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Author's Chapter Notes:

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Erster nachbarlicher Besuch...und was für einer!

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Harry war allein. Er hatte noch einen Tag frei und war zum ersten Mal seit Tagen ganz allein. Annabelle war am Vortag, nicht lange nach dem Frühstück zurück nach London gefahren und Jack war ihr am Nachmittag gefolgt.
Der Abschied von seinem Freund war Harry nicht leicht gefallen. Er hatte sich plötzlich ein bisschen verloren gefühlt. Den Rest des Tages hatte er genutzt, um im oberen Stockwerk Kisten und Kartons auszuräumen und seine Klamotten zu sortieren.

Ein herrlicher Tag war angebrochen, die Sonne schien durch die Fenster und ein goldenes Herbstlicht erhellt die Räume im Cottage. Es war merklich kühler geworden, die Luft war klar und kalt.
Nach dem Frühstück brach er zu einem Spaziergang auf. Man musste nicht weit gehen, im direkt auf den Wiesen und Feldern anzukommen, die das kleine Dorf umrahmten. Er genoss die Stille und auch die tiefstehende Sonne. Er konnte frei atmen und sog die Herbstluft ein.

Immer wieder ertappte er sich dabei, wie er sich nach der Frau umsah, die gestern aus der Kirche in das Pfarrhaus gegangen war. Doch er konnte sie nirgends entdecken. Während des Spaziergangs begegneten ihm nur zwei Menschen, jedoch sprach ihn niemand an.
Auf dem Rückweg kehrte er in den Dorfladen ein. Heute waren hier mehrere Menschen versammelt, Harry vermutete, dass sie alle aus dem Dorf stammten. Sie unterhielten sich und Harry konnte nicht umhin, einige Gespräche mitzuhören.

Langsam ging er an den Regalen vorbei, verharrte hier und da und belauschte dann zwei Frauen, die sich über Vikar Granger unterhielten. Das war interessant! Der Vikar, der in direkter Nachbarschaft zu Harry wohnte, war eine Frau! Was für eine Überraschung! Die Damen unterhielten sich über den letzten Gottesdienst am Sonntag und waren hinsichtlich der Predigt der Vikarin wohl geteilter Meinung.

Harry schlich an den Regalen entlang, um noch mehr über die Frau zu hören, die der Kirchengemeinde von Dibley vorstand. Er blickte konzentriert auf die Dosen, die er eigentlich gar nicht brauchte oder wolle, nahm die eine oder andere in die Hand und legte sie in seinen Korb.
Sicher hatte Vikarin Granger keinen leichten Stand in diesem Dorf, eine Pfarrerin war selbst in diesen Zeiten keine Selbstverständlichkeit. Immer noch gab es weitaus weniger weibliche Geistliche als männliche in England. Harry kannte zwar keine Statistiken, doch dessen war er sich sicher.

Aha, mehr als zehn Jahre war sie schon hier. Dann hatten die Dorfbewohner sich bestimmt an sie gewöhnt, sie war kein Neuling mehr in der Gemeinde. Mittlerweile türmten sich die Lebensmittel in Harrys Korb, doch er konnte die Ohren vor dem Gespräch über Vikaren Granger nicht verschließen, also folgte er den beiden Damen so unauffällig wie möglich durch den Laden. Das war nicht so einfach, er war einfach zu groß, um unauffällig zu wirken. So dauerte es auch nicht lange, bis die beiden Damen verstummten und sich abrupt zu ihm umdrehten. Er stockte und stand ziemlich belämmert vor den Frauen. Peinlich berührt blickte er sie an. Er lächelte sie entschuldigend an und wünschte ihnen einen wunderschönen Tag.

Hastig wandte er sich um und ging mit dem Korb voller unsinniger Lebensmittel zur Kasse. Er bezahlte sie wortlos und verließ den Laden. Verhungern würde er auf keinen Fall!
Okay, jetzt hatte er seinem Ruf im Dorf alle Ehre gemacht. Jetzt galt er wahrscheinlich auch noch als Spanner. Ein Spanner, der schwul war und es aber auch im Pyjama mit einer kleinen Blonden trieb, und das früh am Morgen. Denn eines war sicher, jetzt kannten alle den neuen Besitzer von ‚Sleepy Cottage’, die absurde Geschichte von gestern hatte bestimmt ihre Runde gemacht.

Doch mittlerweile kannte er auch einige Bewohner von Dibley. Okay der weibliche Vikar war ihm noch nicht begegnet, er hatte aber immerhin von ihr gehört. Er hatte einen alten Kauz mit Vorliebe zum Orgelspiel und Verneinungen kennen gelernt. Er kannte Mr. Horton, den Mann mit zehn Kindern. Den Dachdecker Morris, der auch Umzugspeziallist war und sich phänomenal streiten konnte. Er kannte die Besitzerin des Lebensmittelladens, zwei gesprächige Bewohnerinnen Dibleys und Mr. Newitt, der seinem Outfit nach zu urteilen wahrscheinlich Farmer war. Da fiel der neueste Bewohner Dibleys, Harry, doch gar nicht ins Gewicht.

Auf dem Weg nachhause kam er wieder an der Kirche vorbei, und er schaute unbewusst kurz zur Kirchentür hinüber, aber heute kam keiner aus dem Gebäude. Dann blickte er zum Pfarrhaus gegenüber. Sollte er sich vielleicht heute schon dort vorstellen? Die Pfarrerin war nun seine Nachbarin und er hoffte, dass er sich mit ihr und ihrer Familie gut verstehen würde. Hatte sie überhaupt eine Familie? Die Ladies im Laden hatten keine Familie erwähnt.

Der Besuch musste wohl warten, er hatte sich heute noch einiges vorgenommen und wollte mit der Arbeit nicht unbedingt in Verzug geraten. Am Abend wollte er zumindest einen Raum soweit wohnlich eingerichtet haben, dass er sich darin auch wohlfühlen konnte.
Er ging durch die Auffahrt zu seinem Haus und blieb einen Moment stehen. Er schaute verträumt auf seinen Besitz und sein Herz machte einen Satz. Die Erfüllung eines lang gehegten Traumes. Er war stolz auf sich und darauf, dass er es geschafft hatte diesen Traum in Erfüllung gehen zu lassen.
Schade, dass jetzt niemand bei ihm war, mit dem er dieses schöne Gefühl, dieses Glück teilen könnte.

Bis zum Abend hatte er sich keine Pause gegönnt, doch im Wohnraum sah es immer noch fast unverändert aus. Es lagen jetzt noch mehr Bücher und CD’s herum, einige Stühle standen übereinander gestapelt und nahmen jede Menge Platz weg und diese verfluchte Stehlampe stand auch ständig im Weg!
Es war schon lange dunkel draußen, als es plötzlich an der Tür klopfte. Harry erstarrte. Er wunderte sich, wer ihn um diese Zeit noch besuchen wollte. Eigentlich hatte er keine Lust auf Besuch. Er strich sich schnell durch die Haare und zog seinen Ringelpulli glatt. Der Ringelpulli! Ausgerechnet! Ihm fielen Jacks Worte zu diesem Thema ein! Daran war auf die Schnelle nichts zu ändern. Schließlich ging er zur Tür, öffnete sie und ... da stand sie!

Er hatte seit gestern so oft an sie gedacht, es kam ihm fast wie ein Wunder vor, dass sie jetzt dort vor seiner Tür auftauchte! Sie war nicht allein, an ihrer Seite war eine junge blonde Frau mit einer interessanten rosa Steppjacke. Beide Frauen lächelten ihn an und er brachte nichts weiter heraus als: „Oh, hallo!“

Er bat beide herein und führte sie in das Wohnzimmer. Jetzt ärgerte er sich, dass er diesen Raum noch nicht auf Vordermann gebracht hatte. Er lächelte und entschuldigte sich für die Unordnung. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund war er plötzlich sehr nervös. Er sah auf diese Frau herab, sie war fast zwei Köpfe kleiner als er, sogar noch kleiner als die ihm knapp zur Schulter reichende Dorothy. Sie wiederum hob den Kopf und sah ihn mit einem offenen Lächeln an. Harry fühlte sich wie paralysiert, er vergaß beinahe, sich vorzustellen. „Ich bin übrigens Harry!“ Klasse, mehr fällt dir nicht ein, dachte er – und das stimmte.

Sie ließ sich nichts anmerken und stellte sich ihrerseits als Geraldine vor. Geraldine, er ließ diesen Namen in seinem Kopf nachklingen. So ein schöner Name – Geraldine! Er nahm ihre ausgestreckte Hand in seine.
Ihre Begleiterin stellte sich auch vor. Er hörte gar nicht richtig hin, schüttelte aber auch ihre Hand. Er versuchte sich auf ein Gespräch einzustellen, er verstand nicht warum es ihm so schwer fiel, einen klaren Gedanken zu fassen.
In seiner Vorstellung erschien plötzlich das Bild eines Fells vor einem warmen Kamin – was für Einfall! Du meine Güte, Harry, reiß dich zusammen.

Die beiden waren laut eigener Aussage gekommen, um sich vorzustellen und den Neuankömmling zu begrüßen
Entgeistert kreuzte er die Arme vor der Brust und äußerte sein Erstaunen über die Tatsache, dass in den ganzen fünfzehn Jahren in London, keiner der Nachbarn je an seiner Tür geklingelt habe. Und diese Alice faselte etwas über eine Klingel, die falsch geschaltet war.
Geraldine hingegen deutete auf seine Bücher, die im gesamten Raum verteilt waren und fragte ihn nach seinen Lieblingsschriftstellern. Harry versuchte sich zu sammeln und eine ansatzweise gescheite Antwort zu geben, was ihm wundersamerweise auch halbwegs gelang. Das erstaunte ihn selbst, denn in seinem Kopf schwirrte es regelrecht und sein Herz pochte und hämmerte.

Wie er den Rest der Zeit überstand, war ihm ein Rätsel. Später, als er wieder allein war, konnte er nicht mehr genau nachvollziehen, was er getan oder gesagt hatte. Ihm war seine Frage nach ihren Lieblingsautoren noch in Erinnerung, worauf diese Frau in rosa über ein Buch gesprochen hatte, in dem ein Maulwurf sich wundert, wer ihm wohl auf den Kopf geschissen hatte.
Geraldine nannte Jane Austen und die Bibel. Die Bibel, eigenartig, dass sie ausgerechnet darauf stand. Doch ihre Ausführungen zu ihrem Lieblingsbuch von Austen, Sense and Sensibility – die war ihm noch sehr gut in Gedächtnis. Sie ist eine Romantikerin, davon war er überzeugt! Und passte das nicht auch zu ihr? Mit ihrem strahlenden, weichen Zügen und ihrer herzlichen Offenheit – sie musste eine Romantikerin sein! Sie liebte Geschichten, in denen Frauen von gut aussehenden Fremden geradezu von den Füßen gehauen wurden.

Was für eine Vorstellung! Sprach sie aus Erfahrung? War sie je von einem gut aussehenden Mann erobert worden, oder war ihr Herz gar noch frei? Noch bevor er wusste was er sagte, hatte er sie bereits danach gefragt, ob sie so etwas hier in Dibley schon erlebt hätte. Die eigentümlichsten Gedanken sausten in seinem Kopf herum – und wieder dieses Fell vor dem Kaminfeuer ... .jetzt hat es dich endgültig erwischt, Harry!
Er neigte sich zu ihr, blickte sie an und sie antwortete nur: „Nicht wirklich!“






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