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Kaum hatte Justin die Teetasse angesetzt und einen Schluck der braunen, mittlerweile nur noch lauwarmen Flüssigkeit genommen, als Charles auch schon an die Tür des Morgenzimmers klopfte.

„Mylord, der Botenjunge kommt gerade zurück."

„Das war in der Tat flott. Ein Talent fürs Laufen, wie mir scheint, ganz so wie die Athleten im alten Olympia. Möchtest du hören, was die Schneiderin uns ausrichten lässt, Serena?"

„Natürlich."

Beide erhoben sich, durchschritten den Korridor sowie das Foyer und traten hinaus, wobei Serena im Portal stehenblieb und Justin dem Jungen entgegentrat.

„Bin wieder da, Sir."

„Das sehe ich, Thomas. Und dies ist Lady Vulcan, meine Frau."

„Oh...", der Junge senkte vorsichtshalber die Stimme und raunte seiner Lordschaft zu, „die Lady is total schön."

Justin hatte wirklich Mühe ernst zu bleiben, also blickte er Thomas nicht an, um den Ansatz eines Lächelns vor ihm zu verbergen und korrigierte ihn mild tadelnd: „Es muss heißen ‚Ihre Ladyschaft‘, Thomas. Und nun zu deinem Auftrag: Welche Nachricht übermittelt uns die Schneiderin Lady Vulcans durch dich?"

„Ich soll sagen, dass‘n Abendkleid heut‘ noch abgeholt wer‘n kann und wenn's dringend wär‘, dann in zwei Tagen die restlichen bestellten Sachen. Erinnern wollt‘se dran, dass ihre Frau... nee, ich mein‘ Ihre Ladyschaft‘n Kleid bereits mitgenommen hat."

„Das stimmt. Gut, Thomas, du hast den Auftrag wunschgemäß und sehr flott erledigt und hier hast du den versprochenen Schilling. Außerdem darfst du dir aus der Küche einen Apfel und eine Schale Suppe holen. Das", nun erhob er mahnend einen Finger, „bleibt aber eine einmalige Sache. Ich kann und werde nicht damit anfangen, dich und deinesgleichen durchzufüttern."

„Geht klar, Sir. Danke vielmals."

„Dann nichts wie ab mit dir, zur Küche geht es durch den Dienstboteneingang."

Thomas hielt seinen Schilling fest in der Faust eingeschlossen und flitzte um die Ecke des Hauses.

Justin Lord Vulcan blickte ihm für wenige Sekunden nach, wandte sich zu seiner Frau und meinte: „Geh hinein, du frierst. Ich muss mich unverzüglich auf den Weg zum Handelsgericht in der Chancery Lane machen, verzeih meine Eile."

Er küsste Serena rasch die Hand und rief nach dem Butler, der prompt mit Hut und Mantel in seinen Händen erschien: „Mylord, Sie müssen sich beeilen. Ich habe den Kutscher angewiesen, jede nur erdenkliche Abkürzung in die City of London zu nehmen, damit Euer Lordschaft pünktlich zum Gerichtstermin kommt. Es gilt vor allem, den Constitution Hill und die vermaledeite Baustelle am Buckingham House zu vermeiden."

„Danke, Charles, wie immer sehr hilfreich. Ich wünsche einen guten Tag."

Im Gehen zog Lord Vulcan seinen Mantel über und setzte sich den Dreispitz auf den Kopf, dann fiel die Haustür hinter ihm ins Schloss.

Es war schrecklich langweilig im Haus, fast fühlte Serena sich, als wäre sie in Mandrake. Sie war sich selbst gram, weil sie sich so überaus ungeschickt in diese Lage manövriert hatte und nun gefangen im Stadthaus der Familie war. Das war nicht ihre Vorstellung von einem Aufenthalt in London gewesen. Sie konnte nicht ausgehen; erstens wusste sie nicht wohin, zweitens würde Justin eine weitere Solo-Eskapade von ihr nicht gutheißen und drittens verbot es sich ohnehin, da sie ihn glauben gemacht hatte, sie wäre unpässlich und hätte ihre monatliche Zeit. Ah, es war wie verhext! Die tägliche Routine im Haus war so perfekt eingespielt, dass sie als Dame des Hauses nicht einmal intervenieren musste. Es gab keine Bankette im Haus, keine Gesellschaften, deren Ablauf man mit ihr hätte abstimmen müssen und es kündigte sich eigentlich auch kein Besuch an. Justin traf seine Freunde meist im Club oder unterwegs während einer Ausfahrt durch die Parks von London. Immerhin fragte man nach ihren Wünschen für die Mahlzeiten, wenn sie sich dann aber zum Lunch einfand, war im Salon zwar alles tadellos hergerichtet, doch sie speiste allein.

