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Peter, der jüngste unter Guys Männern, hatte im Dorf schon mit einem Mädchen angebändelt, das beim Krämer Obst und Gemüse sortierte. Die Magd hatte ihm berichtet, dass sie noch vor dem Fest frische Ware zur Burg bringen sollte und Peter bot sich sogleich an, sie zu begleiten. Nichtsahnend hatte das Mädchen das Angebot angenommen und man hatte sich verabredet, die Stiegen gemeinsam zur Burg zu transportieren. Dass Peters Mitstreiter zu Pferd den Transport nun unterstützten, kam ihr entgegen, denn die Wege waren nass und schlammig und der Aufstieg zum Trifels mühsam.
Die Männer mischten sich unter die schon zahlreichen Anwesenden, Sir Guy bemüht, sein stolzes Auftreten im Zaum zu halten, um sich nicht zu sehr von seiner Umgebung abzugrenzen. Der große Saal in der unteren Burg war hell erleuchtet. Lange Tischreihen waren eingedeckt und warteten auf die Gäste, die langsam aus der Kälte ins Burginnere strömten. Am Kopfende des Saales begannen Musiker mit ihrem Vortrag. Sir Guy stand der Sinn nicht nach leichter Unterhaltung und Essen – er gab seinen Männern Zeichen, die Treppenaufgänge im Blick zu behalten. Zusammen mit Angus, einem unerschütterlichen Söldner, begab er sich auf die Galerie, um von dort aus auch die Zugänge aus den oberen Gemächern zu überwachen.
Inzwischen hatte ein Troubadour die Bühne betreten und mit seinen Weisen für Ruhe im Saal gesorgt. Ein plötzlicher Ruf aus einem der hinteren Flure ließ Guy zusammenzucken! „Blondel! Nein, das kann nicht sein! Bis Du’s wirklich?“, hatte eine ihm durchaus bekannte Stimme in französischer Sprache gerufen. Nein, diesmal war es keine Einbildung – es war Richard! Guy nickte Angus zu, dieser gab den drei unten verbliebenen Männern ein Zeichen und stürmte zusammen mit Sir Guy in den Flur, von wo aus der Ruf ertönt sein musste. Richard kam ihnen schon entgegen. Angus stürzte sich auf ihn und packte ihn bei den Armen. Bevor Sir Guy reagieren konnte, waren schon Richards Bewacher aufgetaucht, die sich nun den Angreifern entgegenstellten. „Lasst ihn los, sonst werdet ihr eingekerkert und ich verspreche Euch, Euer Kerker wird sicher keine Burg sein!,“ rief einer der Männer. Guy hatte verfrühtes Aufsehen verhindern wollen und versuchte, die Situation zu beruhigen. „Haltet ein! Wir sind nicht die, für die Ihr uns haltet! Wir sind nicht hier, um Richard zu befreien, sondern im Auftrag King Johns Eure Vorwürfe und Anklagen zu bestätigen!“ Der Ritter lockerte seinen Griff um Angus und führte beide, Angus und Richard, den dieser immer noch im Klammergriff hielt, zurück in den Flur. „Kommt mit!“, wies er Guy und seine Männer an. Mit dem Überraschungseffekt war es nun vorbei, die Taktik bedurfte einer Änderung. Die Männer betraten einen düsteren Raum. „Wartet hier!“, befahl der Anführer und seine bewaffneten Mitstreiter unterstrichen den Befehl mit martialischer Präsenz. Kurz darauf kehrte der Anführer mit einem Mönch zurück. „Dem Burgkaplan könnt ihr jetzt berichten, was Euch hierher geführt hat“, forderte er Sir Guy auf.
