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Mr. Thornton war müde und schlechtgelaunt, als er mit Mr. Bell fünf Tage später von Mr. Hales Beerdigung in Oxford nach Milton zurückkehrte.

Mr. Bell hatte ihn während der ganzen Zugfahrt mit seinem Geplauder gelangweilt und genervt, während er lieber mit sich selbst und seinen Gedanken und Gefühlen alleine geblieben wäre. Nachdem er sich lange unsicher gewesen war, ob er die Vermutungen seiner Mutter über Margaret glauben sollte und sich mehr als eine Nacht mit erfolglosen Grübeleien um die Ohren geschlagen hatte, war er nun endlich zu einer Entscheidung gekommen. Er würde die Anschuldigungen seiner Mutter nicht unbedacht verwerfen, aber ihnen auch nicht so ohne weiteres Glauben schenken.

Einerseits passte solch unschickliches Verhalten in keinster Weise zu Miss Hale, aber andererseits erschien es ihm nur logisch, dass nur eine so schwere Notlage wie eine unerwünschte Schwangerschaft Margarets Annahme seines Heiratsantrages verständlich machte. Sie liebte ihn nicht, dessen war er sich nur allzu deutlich bewusst. Und dass ihr Herz einem anderen gehörte, diese Erkenntnis hatte er auch in schmerzlicher Weise machen müssen. Nun musste er nur noch eins und eins zusammenzählen und heraus kam, was seine Mutter ihm prophezeit hatte.

Es fiel ihm schwer diese Möglichkeit in Betracht zu ziehen, doch er wusste, er musste es tun. Er verabscheute Täuschungen und Lügen und war auch nicht gewillt sich selbst zu belügen, vor allem da ihm vollkommen klar war, dass Selbsttäuschung den Schmerz der Erkenntnis später nur tiefer werden ließ, sollte seine Mutter wirklich Recht haben.

Und es war ja auch wahrscheinlich, fast schon sicher, dass Margaret ihre Tugend, ihren Anstand und ihre Moral für diesen anderen Mann, ihren Geliebten, einfach so über Bord geworfen hatte, und sie vielleicht sogar ein Kind von demselben erwartete. Thornton blickte dieser Möglichkeit knallhart ins Auge, doch er war entschlossen, seine Verlobung mit Margaret dennoch nicht zu lösen. Er hatte keine Beweise für ihr ehrloses Benehmen, er konnte ihr diesen Fehler nicht nachweisen und selbst, wenn er es gekonnt hätte, wäre er nicht in der Lage gewesen die Verlobung zu lösen und Margaret so schändlich im Stich zu lassen, in einer Situation, in der sie jeder irgend möglichen Hilfe bedurfte und von Verwandten und Familie getrennt war. Nein, er würde sie nicht alleine lassen, diesen einen Liebesdienst würde er ihr noch tun. Nicht um ihretwillen, wie er sich standhaft versicherte, sondern für Mr. und Mrs. Hale, die ihre Tochter gewiss in guten Händen wissen wollten und ihr keinen sozialen Abstieg als billiges und leichtes Mädchen wünschen konnten.

Doch, so entschied Thornton resolut, er würde sich nicht erneut um sie bemühen, er würde sie heiraten, ja, sie auch gut behandeln, selbst wenn sie ihm einen Bastard unterschob, aber niemals würde er ihr noch einmal sein Herz offenbaren – weder in Worten noch in Taten.

Als er nun in Milton aus dem Zug stieg mit ernstem Gesicht und dem gewohnt harten und unergründlichen Blick wäre er am liebsten sofort zu seinem eigenem Heim und nach einem kurzen Bad auch in seine Fabrik geeilt, doch Mr. Bell bedrängte ihn sehr, mit ihm zum Hause der Hales zu kommen, damit er wenigstens heute noch ein kurzes Tete-a-tete mit seiner Verlobten hätte – wie er es nannte, dass Mr. Thornton gar nicht anders konnte als nachzugeben. Sein Interesse Margaret wieder zu treffen war in diesem Moment zwar nicht sonderlich groß, aber sowohl Mr. Bell als auch sein eigenes Herz, das trotz allem, was Margaret augenscheinlich getan hatte, um seiner Achtung nicht mehr würdig zu sein, diese junge Frau weder vergessen konnte noch wollte, ließen ihm keine Ruhe, so dass John Thornton schließlich mit zum Hause der Hales kam.

