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Author's Chapter Notes:
Die Verhandlung nimmt ihren Lauf ... und andere unerwartete Ereignisse!








Ich stieg montags früh um halb sieben in den Zug in King’s Cross und kam ohne umzusteigen um 8:48 Uhr in Leeds an.  Ein Taxi brachte mich direkt zum Leeds Crown Court, wo die erste Verhandlung für 11 Uhr am Vormittag angesetzt war. Just in time also und keine Zeit, einen Vertreter der Anklage oder der Verteidigung vorab zu kontaktieren. Per Mail hatte ich mich bereits angemeldet. Journalistisches Interesse aus der Metropole konnte einem manche Türe öffnen.

 

Im Gerichtssaal saßen  4 Jugendliche, 3 Jungen und ein Mädchen, auf den Plätzen der Angeklagten, daneben offensichtlich ihre Pflichtverteidiger. Publikum war auch schon reichlich anwesend, auch einige Jugendliche, die dem ersten Augenschein nach  ihre  Altersgenossen unterstützen wollten.

Die angeklagten Jugendlichen sollten gemeinsam in mehrere Einbruchdiebstähle verwickelt gewesen sein, das Mädchen wurde außerdem der Erregung öffentlichen Ärgernisses beschuldigt, weil sie im Schankraum einem Pub mehrere männliche Gäste befriedigt hatte. Erstaunlich, dass die Männer hier nicht vorgeladen waren.  Ein anderes Verfahren? Den Gedanken an eine applaudierende, johlende Männerschar konnte ich nicht ganz verdrängen, als ich die Verlesung der Anklage verfolgte.

Ich tippte so viel es ging in mein Tablet und versuchte gleichzeitig, Reaktionen aller Beteiligten sowie aus dem Publikum aufzunehmen. Gegen 12:30 Uhr wurde die Sitzung unterbrochen und auf den Nachmittag vertagt.

„Hi“, hörte ich beim Hinausgehen eine Stimme links neben mir, und als ich mich umdrehte, erkannte ich den Typ, der mir damals bei meinem ersten unseligen Ausflug nach Leeds behilflich war, diese Ölförderfirma zu finden, bei der ich einen Pressetermin hatte.

„Hi, Sie hier? Ach stimmt, Sie sind ja Sozialarbeiter!“, erwiderte ich. „War ich mal, ja.“, gab er zurück. „Berichten Sie etwa über diesen Prozess? Für welche Zeitung?“  „Ich schreibe für den Evening Standard. Wieso?“ fragte ich. „Na ja, ich weiß nicht, ob ich das jetzt gut oder schlecht finden soll. Kommen Sie noch öfter her?“ „Ich bin die ganze Woche hier,“ antwortete ich und scherzte:  „Die wissen, dass ich hier gute Connections habe.“ „Ach, haben Sie? Schön. Ich geh mal raus zu den Kids.“ Sprachs und verschwand. Ich sah im Augenwinkel noch seinen wehenden Tweedmantel. Sieh an, er besaß mehr als nur den einen Parka von damals.

Dass mir so etwas jetzt durch den Kopf ging?!

In der Verhandlungspause versuchte ich, den Anwalt der Jugendlichen aufzutreiben, aber der verweigerte eine Stellungnahme. Klasse. Das fing ja gut an. So blieb mir für’s erste ein Kaffee aus dem Automaten und die ungemütliche Bank im Flur, wo ich meine Infos noch einmal checken wollte. Ich hatte noch reichlich Zeit und beschloss, nun doch erst mal ein Taxi zu meinem Hotel  zu nehmen um mein Gepäck dort abzustellen. Auf dem Rückweg fing es an zu regnen. Ich kaufte  mir noch eine Tageszeitung und ein Sandwich und verbrachte die restliche Zeit wieder im wenig einladenden Flur des Crown Court.  In der lokalen Tageszeitung nahm das Verfahren nur einen kleinen Raum ein. Angst um’s  Image bestimmte hier offensichtlich die Schlagzeilen. „He Lady, haben Sie mal ‚ne Kippe für mich?“, sprach mich da jemand von der Seite an. „Ich rauche nicht, sorry,“ antwortete ich und blickte zur Seite, wo ein hellblond gefärbtes Mädchen mit einigen Piercings gerade abdrehte. „He, warte mal! Draußen ist doch ein Automat. Ich glaub, ich brauch auch eine.“  Sie hatte sich  noch einmal umgedreht und folgte mir in Richtung Ausgang. Sieh‘ da, die Sucht hatte mich wieder, natürlich immer im Dienst und für meinen Arbeitgeber.

Die Kleine verdrückte sich sobald sie ihre Beute in Händen hielt und ich blieb noch eine Weile draußen, bis ich die Zigarette geraucht hatte. Zum Schluss fühlte es sich gar nicht mehr so fremd an.

Wieder im Flur an „meiner“ Bank angekommen wurde mir klar, dass ich gerade bitter für meine Naivität bezahlt hatte: meine Tasche samt Handy und Tablet war weg! Und natürlich war niemand weit und breit zu sehen, denn die Verhandlungspause war erst  in einer guten halben Stunde zu Ende.

Wie konnte ich die Sachen auch stehen lassen?  Ich hätte mich in der Luft zerreißen können.  Zum Glück hatte ich mein Portemonnaie und den Zimmerschlüssel  des  Hotels in die Hose gesteckt …  Schwacher Trost, denn wie sollte ich meine ganzen Aufzeichnungen aus dem Gedächtnis rekonstruieren? Und mein Handy…

Ich ging zur Pforte und fragte den Polizisten am Ausgang, ob er jemand mit einer braunen Ledertasche gesehen habe, deren Aussehen und Inhalt ich ihm genau beschrieb. Er hatte zwar zwei Jugendliche gesehen, die das Gebäude verließen, allerdings ohne Tasche.

Er nahm meine Anzeige auf, aber ich erhoffte mir erstmal nicht viel davon. Immerhin konnte er mir einen Laden um die Ecke empfehlen, wo ich mir Schreibzeug besorgen konnte. Back to the roots also.

Aus einer öffentlichen Telefonzelle informierte ich Lindsay, die zum Glück schon zu Hause war, über mein Missgeschick und bat sie, mein Ersatzhandy per Express an die Hoteladresse zu schicken. Eigentlich bin ich nämlich notorisch vorsichtig und durch den Umgang mit Justiz und Strafdelikten  hypersensiblisiert war mir irgendwann einmal die Idee gekommen, ein Zweit-Handy anzuschaffen. Für alle Fälle. Zwischendurch hielt ich das selber immer mal für einen Anflug von Paranoia. Jetzt war ich froh, dass es existierte. Mit allen Kontakten. 




To be continued
ella2208 ist Autor von 2 anderen Geschichten.



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