An diesem Vormittag bekam sie jedoch die gewünschte Abwechslung, denn kaum eine halbe Stunde nachdem Justin sich verabschiedet hatte und zum Handelsgericht gefahren war, meldete Charles einer sowohl verblüfften als auch erleichterten Lady Vulcan, dass Besuch da war.

„Mylady, soeben ist Mr. Nicholas Bower-Staverley eingetroffen, der - soweit ich das verstanden habe - Ihr Cousin ist. Ich habe ihn in den Empfangssalon geführt, wo er auf Euer Ladyschaft wartet."

„Oh, wie wunderbar. Danke vielmals, Charles. Ich bin schon unterwegs. Vielleicht kann er ja zum Lunch bleiben."

Serena flog förmlich mit gerafftem Rock zum Empfangssalon, hielt vor der Tür inne und beruhigte ihren schnellen Atem, der durchs Rennen und die Aufregung etwas außer Kontrolle geraten war. Dann öffnete sie die Tür und trat strahlend ein.

„Nick, oh, Nick! Wie schön, dass du gekommen bist! Wie geht es Isabel? Weswegen ist sie denn nicht mitgekommen?"

„Guten Morgen, meine Liebe. Isabel weilt noch ein paar Tage bei ihrem Bruder auf dem Land. Ich erwarte sie aber spätestens übermorgen in London. Nun zu dir: wie ist es dir ergangen? Der Umstand, dass du weiterhin in London bist, darf wohl als ein glücklicher bezeichnet werden? Hatte dein Gatte ein Einsehen und lässt dich die Saison hier verbringen?"

„Oh, Isabel ist bei Peter Gillingham. Das ist schade, ich hätte...", Serena brach ab, weil das Gespräch drohte Inhalte offenzulegen, die nicht für die Ohren ihres Cousins bestimmt waren. Zwar hatte Isabel eine scharfe Zunge, aber ihr hätte Serena das Dilemma, in welchem sie steckte, anvertrauen können. Mit Nicholas hingegen konnte sie über die Details natürlich nicht reden.

Also fuhr sie betont heiter fort: „Nun, zumindest herrscht augenblicklich  so etwas wie Waffenstillstand zwischen Justin und mir und er gönnt mir einige Tage in der Stadt, ja."

„Wo ist er? In seinem Arbeitszimmer, über der Buchführung brütend?"

Serena schüttelte den Kopf.

„Nein, er ist vor etwa einer halben Stunde zum Handelsgericht gefahren. Er scheint eine Klage eingereicht zu haben und möchte durch den Ausgang der Verhandlung in Erfahrung bringen, ob er sein investiertes Geld aus einer misslungenen Transaktion zurückerhält, für die andere verantwortlich sind, zumindest habe ich es so verstanden."

„Da wünsche ich ihm viel Glück. Ich wundere mich, dass er noch den Überblick über all seine finanziellen Geschäfte hat, so vielseitig und verstreut, wie er Investitionen tätigt. Natürlich macht er es richtig, keine Frage, er verbucht größtenteils satte Gewinne, soweit ich weiß, aber mir wäre das zu aufwändig. Für mich müssen die Geschäfte, in die ich mich und mein weniges Geld einbringe, ein simples Muster aufweisen."

„Er hat scheinbar ein Händchen dafür."

„Ja, er sollte Bankier werden. Du kannst froh sein, dass er so geschäftstüchtig ist  und das Vermögen vermehrt, wo er nur kann. Vermutlich dankt Justin dies seiner Mutter, denn wie sie mit Geld und den Familienbesitztümern umgegangen ist, war ihm ein Gräuel, weswegen er alles daran setzt, sich komplett gegensätzlich zu verhalten."

„Ich kann ihn verstehen."

„Ein Narr, wer es nicht verstehen könnte."

