- Schriftgröße +



Es wurde sowohl für Mr. Thornton als auch für Margaret eine harte Woche. John Thornton war hin- und hergerissen zwischen seiner Wut auf Margaret und seinem schlechten Gewissen, dass er sein Versprechen ihr gegenüber nicht gehalten hatte. Die Beerdigung von Mr. Hale stimmte ihn melancholischer als er es je für möglich gehalten hätte. Mr. Hale war ihm immer ein guter Lehrer, ein kluger Berater in vielen Dingen und vor allem ein väterlicher Freund gewesen. Es war schwer sich vorzustellen, dass er nun nicht mehr am Leben sein sollte. Und noch schwerer war es zu verstehen, wie nahe das Ganze Margaret gehen musste, wie sehr sie nun litt. Er liebte sie und er wünschte sich nichts mehr als sie zu trösten und ihr beizustehen in dieser schweren Lage, aber das war ihm nicht möglich, denn sie liebte nicht ihn, sondern diesen Frederick. Er versuchte sich einzureden, dass Margaret diesen Frederick mit der Zeit vergessen würde, dass sie ihn vielleicht doch aus Zuneigung angenommen hatte, dass die Vermutungen seiner Mutter völlig aus der Luft gegriffen und unsinnig waren, aber er konnte einfach nicht daran glauben. Nacht für Nacht überlegte er sich, ob er vielleicht doch die Verlobung wieder lösen sollte, aber das konnte er Margaret nicht antun. Nein, es war entschieden, er würde sie heiraten, selbst wenn sie niemals wirklich Mann und Frau sein würden, selbst wenn ihn diese unselige Situation zwischen ihnen fast in den Wahnsinn treiben würde, er würde Margaret Hale ehelichen.

 

Margaret selbst litt in Milton still vor sich hin. Es gab Nächte, in denen sie ununterbrochen in ihr Kissen schluchzte, und dann gab es wieder Zeiten, wo sie nur apathisch auf die Straße hinausblickte und darauf wartete, dass ihr Vater zurückkäme und alles wieder so wäre wie früher. Sie versuchte Mr. Thornton soweit als möglich aus ihren Gedanken zu verbannen, aber es gelang ihr nur schwerlich. Das Wissen, dass sie mit diesem Mann verlobt war und dieser in dieser Zeit gerade ihrem Vater in Oxford gerade die letzte Ehre erwies, eröffnete ihm immer wieder einen Zugang in ihre Gedankengänge. Margaret redete sich ein, dass sie nur so oft an John Thornton dachte, weil er der einzige Mensch war, der ihr noch geblieben war. Doch tief in ihrem Herzen wusste sie, dass dies nicht der einzige Grund dafür war, dass John Thornton ihr nicht mehr aus dem Kopf ging. In einer verborgenen Ecke ihres Herzens wünschte sie sich, dass er sie immer noch liebte, dass er ihr ein neues Zuhause geben würde, aber andererseits war er nicht noch einmal vor der Abreise zu ihr gekommen. Er konnte nicht viel für sie empfinden, wenn er schon dieses einfache Versprechen sie noch einmal vor der Abreise zu besuchen ihr gegenüber brach. Und das Wissen, dass sie John Thornton offensichtlich gleichgültig war, lastete schwer auf ihrer Seele.

Das Schlimmste jedoch war für Margaret die schneidende Einsamkeit. Nun, wo auch Mr. Bell und Mr. Thornton weg waren, blieb ihr nur noch Dixon, die sich zwar ergreifend um die junge Dame kümmerte, dem Mädchen aber nicht wirklich über ihr Gefühl der Verlassenheit hinweghelfen konnte.

So freute sich Margaret sogar auf den angekündigten Besuch von Mrs. Thornton und deren Tochter Mrs. Watson, der jedoch, als er dann endlich erfolgte, weniger erfreulich war, als Margaret es sich gewünscht hatte.

Mrs. Thornton verhielt sich gegenüber Margaret sehr kalt und ihre Beileidsbezeugungen waren ebenso kühl wie ihre Begrüßung Margarets in der Thornton-Familie. Wie eine Königin ließ sie sich in einem der Sessel nieder und musterte die müde und bleiche Margaret kritisch.

