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Author's Chapter Notes:

 

Heute lernen wir etwas über Hypocras und über alte englische Hohlmaße.

https://de.wikipedia.org/wiki/Hypocras

Das Quart entspricht 1,14 Litern und das Pint entspricht 0,568 Litern. 










 

Ach, es ist so dunkel in des Todes Kammer,
Tönt so traurig, wenn er sich bewegt
Und nun aufhebt seinen schweren Hammer
Und die Stunde schlägt.

(Der Tod, Matthias Claudius)

Als ich wiederkomme, traue ich meinen Augen nicht. Er steht am Küchenfenster und hat die Hände in sichtlicher Verzweiflung vors Gesicht geschlagen. Ob er weint oder nicht, kann ich nicht feststellen, doch ein Blick auf den Laptop offenbart, dass er seinen eigenen Namen - ich kann mir denken, langsam und übervorsichtig - eingeben hat. Die Ergebnisse füllen den Bildschirm, unter anderem sieht man wenig schmeichelhafte Porträts von ihm. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.

„Dickon! Ich sagte doch, dass das Meiste Schwachsinn ist."

Er ist überraschend wütend, als er aufschaut.

„Schwachsinn? Wozu gibt es dann diesen... diesen Apparatus überhaupt, wenn er - wie du behauptest - Schwachsinn verbreitet? Und nenn‘ mich gefälligst nicht Dickon!"

„Aber...", ich verzichte klugerweise auf den Protest bezüglich seiner Anrede und versuche mich stattdessen in Beschwichtigungen, „es ist meist ein Zeitvertreib, wie Bücher lesen, jedoch darf man nicht alles für bare Münze nehmen, was im Internet... in dieser Maschine erscheint."

„Gut, dann kannst du mir sicher sagen, dass mein darin angegebenes Todesdatum auch Schwachsinn ist, ja?"
Er hat es also gelesen! Verdammt, verdammt, verdammt! Zahlen sind ja auch eindeutiger und besser zu lesen als moderne Buchstaben.

„Und die Bilder? Wie kommen so schreckliche Gemälde, Abbildungen meiner Person in dieses... dieses Teufelsding? Gemälde, die mir nicht im Entferntesten ähnlich sind!"

„Oh, Dickon..." mir fehlen die Worte und ich sacke erschöpft am Türrahmen entlang auf den Boden.

Sein Mitleid mit mir hält sich in Grenzen, eher äußert sich seine Gemütslage gerade durch nahezu ungezügelte Wut.

„Ich möchte sofort zurück! Wenn nicht, schlage ich dir eigenhändig den Kopf ab."

Na bravo! Vielleicht wäre das ja die Lösung und mein Opfertod brächte ihn in seine Zeit zurück. Weiß man's?

Matt erwidere ich: „Sei nicht albern. In der heutigen Zeit gibt es keine Todesstrafe mehr im Ver... im Königreich."

Er ist sichtlich betroffen.

„Was? Königin... Elizabeth lässt keine Verbrecher hinrichten?"

„Nein."

„Was geschieht dann mit Verbrechern und Verrätern?"

„Sie bekommen eine Gerichtsverhandlung und werden, falls sie bei schweren Vergehen schuldig gesprochen werden, ins Gefängnis gesteckt."

„Eingekerkert?"

„Ja, sozusagen."

„Da muss das Gefängnis Ihrer königlichen Gnaden aber recht voll sein, oder?"

„Es handelt sich um deutlich mehr als nur ein Gefängnis, Dickon. Wir können gerne im Internet nachschlagen, wie viele es genau sind."

„Du meinst in diesem... Ding?" er deutet geringschätzig auf den Laptop.

Ich nicke schwach.

„Um dann Schwachsinn zu erhalten?"

Ich kriege die Krise!

„Zugegeben, nicht alles darin ist Schwachsinn", murmele ich.

„Aha. Also stimmt mein Sterbedatum?"

Ich kann nicht antworten.

Er kommt auf mich zu und fasst mich an der Schulter.

„Kendra? Es stimmt, nicht wahr?"

Ich hebe mein Gesicht an und er sieht mit Bestürzung meine Tränen.

„Wenn du hierbleibst, entgehst du doch sicher alldem", schluchze ich undeutlich.

Er starrt mich entgeistert an.

„Kendra! Das ist unmöglich! Hast... hast du ein Buch? Etwas anderes, als dieses... dieses merkwürdige Etwas hier, wo ich Buchstaben drücken muss, die nichtssagend für mich sind, und das vorgeblich Schwachsinn ausspuckt?"

Ich weiß zwar nicht, was er vorhat und was er damit bezweckt, doch ich raffe mich mit etwas Mühe auf, schniefe kurz und zerre dann die Encyclopaedia Britannica aus dem Bücherregal im Wohnzimmer, die auch noch nicht sehr lange da steht, die nämlich gestern noch in eine Kiste im Flur gepackt war, eine der wenigen Kisten übrigens, deren Inhalt mir halbwegs geläufig war.

„Bitte."

Er wiegt das Buch in seinen schmalen Händen, die eher wie die einer Frau aussehen, die aber erstaunlich fest ein Schwert packen und führen können, wie ich bereits feststellen durfte.

„Ein schweres Buch. Schön. Ich werde deine Hilfe brauchen. Es... es sind moderne Buchstaben."

Ich beuge mich zu ihm und mir wird zum ersten Mal sein Duft bewusst.

Fremd, aber nicht ganz ungewohnt: ein bisschen Leder - seine Stiefel und sein Gürtel; ein bisschen Rauch - die großen Kaminfeuer im Schloss; ein bisschen Schweiß - ein Bad ist auch für einen König Luxus und er hat Angst; ein bisschen Tee und Bier - seine Flüssigkeitszufuhr heute Morgen.

Und wie auf's Stichwort merkt er an: „Ich habe Durst. Hast du Hypocras im Haus, Kendra?"

„Hypo... Hypocras nicht," wieder danke ich meiner Mittelalter-Lager-Erfahrung dafür, diesen Würzwein zu kennen, „aber normalen Wein, denke ich mal. Warte, erst zeige ich dir die Seiten über... über dich und dann schaue ich nach, in welchen Kisten meine Weinflaschen sein könnten. Einverstanden?"

„Einverstanden."

Ich blättere durch den Wälzer und schlage dann eine Seite vor ihm auf, die ihn wahrscheinlich interessieren wird: Ein großes Bild von Königin Elizabeth der Zweiten bei ihrer Krönung.

„Das ist die jetzige Königin bei ihrer Krönung."

Richard blickt mit Interesse auf das Bild.

„Sie ist sehr schön und sie sieht kaum anders aus als Edward oder ich bei unserer Krönung. Vielleicht trägt sie sogar noch prächtigere Juwelen. Ich bin beeindruckt. Wann war das?"

„1953."

Sein Blick wandert überrascht vom Bild zu mir.

„Sie ist seit zweiundsechzig Jahren Königin? Und ein Kind scheint sie bei ihrer Krönung nicht gewesen zu sein. Wie alt ist sie jetzt?"

Ah, Richard der Schnellrechner, mal wieder. Das kann er ohne Frage perfekt.

Doch ich muss ihn verbessern, allerdings nicht wegen eines Rechenfehlers.

„Sie ist seit dreiundsechzig Jahren Königin, sie wurde ein Jahr nach dem Tod ihres Vaters gekrönt. Und sie wird in elf Monaten neunzig, Dickon."

„Eine von Gott gesegnete Frau und Herrscherin. Ich mag sie."

Diese gerade von ihm gemachte Äußerung hat etwas sehr Rührendes, Ehrliches. Ich bin sehr erstaunt und blättere rasch weiter.

„Und jetzt zu deiner Seite, schau, ab hier. Ich beeile mich nun auch mit dem Wein."

Eilig reiße ich Kiste um Kiste auf, die meisten davon stehen in einer noch nicht eingerichteten Ecke des Wohnzimmers, ein paar wenige im Flur. Wie immer in einem solchen Fall befindet sich das Gesuchte in der letzten Kiste! Erleichtert nehme ich zwei Flaschen einer teuren französischen Marke an mich und hechte in die Küche zurück. Diesmal finde ich keine unliebsame Überraschung vor.

Richard sitzt still vor der Buchseite und hält eine seiner Hände flach aufs Papier gepresst.

„Der Wein, ich habe ihn gefunden."

„Gut."

Während ich ein Glas aus dem Schrank hole und einen Korkenzieher ansetze, wandert sein Blick mit Interesse vom Buch zur Flasche. Als der Korken mit einem lauten ‚Plopp‘ aus dem Flaschenhals fährt, zuckt Richard wieder zusammen.

„Gibt es keine Weinfässer und Karaffen mehr?"

„Doch, aber... aber für den Hausgebrauch nicht. Der Wein wird in der Kellerei, beim Winzer gewissermaßen, schon in Flaschen abgefüllt. So hält er sich länger und... und es geht beim Transport nichts verschüttet."

Immer praktisch denken, Kendra!

„Ich sehe. Ein bisschen wenig in diesen... Flaschen, oder?"

„Nicht ganz ein Liter."

„Liter?"

Oh, wenn man mich nun nach dem korrekten Hohlmaß aus dem Jahr 1485 fragt, werde ich passen müssen.

„Sieht wie etwas mehr als ein Pint und nicht ganz so viel wie ein Quart aus, wenn man mich fragt."

Halleluja, Richard kennt sich aus!

„Wenn du das sagst. Aber den Vergleich zum Pint kann ich gelten lassen, das gibt es heute noch."

„Wirklich? Sehr erfreulich."

Ich schenke mit Grazie ein und stelle Richard das Glas hin.

Er greift es vorsichtig und murmelt: „Ich finde diese unfassbar dünnen Gläser zum Trinken wenig geeignet. Becher aus Zinn, Silber oder Gold wären besser. Sie brechen nicht, sollte man sie einmal fallen lassen."

Er trinkt - und das Glas ist annähernd leer. Joi, hat der Mann einen Zug am Leib!

Sein Blick trifft mich frontal.

„Woher ist dieser Wein?"    

„Aus... aus Frankreich", stottere ich unsicher.

„Frankreich? Die Franzosen sind Lumpen, wo ihnen das Hemd am Körper anliegt, aber verdammten Wein können sie machen. Ich habe niemals zuvor einen so köstlichen Tropfen getrunken."

Für mich das Stichwort nachzuschenken.

„Trinkst du nichts, Kendra?"

Ich schüttele den Kopf.

„Zu früh am Tag. Am Abend vielleicht."

„Sehr diszipliniert. Aber leidest du denn bis dahin keinen Durst?"
„Nein. Ich trinke andere Sachen. Wasser, Saft... ähm, Most und so etwas."

„Wasser? Davon holt man sich den Tod! Nur arme Bauern saufen Wasser und sterben weg wie die Fliegen."

„Nicht mehr heute, Dickon. Wasser ist... sehr gesund."

„Bei Gott, das ist eine verrückte Welt, in der du hier lebst. Zurück zum Buch. Ich finde hier das gleiche Datum und... die gleichen hässlichen Bilder, die angeblich mich zeigen sollen."

Er klingt bemüht sachlich, doch ich denke, er zeigt seine wahre Verfassung gerade nicht.

„Ja."

„Ich kann das nicht lesen, nur die Zahlen sagen mir etwas. Am 2. Oktober 1452 geboren, das ist richtig, und am 22. August 1485... nun ja...", er trinkt das nächste Glas so gut wie leer und fragt dann beinahe emotionslos: „Wie werde ich sterben?"






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