„Möchtest du zum Lunch bleiben, Nick?"

„Wenn es dir und deinem Personal keine Umstände macht, gern."

„Das freut mich. Ich läute Charles."

So verbrachte Serena alles in allem einen recht angenehmen Tag am Belgrave Square. Zuerst hatte sie die Interaktion zwischen Justin und dem Straßenjungen amüsiert und dann war Nicholas zur Gesellschaft bis nach dem Lunch zu haben eine ebenfalls willkommene Zerstreuung gewesen. Einen Gast zum Essen zu bewirten stellte fürs Personal kaum ein  Problem dar. In einem Haus der Größe und des Rangs wie das von Lord Vulcan wurde Derartiges erwartet und so war man stets vorbereitet. Eine geschickte Köchin, die ihr Handwerk verstand, zauberte ohne Zögern und Zaudern für eine zusätzliche Person am Tisch ganz selbstverständlich etwas Leckeres.

Nicholas Bower-Staverley war gerade im Begriff, sich von Serena zu verabschieden, weswegen beide schon in der Halle standen, als eine Kutsche am Haus vorfuhr. Der Hausherr persönlich traf ein. Charles, der gerade dem Gast Hut und Mantel reichen wollte, wandte sich mit einer kurzen Entschuldigungs-Floskel ab und eilte zur Kutsche hin.

Nicholas drehte sich zu Serena um.

„Da werde ich noch einen Moment lang bleiben. Es wäre unhöflich, sofort zu gehen."

„Natürlich. Justin wird sich gewiss freuen, dich zu sehen."

„Falls er gut gelaunt ist", wandte Nicholas ein.

„Er war heute Morgen ziemlich guter Dinge und wenn er das Geld zugesprochen bekommen hat, sollte sich daran nichts geändert haben."

„Wenn, Serena, wenn...".

Justin Lord Vulcan kam zur Tür herein, die Butler Charles offen gelassen hatte. Er nickte dem Besucher höflich zu.

„Nick, wie schön, dass du uns beehrst. Isabel geht es gut, hoffe ich?"

„Ja, sie ist noch bei Peter. Ich erwarte sie morgen zurück."

„Kommt Peter mit in die Stadt?"

„Soweit ich weiß, ja."

„Wunderbar, dann sollten wir alle gemeinsam in die Oper gehen. Isabel, du, Peter, John und...", er blickte Serena leicht betreten an, sprach den Namen aber nicht aus, stattdessen fuhr er rasch fort, „sowie Serena und ich."

„Großartig. Wie war's am Gericht?"

„Auch großartig. Ich bekomme die unglaubliche Summe von fast sechshundert Pfund  erstattet. Es hätte nicht besser laufen können."

„Gratuliere, Justin."

Erneut fiel Justins Blick auf seine Gattin.

„Weißt du, wie viele neue Kleider das für dich wären?"

„Ich kann recht gut rechnen, Justin. Mehr als hundert, auf die ich aber keinen so großen Wert lege. Ich muss mich nicht ständig herausputzen. Meine Garderobe sollte zweckmäßig sein, dem Anlass angemessen, doch ist nicht einzusehen, weswegen man für jede Stunde des Tages ein anderes Kleid anziehen sollte."

„Da kommt die genügsame Serena Staverley wieder zum Vorschein, die in recht bescheidenen Verhältnissen gelebt hat, weil ihr Vater sein gesamtes Vermögen an den Spieltischen gelassen hat und ihr nicht das Leben bieten konnte, das ihr eigentlich zugestanden hätte."

Serena kochte innerlich. Das war der unbeliebte, arrogante, blasierte Lord Vulcan, vor dem sie vor nicht allzu langer Zeit alle gewarnt hatten. Wie konnte er es wagen, so abfällig über ihren Vater zu reden, wo seine Mutter kein Stück besser gewesen war!  

„Du bist widerwärtig und geschmacklos! Nick, auf Wiedersehen, ich ziehe mich zurück. Das muss ich mir wirklich nicht bieten lassen. Lieber wäre ich auf Staverley Court verhungert, als ein Leben lang an einen... einen gefühllosen Klotz wie Sie, Lord Vulcan, gekettet zu sein. Und in die Oper könnt ihr meinetwegen allein gehen!" 






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