Fanny Watson hingegen ließ sich zu mehr oder weniger höflicher Konversation herab.

„Wissen Sie, Miss Hale, wir waren ja alle sehr verwundert, als Mutter mir von Ihrer Verlobung mit John erzählte. John zeigt ja sonst so wenig Interesse an Frauen und außerdem dachten wir alle die ganze Zeit, er würde gewiss Miss Latimer heiraten. Wissen Sie, Ihr Vater ist Bankdirektor und sie hat eine sehr große Mitgift. Zudem ist sie so talentiert. Ich muss zugeben, dass sie mich am Klavier weit übertrifft, aber so hat es wenigstens ein Gutes, dass John Sie heiratet. Sie werden mir sicher nicht meinen Platz als musikalisches Talent der Familie streitig machen. Ich bin nämlich sehr stolz darauf, dass ich mit soviel Begabung von Gott gesegnet worden bin. Mutter sagt ja immer, es hätte sie immer wieder außerordentlich erfreut, mich singen und spielen zu hören, sogar als ich noch ganz klein war. Nicht wahr, Mutter?“

„Ja, natürlich“, erwiderte eine ernst dreinblickende Mrs. Thornton, die Fannys Geplapper kaum gehört hatte und derweil mehr darüber nachsann, ob sie mit ihrer Vermutung recht hatte und Margaret Hale tatsächlich einen kleinen Bastard erwartete. Blass und schwach genug wirkte sie dafür schon, aber das konnte natürlich auch durch die Trauer bedingt sein, und ihre Leibesfülle verriet noch nichts. Jedoch aß sie wenig, was wohl darauf hinwies, dass sie durch eine Schwangerschaft bedingt unter Übelkeit litt.

Während Mrs. Thornton Margaret noch wie eine Zuchtstute musterte, fuhr Fanny auch schon fort: „Ach, Miss Hale, ich hoffe ja sehr, dass Sie und John glücklich werden. John ist manchmal so streng, dass ich kaum glaube, dass irgendeine Frau außer Mutter es mit ihm aushalten könnte. Als ich noch zu Hause wohnte, musste ich oft bemerken, dass er überhaupt kein Interesse für mich aufbrachte. John ist mit seiner Baumwollfabrik verheiratet, das kann wohl keine Frau ändern. Wenn Sie besonders hübsch wären, hätten Sie vielleicht eine Chance seine Aufmerksamkeit zu erregen, aber ich muss leider sagen, Sie sehen eher außergewöhnlich blass und krank aus, was natürlich verständlich ist nach dem Tod Ihres armen Vaters und Ihrer seligen Mutter. Wissen Sie, ich vermute, dass John Sie nur deshalb heiraten will, weil Ihr Vater nun so plötzlich verstorben ist. Er hat oft gesagt, wie viel er von Ihrem Vater hielt, obwohl ich es nie so ganz verstand, was er an Platon und Sokratos oder wie die alle hießen fand. Wahrscheinlich konnte er deswegen auch nicht ansehen, wie Sie hier so ganz alleine leben müssen, meinen Sie nicht auch, Miss Hale?“

„Sie könnten durchaus richtig liegen mit Ihrer Vermutung, Mrs. Watson“, presste Margaret zwischen den Zähnen hervor. Sie war den Tränen nahe. Nicht nur war Fannys Geplapper nervenraubend, diese kleinen Sticheleien, die sie stets anzubringen wusste, gingen in ihrem derzeitigen Gemütszustand über ihre Kraft und verstärkten das tiefe Gefühl der Einsamkeit nur noch. Zudem war da noch Mrs. Thornton, die sie wie ein unerwünschtes Insekt musterte und wahrscheinlich Himmel und Hölle in Bewegung setzen würde, um ihrem Sohn auszureden sie zu heiraten oder ihr zumindest das Leben im Haus der Thorntons zur Hölle zu machen. Womit hatte sie bloß den unbändigen Hass dieser Frau verdient?