„Hochwürden, mein Name ist Guy of Gisborne, Ihr ergebener Diener. Meine Männer und ich sind Abgesandte seiner Majestät, Prince John von England. Er schickt uns, die Situation seines Bruders zu erkunden und die gegen ihn erhobenen Vorwürfe zu bestätigen. Richard hat sein Volk betrogen und bestohlen, viel zu viel Geld für teure und sinnlose Kreuzzüge ausgegeben, ohne sein Ziel, die Eroberung des Heiligen Landes, in die Tat umzusetzen. Aus dem Ausland intrigiert er gegen seinen Bruder, den rechtmäßigen König der Engländer, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das englische Volk wieder zu einen. Es ist unser Auftrag, dies Zeugnis hier abzulegen, damit Ihr nicht geblendet werdet von Richards scheinbarer Macht und selbstgerühmten Weltoffenheit und Güte.“ Sir Guy hatte dies mit viel Verve vorgetragen und war von sich selber und seiner spontanen Eloquenz überrascht.
Der Geistliche hatte seine Worte aufmerksam verfolgt und erwiderte nun: „Warum habt Ihr Euch nicht offiziell angekündigt? Wir hätten uns diese Aufregung ersparen können. Wigbert, bringt König Richard wieder zurück in sein Gemach! Die Herren aus England leisten mir beim Mahl Gesellschaft.“ Der angesprochene Wachmann ergriff Richard und beide verließen den Raum. Sir Guy nickte seinen Männern zu und alle schritten zusammen mit dem Burgkaplan in den Bankettsaal, wo der Troubadour inzwischen von einer Gauklertruppe abgelöst worden war.
Das gesellige Treiben lockerte Guy Anspannung nur wenig. Was hatte Blondel hier zu suchen? Richard hatte seinen einstigen Weggefährten, den Troubadour, offensichtlich nicht hier erwartet, aber sofort erkannt. Da gab es keinen Zweifel. Blondel war Richard seit der Heiligen Stadt treu ergeben – seine Gegenwart auf dem Trifels konnte nur den einen Grund haben, Richard zu befreien! Aber der Barde war nirgends zu sehen. Hatte er den Aufruhr auf der Galerie mitbekommen und sich zurückgezogen? Vorübergehend?
Sie waren anscheinend genau zur rechten Zeit hier angekommen. Vielleicht konnten sie so zwar nicht Richards Tod herbeiführen, aber doch seine geplante Befreiung verhindern!
Oft schon hatte Sir Guy mit seinem Schicksal gehadert, immer der Zweite zu sein, nie wirklich zum Zug gekommen zu sein und nie den durchschlagenden Erfolg zu haben, den er sich so gewünscht hatte – und oft mit der Brechstange in die Tat umzusetzen versucht hatte. Hier, weit weg von Nottingham und der Fremdbestimmung des Sheriffs, die ihn über Jahre geleitet hatte, versuchte er nun, einen klaren Kopf zu wahren und den Plan für sein weiteres Vorgehen zum ersten Mal selber zu skizzieren.
Jetzt hatte er immerhin das Vertrauen des Burgkaplans erlangt. Das würde ihm einen relativ unbeschwerten Zugang zu Richards Gefängnis, wenn auch nicht zum Gefangenen direkt, ermöglichen. Nein, diesmal wollte er nichts überstürzen. Er beschloss, mit seinen vier Gefährten die Nacht wie ursprünglich geplant im Dorf zu verbringen. Der Burgkaplan bot ihnen Geleit und so kehrten die fünf Engländer begleitet von Burgknappen sicher in ihrer Herberge ein.
So sehr er auch nachdachte in dieser Nacht, in der er kaum ein Auge zumachte: immer wieder liefen alle Gedanken auf den unausweichlichen Tod Richards hinaus. Das war sein ursprünglicher Auftrag und den musste er in die Tat umsetzen!
Mit dem nächsten Besuch auf der Burg musste er die Räumlichkeiten auf all ihre Möglichkeiten und den geeigneten Zeitpunkt hin ausloten! Nur Richard durfte nichts von ihrer Anwesenheit erfahren!