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Wieder in seinem Zimmer warf er sich auf sein Bett und versuchte, das Geschehene zu begreifen. Sie hatte sich nicht nur küssen lassen, sie hatte seinen Kuss erwidert. Davon hatte er so oft geträumt. Und diesmal konnte sie ihm auch nichts vormachen, denn sie konnte sich von ihm keine Vorteile mehr erwarten. Sie hatte ihn um seiner selbst willen geküsst! Er konnte nicht einschlafen. In Gedanken sah er nur Marian vor sich.
Schließlich musste er doch eingeschlafen sein. Gautier, einer seiner Männer, klopfte an der Tür und rief: „Sir, Ihr solltet aufstehen. Ihr werdet unten erwartet.“
Er schreckte hoch und merkte, dass er in voller Montur eingeschlafen war. Aufgestanden, rückte er seine Kleider zurecht, fuhr sich durch sein Haar und besprenkelte sein Gesicht mit dem kalten Wasser aus dem Krug auf der Anrichte. „Ich komme.“, ließ er Gautier durch die Tür wissen. Dann trat er aus dem Zimmer und folgte dem Franzosen in die Schankstube. Dort erwartete ihn Marian. „Guten Morgen, Guy. Bitte entschuldigt die frühe Störung, aber wir müssen einen weiteren Reisenden in unsere Gruppe aufnehmen. Schwester Theresa bat mich, diesen englischen Jungen in meine Obhut zu nehmen und nach England zu begleiten. Seine Eltern sind bei der Überfahrt zu Tode gekommen. Er hat seit Tagen keine Nahrung zu sich genommen und spricht nicht. Ich will ihn zu Verwandten nach Cumbria bringen. Es wäre schön, wenn Ihr mich begleiten könntet.“ „So habt Ihr also schon über meine weitere Reiseroute entschieden“, stellte er amüsiert fest. „Stets zu Euren Diensten, Mylady!, “ fügte er mit ehrerbietiger Verbeugung hinzu. „Dann kommt jetzt! Wir müssen Alfred und sein Gepäck an Bord bringen. Ich möchte nicht zu spät kommen.“, forderte Marian Sir Guy ungeduldig auf.
Seine Sachen hatte er im Nu zusammengerafft, war dann Marian gefolgt und in einem niedrigen Bauernhaus trafen sie auf Alfred, einen kleinen englischen Knaben, der verloren auf einem Schemel im hinteren Bereich des Raumes, nahe beim Kamin saß. Die normannische Bauersfrau hatte ihm einen Napf mit Essen auf den Tisch gestellt, aber Alfred rührte die Speise nicht an. Marian ging direkt auf den Jungen zu und lächelte ihn an: „Alfred, komm und iss doch etwas. Wir nehmen Dich und Deine Sachen gleich mit und gehen zum Hafen. Dort fährt noch heute ein Schiff nach Newcastle und wir können alle mit! Wer weiß, wann Du wieder eine warme Mahlzeit erhältst. Komm, sei brav!“ Der Junge sah Marian mit großen Augen an und ergriff dann tatsächlich den Löffel in die Hand. Guy erinnerte sich, wie er schon oft den guten Einfluss Marians auf andere bewundert hatte. Hier war sie nun wieder in ihrem Element, konnte sich kümmern. „Guy, hier steht das Gepäck des Jungen. Nehmt doch bitte die Kiste mit. Wir können auch gleich aufbrechen.“, sagte sie, zu ihm gewandt.
Die Überfahrt war lang, kalt und nass. Auf halber Strecke, vor East Anglia, waren sie in einen Sturm gekommen und Alfred war panisch geworden. Marian hatte ihre liebe Mühe, ihn zu beruhigen. Ihre Kommunikation war geschäftig, der Situation angemessen. Keiner sprach über den Abend am Strand. Für Marian war nun der Junge der Mittelpunkt ihrer Sorge.
Kurz vor Newcastle kam Marian zu Guy an Deck. „Was habt Ihr vor, wenn wir von Bord gegangen sind?“, fragte sie ihn. „Welchen Rat würdet Ihr mir geben?“, fragte er zurück. „Soll ich mich gleich stellen und so meinem Todesurteil entgegengehen? Oder untertauchen? Wie Robin Hood in Sherwood Forest?“ „Ich hätte eine bessere Idee“, entgegnete Marian. „Begleitet mich als Mönch zu den Verwandten Alfreds. Hier im Norden wird Euch niemand erkennen und dass eine Nonne nicht alleine reist, wird auch keinen verwundern. Auf dem Weg nach Lindisfarne liegt St. Cuthbert’s. Dort werde ich die kommende Nacht verbringen. Im Dorf wird es auch für Euch Unterkunft geben.“ Wieder hatte sie ihm eine Entscheidung abgenommen – um ihn in ihrer Nähe zu haben? „Marian, ich hatte Euch in Frankreich an dem Abend gefragt, ob Ihr meine Frau werden und dem Klosterleben entsagen wollt. Ihr habt mir bislang nicht geantwortet. Kann ich noch hoffen? Gehört dies zur Bedenkzeit?“ Sie lächelte: „Geduld ist nicht Eure Stärke, Sir Guy! Lasst uns dieses Thema nicht hier auf See diskutieren. Ich bin für Alfred verantwortlich und werde erst ihn in die Obhut seiner Verwandten bringen. Alles andere ist nebensächlich.“ „Oh, ich bin also nebensächlich! Pah, das hätte ich mir ja denken können!“, schnaubte er. „Nun seid doch nicht immer gleich beleidigt! Ich möchte Euch um mich haben auf meinem Weg nach Lindisfarne. Ist das nicht für’s Erste genug?“, fragte sie ungeduldig. „Ich weiß nicht. Ihr vertröstet mich immer wieder – das kenne ich noch so von früher. Und nachher steht Robin Hood hinter irgendeinem Baum und becirct Euch!“, entgegnete er aufgebracht. „Guy, ich bin müde von der Überfahrt. Müssen wir gleich wieder streiten? Unten liegt eine Mönchskutte mit Gürtel und Schuhen bereit. Zieht Euch um, bevor wir von Bord gehen.“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging zur Leiter ins Schiffsinnere.