Fanny setzte derweil ihr Geplapper fort: „Aber wissen Sie, Miss Hale, irgendwie beneide ich Sie auch, Sie haben es doch eigentlich gut, dass Sie tun können, was Sie wollen und Ihnen niemand Vorschriften macht. Ich musste mich immer nach Mutter und John richten und nun nach dem lieben Mr. Watson. Aber dennoch, einen Angehörigen zu verlieren, muss sehr schrecklich sein. Ich weiß, ich habe bei Vaters Tod tagelang nur geweint, aber Sie sind ja zumindest älter als ich es damals war und somit werden Sie wohl nicht ganz so viel Schmerz empfinden.“

„Ich empfinde mehr Trauer ob des Todes meiner beiden Eltern als Sie sich jemals vorstellen können, Mrs. Watson“, erwiderte Margaret nun schon mehr als nur ein bisschen empört, „ich denke nicht, dass Sie ermessen können, wie es sich anfühlt beide Eltern so kurz hintereinander zu verlieren.“

Glücklicherweise griff nun - bevor Margaret oder Fanny noch mehr sagen konnten - Mrs. Thornton ein: „Ich denke Fanny, wir lassen nun Miss Hale besser wieder alleine, sie wird sich sicher noch ein wenig ausruhen wollen. Geh schon einmal vor!“

Fanny folgte murrend den Anweisungen ihrer Mutter und tänzelte mit hochgehobener Nase und einem herablassendem Blick auf Margaret aus dem Raum. Zurück blieben Mrs. Thornton und Margaret, die sich kritisch musterten. Wieder kam Mrs. Thornton Margaret zuvor: „Ich hatte Ihrer Mutter versprochen, Sie wie meine eigene Tochter zu behandeln und Ihnen mit Rat zur Seite zu stehen, wenn Sie einen Fehler begehen. Nun muss ich Sie wieder einmal ermahnen: Sie machen einen großen Fehler, wenn Sie meinen Sohn heiraten, Miss Hale. Er wird kaum über ihr offensichtlich unschickliches Verhalten hinwegsehen. Er hat Ihnen aus Mitleid einen Antrag gemacht, doch er wird sich kaum zum Narren halten lassen von Ihnen. Ich warne Sie ernstlich: Wenn Sie tatsächlich entschlossen sind, meinen Sohn zu ehelichen, dann machen Sie sich darauf gefasst, dass Sie niemals in unserer Familie willkommen sein werden. Ich werde allen Einfluss, den ich auf John habe, geltend machen, um zu verhindern, dass er Sie heiratet. Mein Sohn verdient eine andere Frau als Gattin als so ein leichtes und zudem stures Mädchen, wie Sie eines sind. Ich rate Ihnen nur, lösen Sie diese Verbindung schnellstmöglich auf oder Sie werden schon noch sehen, wer den größeren Einfluss auf John hat, Sie oder ich. Also, Miss Hale, was haben Sie dazu zu sagen? Ich erwarte eine Antwort.

Außerdem verlange ich zu wissen, wie viele und welche Männerkontakte Sie bisher unterhalten haben. Ich denke, mein Sohn verdient dies zu wissen. Ich will kaum, dass er nachher als gehörnter Ehemann dasteht.“

Margarets Gesicht war weiß wie eine Wand geworden, einen Augenblick lang war es ihr unmöglich, überhaupt irgendetwas auf Mrs. Thorntons Worte zu erwidern, dann jedoch kam wieder Leben in sie: „Was bilden Sie sich eigentlich ein, mich zu besuchen und mir solche Dinge vorzuwerfen ohne auch nur den geringsten Beweis dafür. Meine Eltern haben mich zu einer tugendhaften Frau erzogen, was auch immer Sie von mir denken mögen. Nur weil Ihr Sohn Ihnen eine fragwürdige Begebenheit berichtet hat, in der er mich vorgefunden hat, wagen Sie es mich als Flittchen zu bezeichnen. Wie können Sie es sich auch nur anmaßen, sich in meine Privatangelegenheiten einzumischen ohne auch nur im Mindesten die näheren Umstände zu kennen? Ich unterhalte keine unschicklichen Männerkontakte und habe es auch nie getan! Das können Sie auch Ihrem Sohn mitteilen und nun bitte ich Sie zu gehen, bevor ich Dixon bitten muss, Sie hinauszubegleiten.“

