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Author's Chapter Notes:

 

Es ist historisch betrachtet nicht korrekt, dass in diesem Kapitel vom Stadtpalais am Belgrave Square die Rede ist, denn diesen gab es im frühen 19. Jahrhundert noch nicht. Ich habe mich dennoch für diesen Ort entschieden, weil es letztlich ziemlich unrelevant ist, ob es sich nun um den Hanover, Cavendish (diese beiden Plätze existierten zu dieser Zeit bereits mitsamt den notwendigen hochherrschaftlichen Häusern) oder eben Belgrave Square handelt. Dieser steht nämlich nur exemplarisch für diese Art von Stadtanwesen und vornehmer, georgianischer Wohngegend.










 

Selten zuvor war Serena um Worte verlegen gewesen, sie hatte stets tapfer allem Unbill entgegengesehen und das Unausweichliche möglichst gelassen hingenommen. Doch in Gegenwart von Justin gelang ihr das fast nie, denn sobald sie ihm gegenüber stand, wurden ihre Knie weich wie Butter.

Er räusperte sich vernehmlich und meinte dann: „Gut, da es dir offensichtlich die Sprache verschlagen hat, aus welchem Grund auch immer, möchte ich dir einfach mitteilen, dass ich deiner Bitte von gestern nicht entsprechen kann. Mit mir nach London zu kommen, ist unmöglich. Es... es ist vielmehr mein Wunsch, dass du, sobald du hier alles erledigt hast, nach Mandrake zurückkehrst, dort bleibst und nach dem Rechten siehst."

Sie reckte trotzig ihr Kinn vor, blieb jedoch noch immer stumm. Justin begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Ihr Schweigen machte ihn irre. Schließlich schritt er auf die Tür zu, drehte den Türknopf in seiner Hand und neigte leicht seinen Kopf, um sich formell von seiner Gattin zu verabschieden.

Es schmerzte ihn, Serena in unguter Stimmung zu verlassen, doch was blieb ihm anderes übrig? Wenn sie partout nichts sagen wollte, war das allein ihr Problem. Entschlossen öffnete Justin die Tür und machte einen Schritt in den Korridor, als ein zittriges Stimmchen ertönte:  „Gute Reise, Mylord."

Lord Vulcan atmete tief ein, wandte sich um und erwiderte: „Herzlichen Dank", dann stieß er den Atem aus und ergänzte mit einem Timbre in der Stimme, das Serena Gänsehaut bescherte, „...Serena."

Sie schmolz dahin. Die Tür fiel mit einem Kick seines Stiefelabsatzes zu und eine Sekunde später hatte er die schmale Taille seiner Frau, im Kleid neuester Mode jedoch optisch nicht auszumachen, umfasst und küsste sie glühend. Er war ein Sklave seiner Liebe zu ihr, ein willenloses Etwas, das sich seinen Gefühlen ergab.

Schwer atmend trennte er sich von ihren Lippen und diesmal schwieg er, weil er nicht wusste, wie er Worte für das finden sollte, was ihm mit Serena widerfuhr. Er würde sich nur zum völligen Narren machen.

„Es tut mir leid, dass ich gestern so kühl zu dir war und... und wir die Nacht getrennt voneinander verbracht haben."

Er nickte verzeihend zu ihrer Entschuldigung und biss sich betreten auf die Lippen, die noch immer nach Serena schmeckten. Er versuchte, sich zusammenzureißen.

Sie hingegen wollte eigentlich noch einmal ihre Bitte vortragen, die Gunst der unter dem Kuss von Liebenden entstandenen Stimmung nutzen, um ihn umzustimmen, doch sie wollte nicht betteln und sich nicht vor ihm erniedrigen, also verstummte sie wieder.

Justin löste sich gänzlich von ihr, hielt nur noch ihre Hand, die er nun an seine Lippen zog und küsste. Es war der Abschied. Keine zehn Sekunden später war Serena allein.

Doch Serena Lady Vulcan wäre keine geborene Staverley, wenn sie nicht ihr hübsches Köpfchen durchzusetzen vermochte. Als sie am Abend allein mit Nicholas und Isabel dinierte, unterbreitete sie diesen kühn einen Vorschlag. Sie dachte nämlich im Traum nicht daran, ins verhasste Mandrake zurückzukehren, jedenfalls nicht allein, ohne Justin.

„Ich fahre mit euch nach London. Er kann nicht so herzlos sein, mich nun, in der kalten, dunklen Jahreszeit in diesem alten Kasten, umtost von Winterstürmen an der Küste, allein zu lassen."

Nicholas war nicht sehr begeistert von der Idee seiner Cousine, war aber nicht in der Lage, ihr diese Bitte abzuschlagen.

„Ich hoffe nur, Serena, dass du dir das gut überlegt hast. Da ich dich aber kenne, weiß ich, dass es sinnlos wäre, es dir ausreden zu wollen. Meinetwegen also."

Isabel zog lediglich in böser Vorahnung ihre sorgfältig angemalten Augenbrauen nach oben, hielt aber diesmal ihren sonst so vorlauten Mund.

Lord Vulcan fuhr sich mit der Hand durch das fast schwarze Haar, als er endlich das Stadtpalais der Familie im vornehmen Stadtteil Belgravia erreicht hatte und versuchte, all seine Aufmerksamkeit auf London und auf das, was ihn hier erwarten würde, zu richten. Serena wusste er bei Nicholas in guten Händen, jedenfalls solange die drei in Staverley Court weilen würden. Nach Mandrake Castle war es von dort aus nicht einmal eine Halbtagesreise in einer vierspännigen Kutsche, gutes Fahrwetter vorausgesetzt. Er verbot sich mit Betreten des Hauses jeglichen unnötigen Gedanken an seine Frau, was aber - er ahnte es - ein frommer Wunsch sein dürfte.

So stürzte er sich in die Arbeit, aber auch in die Ablenkung. Nochmals rechnete er nach, um wie viel sich Serenas Mitgift vermehrt hatte und welche günstigen Zinsen wo den meisten Zugewinn versprachen. Bekam er von den Geldinstituten nicht das, was er sich vorstellte, nahm er rigoros das Geld aus der Anlage heraus und legte es dort an, wo man ihm bessere Konditionen unterbreitete.

Er kümmerte sich um Personal und Lohnzahlungen, führte akribisch genau Buch über alles, heuerte Handwerker für notwendige Reparaturen an, zahlte deren Rechnungen, investierte Teile seines eigenen Erbes - sofern er es vor dem Zugriff seiner Mutter hatte bewahren können - in lukrative Geschäfte und gewinnbringende Transaktionen; so war er Anteilseigner der britischen Handelsflotte und mit jedem Schiff, das Waren aus fernen Ländern herbeischaffte, die dann im Königreich verkauft wurden, verbuchte er satte Gewinne. Ging ein Schiff mal in einem Sturm unter, war dies Teil des Risikogeschäftes und verschmerzbar, sofern dies nicht allzu oft geschah.

Doch er brauchte nach der täglichen Arbeit das Eintauchen in die Vergnügungen Londons. Denn am Abend zu Hause zu sitzen und zu grübeln, brachte ihm nichts als Verdruss und die Erkenntnis, dass er wahrscheinlich nicht fähig war, eine passable Ehe zu führen. Was er auch anstellte, es schien in seiner Rechnung nicht aufzugehen. Serena auf Mandrake zu haben, verschaffte ihm zwar ein gewisses Maß an Beruhigung, weil sie dort sicher war, andererseits packte ihn die Sehnsucht nach ihr zu allen passenden und unpassenden Gelegenheiten. Wäre sie hingegen bei ihm in London, würde er tausend Ängste ausstehen und sie eifersüchtig und argwöhnisch beobachten, was ihn völlig zermürben würde, wie vermutlich auch sie.

Nein, es blieb dabei: Mandrake war die bessere Alternative!

Er malte sich schon im Geiste aus, wie er die Weihnachtstage gemeinsam mit Serena auf dem Stammsitz der Familie verbringen würde. Sie würden wundervoll zusammen speisen, es sich am Kaminfeuer gemütlich machen und hoch auf den Klippen mit Warrior im Schlepptau spazieren gehen, sofern es das Wetter zuließ und es nicht allzu stark stürmte. Vielleicht würde er es sogar einrichten können, bis ins neue Jahr hinein London den Rücken zu kehren.

Zum ersten Mal seit vielen Wochen entspannten sich seine Gesichtszüge und es lag ein zufriedener Ausdruck darauf.

Justin wusste, dass er das Spieler-Gen von seiner Mutter geerbt hatte. Doch er war - im Gegensatz zu ihr - mit einem eisernen Willen ausgestattet, der es ihm erlaubte, die Spielsucht zu kontrollieren. Er hatte an zwei fatalen Beispielen in seiner unmittelbaren Nähe gesehen, wohin übermäßiges Glücksspiel Menschen treiben konnte: In den Ruin und oft auch in den Tod. Dieses Schicksal wollte er sich selbst ersparen, weswegen er nur selten an den Spieltischen zu sehen war, und wenn, dann spielte er lediglich um lächerlich geringe  Beträge. Seit dem Vorfall mit Sir Giles Staverley hatte er um keinen hohen Einsatz mehr gespielt und würde es wahrscheinlich auch nie wieder tun.

Er trank an vielen Abenden mehr als gut für ihn war, doch er war jung und gesund, da steckte man solche Exzesse noch leicht weg. Zwar hatten es wohlmeinende Mütter inzwischen aufgegeben, ihm ihre heiratsfähigen Töchter auf Gesellschaften vorzustellen, da er - wie allgemein bekannt war - bereits verheiratet war,  doch hielt dieser Umstand andere Frauen nicht davon ab, im  ungeniert Avancen zu machen, was ihn doch sehr erstaunte. Er konnte die Anzahl von einsamen Witwen, vernachlässigten Ehefrauen und Damen, die einem Bühnenberuf nachgingen, und ihm allesamt schöne Augen machten, schon lange nicht mehr an seinen beiden Händen abzählen. Dies war ein mehr als befremdliches Verhalten, das ihn noch mehr in seiner Ansicht bestärkte, dass so ein anbetungswürdiges Geschöpf wie Serena nicht hierher gehörte.

Auch bei der Bezähmung seiner männlichen Triebe kam ihm seine außerordentliche Willenskraft zugute. Wie  einfach wäre es, einer dieser Avancen nachzugeben und sich auf eine flüchtige, unbedeutende Affäre einzulassen, die wenigstens seinen ziehenden Lenden Erleichterung gewähren würde. Doch das kam nicht in Frage. Justins Willen schaltete sich rechtzeitig ein und bot so etwas wie Schutz vor derlei Torheiten.

Immer und stets so viel Willenskraft aufbieten zu müssen, um allen Versuchungen dieser Welt zu widerstehen, war anstrengend. Justin fühlte -  auch eine Folge des übermäßigen Alkoholkonsums - sich zunehmend müde und ausgelaugt. Für einen Ritt nach Mandrake würde seine momentane Konstitution niemals ausreichen, zumal Thunderbolt gar nicht zur Verfügung stand. Der Hengst war ja nach seinem letzten kurzen Besuch auf Mandrake Castle geblieben.

Nach einem Besuch bei Almack's wankte Lord Vulcan, begleitet von John Burley und dessen Geliebter La Flamme, Justins Verflossener, trunken aus der Kutsche seines Freundes. Es kam selten vor, dass er richtig betrunken war, meist vermied er es, sich diese Blöße zu geben und trank in aller Öffentlichkeit maßvoll, doch an diesem Abend war ihm alles auf den Geist gegangen und er hatte bei jedem Getränketablett, das im kredenzt wurde, unbedenklich zugegriffen.

Statt aber direkt vorm Portal des Vulcan'schen Anwesens am Belgrave Square zum Stehen zu kommen, musste Burleys Kutscher hinter einer weiteren großen Equipage halten, die sich unverschämter Weise dort hingestellt hatte. La Flamme hatte den leicht schwankenden Justin fürsorglich untergehakt, während John Burley nachsehen ging, was es mit der fremden Kutsche auf sich hatte. Im Schein der Kutschenlaternen sah er,  dass auf der schwarz lackierten Tür das Wappen der Vulcans prangte. Der Schluss lag also nahe, dass es sich bei dem ankommenden Gast nur um Serena Lady Vulcan höchst selbst handeln konnte. Halb amüsiert, halb pikiert seufzte John Burley. Das würde gewiss eine schöne Überraschung geben! Er flüsterte der rothaarigen Dame an Justins Seite die entsprechende Information zu, was der etwas derangierte Lord Vulcan kaum mitbekam.

Dieser wurde jedoch schlagartig  nüchtern, als er plötzlich Serena gegenüberstand, nachdem er sich einige Marmorstufen hoch zum Haus und ins Foyer geschleppt hatte. Sie kam dem angetrunkenen Justin wie ein Racheengel vor, nicht alles, dass er vor ihr zurückgeschreckt wäre.

Doch entgegen aller Erwartungen machte ihm Serena keine Szene, sie sprach kein einziges Wort mit ihrem Mann, dankte aber John Burley und bedachte La Flamme mit einem nachdenklichen, aber durchaus wohlmeinenden Blick. Ein Lakai half Lord Vulcan auf sein Zimmer. Er konnte nur noch betrübt, beschämt und fassungslos aufs Bett sinken. Serena war in London! Entgegen seines Wunsches, ach was, entgegen seiner Anweisungen! Und er hatte sie sturzbetrunken empfangen. Welch ein Eklat!

 






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