von da aus die Firma in Los Angeles zu leiten. Was bislang überwiegend gut funktioniert hatte, moderner Technologie sei Dank. Ihren Jetlag hatte sie schnell überwunden, auch die Schwangerschaft machte ihr nicht viel zu schaffen. Ab und zu litt sie unter leichter Übelkeit, aber das war völlig unproblematisch.
Ebenfalls hatten sie und Ian in dieser Woche erste Hochzeitsvorbereitungen getroffen. Der Gouverneur war informiert, dem es, wie er sich gegenüber dem Tai Pan am Telefon ausdrückte, eine große Ehre war, die beiden zu trauen. Außerdem hatten sie die Frage der Trauzeugen geklärt, für Ian war klar, dass Lando aus Macao kommen würde. Nur Casey haderte ein wenig, da ihre Wunschkandidatin Orlanda nicht gleich wieder nach Hongkong reisen wollte und Debbie wegen notorischer Flugangst auch ausschied. Schließlich schlug Ian ihr vor, sie solle doch mal Claudia fragen. Das fand Casey dann auch eine sehr gute Idee und die Chefsekretärin des Tai Pan strahlte über das ganze Gesicht, als sie einwilligte, Trauzeugin der Braut zu werden.
Ein Rolls Royce 'Phantom', standesgemäß mit Chaffeur, steht dem Tai Pan stets zur Verfügung
Der Rolls Royce brachte nun das Paar, über das derzeit ganz Hongkong redete, zum Silvesterball der Victoria-Bank. Ian konnte kaum den Blick von seiner Verlobten wenden, sie hatte sich die blonden Haare zu einer raffinierten Frisur hochstecken lassen und trug ein bodenlanges, kunstvoll gewickeltes Chiffonkleid von der Farbe einer blühenden Bougainvillea. Er trug mit seiner ihm eigenen Klasse eine schwarze Smokinghose und ein weißes Dinnerjackett. Das Hongkonger Fernsehen übertrug einen Teil der Veranstaltung live, vor allen Dingen das Anstoßen um Mitternacht und zuvor natürlich die Ankunft illustrer Gäste. Daher waren alle Kameras auf den Rolls Royce des Tai Pan gerichtet, als dieser vorfuhr.
Casey traute ihren Augen nicht. Sie kam sich fast wie ein Filmstar vor. Ian half ihr galant aus dem Wagen, die Kameras surrten und ein regelrechtes Blitzlichtgewitter der Fotojournalisten brach los. Die chinesische Reporterin bat um ein kurzes Interview, das Ian in fließendem Kantonesisch bewältigte. Als Casey befragt wurde, übersetzte er ihr natürlich alles. Die Frage nach dem Hochzeitstermin beantworteten sie nicht, sie wollten einen zu großen Auflauf vor dem Government House vermeiden. Dann begrüßte Paul Havergill sehr freundlich seine Gäste.
Im Inneren des Bankett-Saales kam sofort Lando Mata auf Ian Dunross zu und klopfte ihm herzlich auf die Schulter: „Ian, es tut gut dich zu sehen! Und natürlich Sie, Casey, ich bin entzückt.“
Casey lächelte den Freund ihres Verlobten strahlend an: „Sollten wir uns nicht duzen, wo Sie doch der Trauzeuge von Ian sein werden?“
Lando deutete eine elegante Verbeugung an: „Das machen wir. Und Trauzeuge für Ian zu sein, ist mir eine große Ehre. Natürlich sollten wir darauf einen Schluck trinken, wollen wir zur Bar gehen?“
Casey schüttelte den Kopf. „Nein, ich verzichte, ihr wisst schon warum. Aber lasst euch nicht abhalten, ich finde schon jemanden, der mich zwischenzeitlich unterhält, ich halte mal nach – Christian Tox Ausschau.“
Damit zogen Ian und Lando Richtung Bar davon, sie hörte ihren Verlobten gerade noch sagen: „... Lando, du scheinst mir in letzter Zeit öfter in Hongkong als in Macao zu sein…“, als sie eine bekannte, laute Stimme von hinten ansprach: „Casey Tcholok! Man hört ja tolle Dinge von Ihnen in letzter Zeit.“
Sie drehte sich langsam um und schaute in das spöttische Gesicht von Quillan Gornt. Er grinste frech und fuhr fort: „Darf ich Ihnen etwas zu trinken holen, Casey?“
Sie wollte schon ablehnen, überlegte es sich dann aber schnell anders und sagte: “Nun, ein Orangensaft wäre nicht schlecht, danke.“
Er brach in schallendes Gelächter aus, das die Aufmerksamkeit anderer Gäste bereits auf ihn und Casey zog: „Hahahaha! Ja, Hongkong ist ein Dorf und Klatsch verbreitet sich besonders schnell. Natürlich - Orangensaft für die schwangere Miss Tcholok!“
Sie zischte ihm leise zu: „Hören Sie Quillan, wenn Sie nicht sofort mit diesem Blödsinn aufhören, erzähle ich Ian doch noch, dass sie mich an jenem Sonntag im November an Bord der Sea Witch fast vergewaltigt hätten.“
Ihre Worte hatten nicht den gewünschten Erfolg, stattdessen dröhnte Gornts Lachen immer weiter durch den Raum: „Zu köstlich Casey! Und was wird Ihr guter Ian dann wohl machen? Mich zum Duell im Morgengrauen in den New Territories herausfordern? Hahaha, wenn ich mir das bildlich vorstelle! Wissen Sie was? Zu dumm, dass es bei dem Versuch geblieben ist. Hätte ich sie wirklich in mein Bett gezwungen, müssten wir jetzt wahrscheinlich ernsthaft darüber nachdenken, wer von uns beiden der Vater des Babys ist!“ Er lachte erneut gehässig.
Sie warf ihm einen zornigen Blick zu und ließ ihn einfach stehen. Sie schäumte vor Wut, als sie Ian und Lando suchen ging.
Ian sah sofort, dass etwas nicht stimmte, als er Casey erblickte. Er fragte nach: „Was ist los?“
Sie schüttelte den Kopf, atmete tief durch und sagte beschwichtigend: „Nichts, ich habe nur Quillan getroffen. Er ist ein sehr schlechter Verlierer, das muss ich schon sagen.“
Ian stimmte ihr zu: „Ja, das ist hinlänglich bekannt.“
Sie versuchten beide so gut es ging, den restlichen Abend Quillan Gornt aus dem Weg zu gehen, dieser schien zum Glück aber ebenfalls seit dem Gespräch mit Casey auf Ausweichkurs gegangen zu sein. Struans war stärker denn je, durch die Hilfe, die dem Tai Pan aus China zugekommen war, dem Geschäft mit H.K. General Stores und jetzt nicht zuletzt dank der Verbindung mit Par-Con Industries war die Aktie sehr hoch gehandelt worden. Rothwell-Gornt hatte ausgespielt, das Noble House war derzeit und wahrscheinlich auch auf längere Sicht hin unantastbar.
An diesem Abend tanzten Ian und Casey zum ersten Mal zusammen. Nach einem winzigen Augenblick der Unsicherheit passten sie sich schnell aneinander an, dann funktionierte es sehr harmonisch. Er führte sie absolut sicher, aber nicht zu dominierend. Sie wollten einander gar nicht mehr loslassen.
Derlei Dinge wurden übrigens in Hongkong immer sehr genau von den anderen Mitmenschen beobachtet und so fanden sich immer mehr Leute ein, um dem schönen, so verliebten Paar – rein zufällig natürlich – zuzusehen. Der Ballsaal war brechend voll.
Um Mitternacht standen alle dicht gedrängt zusammen und prosteten einander zu, es wurde Auld Lang Syne gespielt, Casey nippte nur kurz am Champagner, dann ging man an die Fenster, um dem imposanten Feuerwerk zuzusehen. Hongkong war berühmt für seine Silvesterfeuerwerke, was ja sowieso seinen Ursprung in der chinesischen Kultur hatte. Im verdunkelten Saal, während alle Blicke der Gäste auf die bunten Raketen gerichtet waren, zog Ian Casey hinter eine der goldenen Säulen und küsste sie leidenschaftlich, dann sagte er: „Es wird unser Jahr, Casey! Ab jetzt werden alle Jahre unsere Jahre sein, nicht wahr? Gutes Joss für uns, gutes Joss!“
Silvesterfeuerwerk über der Skyline von Hongkong