Im Hafen zeugte die Präsenz zahlloser Soldaten von der politischen Brisanz der Tage. Nach Richards Rückkehr aus der Gefangenschaft hatte dieser aus Angst vor einem Aufstand seine Soldaten an neuralgischen Punkten verstärkt, so auch in Hafenstädten wie Newcastle. Weder sollten seine Widersacher auf seine Soldaten zurückgreifen können, noch sollten sie fliehen. Seinen Bruder John musste er selbstverständlich auf andere Art und Weise in die Schranken weisen – König Johann ohne Land wurde er im Volksmund bereits genannt. Das hatte Guy schon gleich im Hafen vernommen.
Die Kutte machte ihn offensichtlich unsichtbar. Diese Erfahrung war neu für ihn und er war Marian dankbar für diesen Einfall. Den Jungen Alfred hatten sie gleich nachdem sie das Schiff verlassen hatten zu seinen Verwandten gebracht und Marian hatte noch eine Weile mit den neuen Zieheltern gesprochen. Sie versicherten, Alfred aufzuziehen wie ihr eigen Fleisch und Blut. Alfred hatte sich an Marian geklammert, doch es war ihr gelungen, ihn zu beruhigen.
Nun waren sie allein in den dunklen Straßen Newcastles und Guy war sich nicht sicher, ob er Marians Rat wirklich befolgen und zusammen mit ihr nach Lindisfarne gehen sollte. Ein Mönch und eine Nonne waren kein unauffälliges Paar.
Marian führte ihn zu einem Haus nahe der Kirche: „Bruder Radulf hat sich auf einen Gast eingestellt. Er wird Euch ein Lager anbieten können.“ „Und wohin geht Ihr, Marian? Wie kommt es, dass Ihr hier überall bekannt seid? Bin ich jetzt komplett in Eurer Hand?“, brach es aus ihm heraus. „Nun übertreibt bitte nicht, Guy. Meine Schwestern warten schon auf mich. Ich lasse Euch morgen früh abholen. Wünsche wohl zu ruhen.“, und damit ließ sie ihn vor der Tür stehen und verschwand um die nächste Häuserecke. Diese Frau brachte ihn um den Verstand und es schwante ihm, dass Marian ihn kühl berechnend zum Mönch verkleidet hatte: als Mönch hatte er Konventionen zu wahren, seinen Kontakt zur Nonne auf ein Minimum zu beschränken.
Es war eine kurze, schlaflose Nacht. Guy zermarterte sich das Hirn, was er nun wirklich tun sollte, was Marian beabsichtigte, ob es für sie beide eine Zukunft gab. Konnte er sich so einfach ein Mönchsgewand überstreifen und damit ein anderer werden? Zu guter Letzt war er eingeschlafen, um viel zu früh vom Weckruf der Mönche aufzuwachen. Die karge Mahlzeit und ein Morgengebet – das war also nun sein neues Leben als geläuterter Edelmann?
Wenig später kam Marian in Begleitung dreier weiterer Nonnen an. Zu ihrem Tross gehörten noch Küchenjungen und ein Mann, der sich um die Pferde kümmern sollte. Aus einem Impuls heraus wurde ihm klar, dass dies nicht sein Weg sein würde. „Marian, ich kann Euch nicht begleiten. Ich bin kein Mann der Kirche und es ist weder meiner noch Eurer Würde zuzumuten, dass ich mich unter einer Kutte verstecke. Ihr seid einem anderen verpflichtet. Ich wünsche Euch alles Glück der Welt für Euren Weg.“
„Ich bedaure Eure Entscheidung! Aber Ihr seid Euer eigener Herr und wisst Eure Verantwortung hoffentlich besser zu nutzen als früher. Lebt wohl, Sir Guy! Ich wünsche Euch Gottes Segen.“ Sie blickte ihm noch einmal in die Augen und reichte ihm die Hand zum Abschied. Er erwiderte mechanisch und sah, wie sie mit ihren Begleiterinnen zu den bereit stehenden Pferden schritt.
Nun war es an ihm, seinen Weg zu suchen. Seine wenigen Habseligkeiten lagen verschnürt auf seinem Lager. Er machte sich auf den Weg zum Hafen.
Würde Richard seinen einstigen Todfeind gnädig aufnehmen oder ihm der Strafe zuführen, die er verdient hatte? Nottingham und Prinz John waren ein dunkler Schatten seiner Vergangenheit. Mit Gottes Hilfe würde er aus diesem Schatten nun hinaustreten.