Mrs. Thornton blickte auf die vor Zorn erhitzte junge Frau hinab und erwiderte kühl: „Sie können behaupten, was Sie wollen, Miss Hale, ich weiß, was ich sehe, und auch mein Sohn pflegt Tatsachen mehr Glauben zu schenken als leidenschaftlicheren Beteuerungen. Sie werden schon sehen, dass diese Verlobung Ihren zweifelhaften Ruf nicht wiederherstellen wird können und auch, dass mein John klüger ist, als Sie es von ihm erwarten mögen. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag ansonsten und vergessen Sie nicht, Miss Hale, diesen Kampf können Sie nicht gewinnen!“

Mit diesen Worten rauschte Mrs. Thornton aus dem kleinen Salon der Hales und ließ eine vollkommen verstörte Margaret zurück, die sich zitternd an dem Stuhl, auf dem sie gerade noch gesessen hatte, festhielt, um nicht in Ohnmacht zu fallen.

Mrs. Thornton und Mrs. Watson besuchten Miss Hale in dieser Woche nicht wieder und auch sonst meldete sich kaum Besuch bei Margaret an, wofür sie nach dem Debakel, das sie mit den beiden Thornton-Frauen erlebt hatte, richtiggehend dankbar war. Fast schon hätten die Worte Mrs. Thorntons Margaret überzeugt, die Verlobung mit Mr. Thornton, sobald dieser denn aus Oxford zurückkäme, aufzulösen, doch trotz all den Tränen, die sie aufgrund der Kaltherzigkeit von Mrs. Thornton und deren bösen Anschuldigungen vergoss, war Margaret nicht willens die Verlobung mit John Thornton zu lösen. Sie hatte ihm versprochen ihn zu heiraten und das würde sie auch tun. Sie würde mit ihm vor den Altar treten und ihm eine gute Ehefrau sein. Soviel war Margaret schon einmal klar. Woher aber diese tiefe Entschlossenheit kam, die Verlobung aufrechtzuerhalten, das fiel ihr schwerer zu erklären. Sie klammerte sich daran fest, dass sie es ihm versprochen hatte und ihr Versprechen nicht brechen könnte, doch da war auch eine kleine Stimme in ihrem Inneren, die ihr beständig sagte, dass dies nicht der einzige Grund sei, wieso sie John Thornton zu ehelichen gedenke, und die ihr keine Ruhe mehr ließ.

Neben den beiden Damen der Thornton-Familie kamen auch Nicolas Higgins und seine Tochter Mary zu Margaret zu Besuch. Dieser Besuch war entgegen dem vorigen weitaus erfreulicher, doch Margaret konnte ihn nur wenig genießen. Einerseits hatte sie Angst, dass ihr zukünftiger Ehemann ihren Umgang mit Higgins nicht gutheißen würde und andererseits wusste sie nicht, wie sie Nicholas Higgins von ihrer Verlobung mit Mr. Thornton erzählen sollte. Was würde dieser treue Freund ihrer Familie sagen, wenn Sie ihm erzählte, dass sie seinen Arbeitgeber und ehemals ärgsten Feind Mr. Thornton zu heiraten gedachte. So schwieg sie über ihre Verlobung, fühlte sich dabei jedoch wie eine Verräterin und konnte den Besuch ihrer beiden treuen Freunde auch nicht mehr wirklich genießen. Nichts schien mehr wie vorher, seit ihr Vater tot war und seit sie mit John Thornton verlobt war. Sie wünschte sich manchmal die Zeit zurückzudrehen oder Milton verlassen zu können, doch das war ihr leider nicht möglich.

So wartete sie nur einsam und verzweifelt auf Mr. Thorntons und Mr. Bells Rückkehr aus Oxford, in der Hoffnung, dass dann vielleicht zumindest ihre Einsamkeit nicht mehr so stark sein würde. Thornton würde doch vielleicht zumindest dem Hass und den gemeinen Anschuldigungen seiner Mutter Einhalt gebieten und ihr ab und an Gesellschaft leisten können, so hoffte sie inbrünstig. Dass sie sich vielleicht irgendwo in ihrem Herzen noch mehr von ihm ersehnte, das war ihr selbst nicht bewusst.






Bitte gib den unten angezeigten Sicherheitscode ein: