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Author's Chapter Notes:
Und wieder Leeds ...








London war ziemlich anstrengend, aber genau das hatte ich mir gewünscht! Provinz war lange genug mein Alltag gewesen. Freiberuflich zu schreiben, noch dazu im Ausland,  war in den Augen all meiner Freunde und meiner Familie halsbrecherich. Aber ich war stur und irgendwie gelang es mir, genügend Aufträge an Land zu ziehen, um mir das Zimmer in der WG leisten zu können. Ich schrieb über Polizeirecherchen, Fußball- und Cricketspiele, ab und zu über Konzerte, Schulaufführungen und immer wieder auch Industriereportagen. Lindsay und Paula, meine Mitbewohnerinnen, arbeiteten beide im Schichtdienst: Lindsay als Pflegerin in einem Krankenhaus und Paula als DJane und Eventfrau ganz oft nachts. Ich genoss es, viel Zeit und Raum für mich allein zu haben, obwohl  ich den Tratsch  bei einer Tasse Kaffee – das konnte ich mir nicht ganz abgewöhnen – oder Tee mit den beiden „Eingeborenen“ durchaus genoss.

Die Wochenenden verbrachte ich oft auf Cricket-Grounds, in Fußballstadien oder bei Gartenausstellungen. Wenn es mein Terminplan zuließ, gönnte ich mir samstags ein ausgiebiges Frühstück mit meiner Lieblingskollegin in einem der Coffeeshops. Oder ich schlenderte durch Little Venice. Diese Hausboote, die dort auf dem Kanal vor sich hinschaukelten, fast alle mit überbordendem Blumenschmuck, hatten es mir angetan. Das wär mal  etwas, wenn man mich nach Zukunftsperspektive fragte.

Es war Samstagnachmittag und ich wollte gerade zu meiner Joggingrunde im Regents Park aufbrechen, als mein Handy klingelte. Ein Redakteur einer meiner Arbeitgeber bat mich auf seine unmissverständliche Art, gleich am Montag nach Leeds  zu fahren, wo das Verfahren gegen eine Jugendgang eröffnet werden sollte. Seine knappen Informationen hatte ich nun durch eigene Recherchen zu ergänzen. Der Abend am Notebook war also vorprogrammiert.

In Leeds hatte sich eine richtige Sub-Society entwickelt: herrenlose Kids bedienten sich in Supermärkten, knackten Autos, zündeten sie „nach Gebrauch“ an, kifften, dealten und schlimmeres. Mädchen aber auch Jungs um die zehn prostituierten sich für einen Schuss. Sie lebten auf der Straße oder in stillgelegten, zerfallenden Industrieruinen, teilweise auch in anonymen Wohnsilos. Die besagte Gang war mehrerer schwerer Drogendelikte, Einbruchdiebstähle sowie der Prostitution beschuldigt. Wo waren eigentlich die Erziehungsberechtigten dieser Kinder? War es nicht das, was mir dieser Typ damals in Leeds erzählt hatte? Wie hieß er nochmal? Russell?

Je tiefer ich in diese Recherche einstieg, umso gruseliger erschien mir alles. Wo lebten wir hier eigentlich? In einem Industrieland im 21.  Jahrhundert? Biblische Zustände à la Sodom und Gomorrha kamen den Artikeln, die sich mir auftaten, näher als eine Wohlstandsgesellschaft in Westeuropa. Dass man in einer Großstadt wie London mit den abstrusesten Abgründen menschlichen Zusammenlebens konfrontiert werden würde war eine Binsenweisheit.  Aber in der „Provinz“?

Ich konnte mich mit meinem Bibliotheksaccount in die Online-Ausgaben der lokalen Presse einloggen und las mich für den Rest des Abends durch die Lokalausgaben der Yorkshire Post und anderer Blätter. Es war eine ziemlich traurige Angelegenheit und schien mir schon auf dem bloßen Papier für die Kids mehr oder weniger aussichtslos zu sein. Leserbriefe zum Thema rieten in der Mehrzahl zu restriktiven Maßnahmen den Jugendlichen gegenüber.

Laut meiner Informationen waren für die kommende Woche 2 Verhandlungstermine angesetzt, montags und donnerstags. Also musste ich mich im Handumdrehen um eine Unterkunft in Leeds kümmern. Das letzte Mal hatte ich Orientierungsprobleme...

 






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