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„Gott, ich halte das nicht mehr sehr viel länger aus."

Lord Vulcan durchmaß sein Arbeitszimmer auf Mandrake mit großen, unruhigen Schritten. Butler Joseph hatte in weiser Voraussicht eine Karaffe, gefüllt mit Brandy, und ein Glas auf dem Schreibtisch seiner Lordschaft abgestellt. Einige Male war Justin daran vorbeigelaufen ohne dem alkoholischen Getränk seine Aufmerksamkeit zu widmen, als jedoch erneut ein markerschütternder Schrei Serenas durchs Haus klang, schenkte er sich mit zittrigen Fingern ein. Die goldbraune Flüssigkeit rann durch seine Kehle und erzeugte ein kurzfristiges wohliges Gefühl in seinem Magen. Er schloss seine Augen, nur um diese beim nächsten Schrei, der an sein Ohr drang, sogleich wieder aufzureißen. Von unerträglicher Nervosität geplagt nahm er noch einen kräftigen Schluck. Es tat gut, beruhigte aber nur unwesentlich. Erschöpft ließ er sich auf den Sessel am Schreibtisch fallen. Stunde um Stunde war vergangen, er hatte mächtig Hunger, doch ums Essen würde sich wahrscheinlich derzeit niemand kümmern.

Mit einer müden Geste strich er sich eine Strähne seiner schwarzen Haare aus der Stirn und ließ den Kopf nach hinten auf die Lehne fallen. Wie lange er in dieser Position verharrt hatte und ob er sogar eingeschlafen war, vermochte er nicht zu sagen, doch ihm fiel plötzlich diese unheilvolle Stille auf. Mit einem Ruck sprang er auf und fasste sich unwillkürlich an sein rasendes Herz. War er nicht zu jung für einen schnellen Herztod? Nein, es konnte unmöglich ein Vorbote des Todes sein, es war die nackte Angst, die ihn erstarren ließ. Es war nach der ganzen Hektik des Vormittages, nach dem Geschrei, das - nach seinem Dafürhalten - vor wenigen Minuten noch deutlich hörbar gewesen war, unfassbar ruhig im Haus. Dass da etwas nicht stimmen konnte, lag doch auf der Hand! Er hechtete zur Tür, öffnete diese und lauschte. Nichts! Justin wusste nicht, was er tun sollte. Seufzend schloss er die Tür wieder und begann aufs Neue, im Raum hin und her zu laufen. Nach einigen solcher Runden hielt er es nicht mehr aus und öffnete abermals die Tür. Noch immer war nichts zu hören. Langsam wurde er ungehalten. Es könnte sich wirklich einmal jemand bequemen, ihm zu berichten. Er war bereits im Begriff, die Tür wieder ins Schloss fallen zu lassen, als er stutzte: hatte er nun Halluzinationen, womöglich zu viel getrunken oder hörte er tatsächlich leises Gelächter? Gelächter?! Unglaublich!

Doch dann bestätigte sich sein Eindruck, denn das Lachen und leises Geplapper wurden deutlicher und kamen näher. Eudora, deren Schwester und Mrs. Neath kamen den Korridor entlang. Rasch drückte Lord Vulcan die Tür zu und landete mit einem Riesensatz in seinem Sessel.

Als es klopfte, holte er tief Luft und rief dann mit möglichst unbeteiligt klingender Stimme: „Bitte einzutreten!"

Eudoras Kopf wurde sichtbar und sie sagte: „Mylord, wir haben wirklich erfreuliche Nachrichten. Wollen Euer Lordschaft gleich mitkommen?"

„Mitkommen? Gleich? Ähm... ja, doch, natürlich."

Aber Eudora hatte gesagt, es wären erfreuliche Nachrichten. Das konnte ja nun nichts Schlimmes bedeuten, also fasste er sich und trat hinaus auf den Flur. Auf dem Weg zum Schlafgemach kam er sich selten dämlich vor, weil er von drei Frauen durch sein eigenes Heim eskortiert wurde.

Seine Neugier trieb ihn zu ersten Fragen: „Also, erfreulich, ja?"

„Natürlich, Mylord."

„Gut, es ist also alles in Ordnung?"

„Alles in Ordnung, Mylord."

„Sehr schön. Ähm... keine besonderen Vorkommnisse?"

„Wie meint Ihr das, Mylord?"

„Tja, also... also Komplikationen vielleicht?"

„Nichts von Bedeutung, Mylord."

„Schön. Gut. Erfreulich... in der Tat."

Als Eudora endlich die Tür zum großen Schlafzimmer öffnete, meinte Justin ein süffisantes Lächeln auf ihren Lippen zu sehen. Sie machte sich noch einen Spaß aus seiner Nervosität, wie rücksichtslos.

„Bitte, Mylord."

Er trat ein und schaute sich um. Das Bett war von der Tür her nicht einzusehen, also ging er unsicher weiter.

„Se... Serena?"

Seine Stimme zitterte und er verfluchte sich selbst dafür.

„Komm nur her."

Eine Antwort, ein Lebenszeichen. Gott sei Dank! Sie klang nicht einmal halb so zittrig wie er, was ihn verwunderte. Er wusste nicht, was er sagen sollte.

„Du solltest sagen, wie sie heißen soll."

Wer war sie? Was... was sollte er?

Er fuhr sich verwirrt durch die Haare und kam näher ans Bett. Serena sah müde aus, strahlte ihn aber an.

„Ja."

Mehr brachte er nicht heraus.

„Justin, geht es dir nicht gut?"

Ein trockenes Lachen entwand sich seiner Kehle. Welch eine Frage! Wenn er erwartet hatte, dass es jemanden nicht gut ging, dann wäre dieser Jemand Serena.

„Doch. Ähm... entschuldige, ich muss doch eher fragen, ob es dir gut geht?"

„Danke, ja. Es hat ein Weilchen gedauert, aber alle sagten, das wäre normal beim ersten Kind."

„Verstehe."

„Justin, du bist so merkwürdig abwesend. Möchtest du denn gar nicht wissen, was es ist?"

Was es ist? Oh, wie dämlich er sich benahm. Er stand vollkommen neben sich.

„Serena, du musst entschuldigen. Ich bin leicht überfordert. Niemand sagt mir, was los ist. Ich hörte dich schreien und... und... das hat mich völlig fertig gemacht."

„Du Ärmster!"

Wieder musste er lachen. Serena hatte ein Kind zur Welt gebracht und bedauerte ihn. Verkehrte Welt!

„Also, ich atme nun einmal tief ein..."

Diesmal unterbrach ihn Serenas Lachen: „Nicht doch! Das habe ich zuvor stundenlang von den Frauen hier gehört. Tiiiiieeef einatmen, Mylady! Au, au, ich kann nicht lachen, das ist nun echt dumm."

„Um Himmels willen, hast du Schmerzen?"

„Jetzt nicht mehr. Und derzeit nur wenn ich lache."

„Sehr beruhigend. Also, keiner lacht mehr. Ich atme jetzt tief ein und frage: Junge oder Mädchen?"

„Ich hatte die Antwort bereits gegeben."

„Hattest du? Da siehst du mal, wie verwirrt ich bin."

„Ich bat dich, zu sagen wie sie heißen soll."

Nun verstand er vollends. Er hatte eine Tochter!

Er überlegte nur kurz: „Auf keinen Fall Harriet."

„Dem stimme ich zu."

„Serena?"

„Vielleicht nicht als Rufname."

„Dann... dann Caroline wie deine Mutter. Ja, das ist doch schön: Caroline Isabel Serena, Viscountess Vulcan."

„Das klingt überaus bombastisch."

„Bombastisch? Was heißt hier bombastisch? Ich sage dir eines: für meine Tochter kann es gar nicht bombastisch genug sein!"

„Ganz wie du meinst. Und nun - schau sie dir an."

Sie hob ein Bündel Stoff, das seitlich von ihr lag, hoch und schob ein Stückchen des Stoffs zur Seite. Zum Vorschein kam ein winziges, krebsrotes Gesichtchen, gekrönt von ein paar wenigen schwarzen Haaren.

Wie hypnotisiert starrte Justin das kleine Wesen an. Seine Tochter!

„Hat es dir die Sprache verschlagen?"

Serena klang überaus munter dafür, dass sie vor einer knappen Stunde noch markerschütternd geschrien hatte. Justin verstand das alles kaum.

Er räusperte sich und antwortete mit belegter Stimme: „Ja, das kann man so sagen."

„Möchtest du die Kleine einmal halten?"

Alles in ihm reagierte panisch. Niemals! Er würde sich total ungeschickt anstellen, dem Winzling womöglich wehtun oder - schlimmer noch - das kleine Mädchen fallen lassen.

„N... nein, das ist mehr etwas für euch Frauen."

„Du traust dich nicht, stimmt's?"

Wie gut Serena ihn kannte. Er verzog das Gesicht zu einer unwilligen Grimasse, wollte schon dementieren, überlegte es sich dann aber anders und nickte.

„Es kann nichts passieren, ich lege sie dir in den Arm, ja?"

Und dann hielt er plötzlich die neugeborene Caroline Isabel Serena in seinen Armen. Er fühlte sich wie im Paradies.

Am Tag nach der Geburt seiner Tochter kam ein Bote mit einer Depesche von Staverley Court geritten. Justin, der gerade den Lunch genommen hatte und nach dem einsamen Essen nun auf dem Weg zu Frau und Tochter war, nahm den Brief vom Tablett, das Joseph im reichte und öffnete das Siegel. Mit einem Lächeln auf den Lippen las er und stürmte dann erst recht weiter Richtung Schlafgemach.

Als er eingetreten war und sowohl Serena als auch die schlafende Caroline geküsst hatte, verkündete er die Botschaft: „Nicholas hat geschrieben. Sie haben einen Sohn, vor drei Tagen zur Welt gekommen. Er heißt - und nun halte dich fest - Giles Nicholas Justin."

„Welch wundervolle Nachricht. Dann feiern unsere Kinder unmittelbar nacheinander Geburtstag. Und die Namenswahl rührt mich sehr."

„Mich auch, ich gebe es zu. Die Familie, einst durch tragische Umstände dezimiert, erweitert sich wieder. Und... und wenn es nicht allzu vermessen ist und du durch Carolines Geburt nur einen Hauch weniger traumatisiert bist als ich, der vom Geschehen räumlich getrennt ziemlich was durchgestanden hat, etwas, das nur durch den Konsum von Brandy minimal erträglich wurde, dann... dann könnte ich mir in naher Zukunft noch so ein kleines Bündel Mensch vorstellen."

Serena gluckste, obwohl das Lachen ihr noch immer Schmerzen bereitete.

„Ja, du Ärmster. Man hat mir von deinem großen Leid berichtet. Aber ich habe mir sagen lassen, dass es beim zweiten Kind leichter ist. Und zwar sowohl für die Mutter, als auch für den Vater. Von daher würde ich sagen, es käme - zu gegebener Zeit - auf einen Versuch an."

Justin strahlte seine Frau an: „Wie? Nur einen Versuch? Bisschen dürftig, Madam."

„Och, du! Scher dich raus! Auf der Stelle!"

Der in der Öffentlichkeit als finster und ernst geltende Lord Vulcan lachte noch, als er auf dem Familiensitz Mandrake die Treppe hinunterstieg und er tat dies so laut, dass sich alle anderen Personen im Haus nicht schlecht darüber wunderten.  




Ende
doris anglophil ist Autor von 80 anderen Geschichten.
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