Richte dich nicht ein,
als solltest du hundert Jahre alt werden.
Denn wie nahe ist vielleicht dein Ende!
Aber solange du lebst,
solange es in deiner Macht steht - sei gut!
(Selbstbetrachtungen, Marc Aurel)
25. Dezember 1473
Während in London am Hof von König Edward dem Vierten das Fest der Geburt Christi mit Banketten, Musik, Tanz und Spiel gefeiert wurde, ging es in Yorkshire auf Burg Middleham deutlich leiser und weniger prunkvoll zu. Der Duke of Gloucester war zwar kein armer Mann, weit gefehlt, doch seine Barschaft war dennoch gering. Auch er hatte Musiker angeheuert, die während und nach den Mahlzeiten aufspielten. Die Speisen an diesen hohen Festtagen waren gegenüber dem sonst Üblichen schon deutlich aufgewertet, aber von Opulenz konnte wahrlich keine Rede sein. Alles in allem beging man hier das Weihnachtsfest sehr viel ruhiger und besinnlicher als im Palast von Westminster.
Am Vortag waren die beiden anderen Kinder Richards, der vierjährige John of Pontefract und die dreijährige Katherine Plantagenet, angekommen. Leider war das alles andere als glatt abgelaufen, denn die kleine Katherine weinte ständig, wohl weil sie ihre Mutter vermisste und vielleicht auch noch ein bisschen zu jung war, um ihre gewohnte Umgebung zu verlassen und von nun an bei fast fremden Leuten untergebracht zu werden. Anne und auch die Amme von Edward mühten sich ab, dem weinenden Kleinkind wenigsten etwas Trost zu spenden, doch Katherine war kaum zu beruhigen. John war das genaue Gegenteil seiner Halbschwester, er saß nur stumm da und beobachtete alles, sagte aber nur etwas, wenn er direkt angesprochen und gefragt wurde.
Das stellte sogar Richards engelsgleiche Geduld und liebevolle Art im Umgang mit Kindern hart auf die Probe. Er hatte sowohl John als auch Katherine nur immer kurz bei Besuchen gesehen und gesprochen, weswegen er zunächst fremd auf sie wirkte. Allerdings hatte er bei diesen Besuchen niemals Weinerlichkeit oder Trotzigkeit bemerkt, was ihn jetzt umso mehr überraschte. Zwar weinte sein Sohn mit Anne, Edward, auch, doch dieser ließ sich sofort beruhigen, wenn man ihn säuberte und ihm frische Sachen anzog oder ihm die Brust reichte. Einen Säugling wie ihn konnte man schwerlich mit seinen beiden Halbgeschwistern, die naturgemäß schon sprechen und laufen konnten, vergleichen. Es endete damit, dass Richard fast den ganzen Tag über die kleine Katherine auf dem Arm tragen musste, um ihrem Weinen halbwegs Herr zu werden, was dazu führte, dass sein Rücken höllisch schmerzte.
Am Abend wollte sie nicht in ihr Bett, das sie mit John teilen sollte, damit keiner von beiden sich allein gelassen fühlte, und Richard musste sein Töchterlein notgedrungen mit ins Ehebett nehmen. Dort schlief sie endlich, an den warmen Körper ihres Vaters gekuschelt, vor lauter Erschöpfung ein. John hingegen verharrte tapfer allein im Bett, auch wenn er mit Sicherheit ebenfalls sehr gern in seines Vaters Bett geschlafen hätte. Doch der Junge gab sich diese Blöße nicht. Er ahnte welche Bedeutung es hatte, dass er nun bei seinem Vater leben durfte und er fühlte sich gegenüber Katherine, die er insgeheim eine Heulsuse nannte, als der Überlegene. Dennoch wurmte es ihn, dass sie es durch ihre Heulerei fertiggebracht hatte, mit ins herrschaftliche Bett genommen zu werden, während er allein im Bett lag. Aufgrund dieser Gedanken überkam eine leichte Unzufriedenheit den Jungen und so vergoss auch er, wenn auch unbemerkt, ein paar Tränen bis er endlich eingeschlafen war.
Anne und Richard präsidierten über dem Weihnachtsbankett, das reichlich und gut ausfiel, aber bei weitem nicht mit dem am Königshof verglichen werden konnte. Auch die Kinder durften bei dieser Gelegenheit für einen Gang mit am Tisch sitzen, der kleine Edward lag in einer Wiege dicht dabei. John fühlte sich sehr wichtig, selbst Katherine weinte nicht, weil sie ein schönes neues Kleid trug und sich im Zentrum der Aufmerksamkeit befand. Alle bemühten sich, sie zu verwöhnen, weil sie am Vortag so sehr geweint hatte. Anne fand es übertrieben und fürchtete, das kleine Mädchen könne sich an die Schmeicheleien, die übersteigerte Fürsorglichkeit und das Hofieren gewöhnen.
Sie sprach Richard darauf an: „Denkst du nicht, es ist zu viel des Betuns für Katherine? Ich fürchte, sie wird sich daran gewöhnen und es immer so haben wollen. Herumgetragen werden, bei uns im Bett schlafen, von den Leuten verhätschelt werden... verstehe mich nicht falsch, es ist nicht, weil sie nicht auch mein Kind ist, aber ich möchte Problemen vorbeugen."
„Ich verstehe es nicht falsch. Mir sind ähnliche Gedanken auch schon durch den Kopf gegangen. Ich werde noch mehr Geduld aufbringen müssen und sie zunächst dazu bringen, im Bett mit John zu schlafen. Und das nicht alle Tage Weihnachten ist, werden die Kinder ohnehin sehr schnell merken. Ich hoffe, es sind nur Eingewöhnungsschwierigkeiten. Natürlich möchte ich kein verwöhntes Gör heranziehen. Wir brauchen Geduld und müssen zusammenstehen, vor allem, wenn wir später noch mehr eigene Kinder haben werden. Ich glaube, Eltern zu sein, ist eine der größte Herausforderungen, die Gott uns auferlegt, doch dieser Herausforderung werden wir uns stellen, nicht wahr, liebste Anne?"
Sie nickte und schob unterm Tisch ihre Hand in die seine, um diese unbemerkt von den Gästen liebevoll und anerkennend zu drücken.
Dieses Weihnachtsfest im Jahr 1473 war eines der ruhigsten, friedlichsten und schönsten im Leben von Richard Plantagenet, damals noch Duke of Gloucester. Er ahnte nicht, dass er keine weiteren Kinder mit Anne haben würde. Er ahnte auch nicht, dass ihm kaum noch solche schönen, friedvollen Weihnachtsfeste beschieden sein würden. Zwei Jahre später war Richard über den gekauften Frieden mit Frankreich so erzürnt, dass er zu Weihnachten noch immer kaum Kontakt zu Edward hatte. Ein weiteres Jahr später, 1476, ereilte die Familie drei Tage vor Weihnachten mit dem Tod von Isabel, Duchess of Clarence, eine so große Katastrophe, dass diese den Niedergang von Richards und Edwards Bruder George einläutete. Im Jahr 1477 saß George zu Weihnachten bereits im Tower wegen Hochverrats ein. Auch ein Jahr danach war Richard nur wenig nach Feiern zumute, weil George im Februar 1478 hingerichtet wurde.
Und er ahnte am Christfest 1473 garantiert nicht, dass er zehn Jahre später König von England sein würde und seine Weihnachtsfeste im Palast von Westminster würde abhalten müssen; schon gar nicht ahnte er, dass er nur zwei Weihnachten als König erleben und er keine zwölf Jahre mehr leben würde, von seinen schweren Verlusten von Sohn Edward und Gemahlin Anne gar nicht erst zu reden.
Wie gut war es doch, dass Gott einem die Gabe der Voraussicht nicht gewährt hat, denn so war es Richard in diesen Tagen im Dezember 1473 möglich, ein wundervolles, alles in allem sehr besinnliches Fest auf seiner geliebten Burg Middleham, im geliebten Yorkshire, mit seinen Allerliebsten versammelt um ihn, zu begehen. Selten zuvor und kaum danach hatte er sich so wohl, geliebt und angenommen gefühlt...