Wenn er Margaret nun besuchen würde, sagte er sich, brauchte er ihr heute nicht noch einmal am späteren Abend seine Aufwartungen zu machen, und außerdem wäre sein Kommen direkt nach seiner Ankunft in Milton ein Grund nicht lange bei Miss Hale zu bleiben und sich bald wieder zu verabschieden. So täuschte er sich geschickt über den eigentlichen Grund dieses Besuches – seiner Sehnsucht nach Margaret Hale – hinweg.

Als Dixon Margaret die Ankunft von Mr. Bell und Mr. Thornton ankündigte, empfand Margaret zuerst nur reine, ungetrübte Freude. Mr. Bell und ihr Verlobter waren wieder in Milton und ihre schreckliche Einsamkeit würde wenigstens ein bisschen gemindert werden durch die Gesellschaft dieser beiden Herren. Mr. Bell würde zweifelsohne bald wieder abreisen, aber Mr. Thornton würde ihr gewiss als ihr Verlobter auch weiter an einigen der vielen einsamen Abende Gesellschaft leisten. Sie erwartete keine große Zuneigung von ihm, nicht die Art von Liebe oder Leidenschaft, die er ihr einst gestanden hatte und die er nun nach eigenen Angaben nicht mehr für sie empfinden könnte.

Nein, Margaret war viel bescheidener in ihren Wünschen. Sie erwartete und erhoffte sich von Mr. Thornton einfach nur einen Begleiter, einen Freund, einen Menschen, der ihr Freundlichkeit entgegenbrachte und mit dem zu unterhalten ihre Trauer und den Verlust beider Elternteile mindern würde – und so ein treuer Freund war Mr. Thornton seit jeher gewesen, erst für Mr. Hale und nun für sie. Dann jedoch übermannte Margaret wieder die Erinnerung an sein ungehaltenes Versprechen, daran, wie sie hoffnungsvoll auf ihn gewartet hatte und er nicht gekommen war. Nun aber war er hier, doch sie würde nicht den Fehler machen sich zu sehr zu freuen, zuviel von seiner Anwesenheit zu erhoffen oder ihm auch nur zu deutlich zeigen, wie überaus dankbar sie ihm für seinen Besuch war. Wahrscheinlich war er sowieso nur aus Mitleid und aus Verpflichtung ihrem verstorbenen Vater gegenüber gekommen, aus dem gleichen Grund, aus dem er auch um ihre Hand angehalten hatte. Denn – da gab sich Margaret keinen falschen Illusionen hin – Liebe empfand er schon lange nicht mehr für sie. Sie hatte es mit einer ungewohnten Traurigkeit wahrgenommen, wie seine Bewunderung für sie geringer wurde, und versucht sich nicht darum zu scheren.

Aber nun waren sie verlobt, sie würde ihn heiraten, einen Mann, der sie verachtete, der sie nur aus Verpflichtung einem verstorbenem Freund gegenüber zu seiner Frau machte. Sie wusste, sie sollte ihre Verlobung mit ihm lösen. Eine Ehe mit ihr, einem Mädchen, das er nicht mehr liebte, konnte ihn nicht glücklich machen, das wusste sie oder ahnte sie zumindest. Er sollte ein Mädchen heiraten, das er wirklich liebte und das ihn auch liebte, aber Margaret fühlte sich unfähig die Verlobung mit John Thornton zu lösen. Nach dem Tod ihrer Eltern war er alles, was ihr noch geblieben war –damit erklärte sie sich auch, dass sie so völlig ungewillt war, die Verlobung mit ihm zu lösen - außer vielleicht noch Higgins und Mary, aber die beiden konnten weder etwas für sie tun noch waren sie die Gesellschaft, in der sich Margaret vorstellen könnte, von nun an zu verkehren. Higgins und seine Tochter waren ihre engen Freunde, aber sie brauchte jemanden, der für sie sorgte, bei dem sie unterkommen konnte, der ihr eine Familie gab. Und nun war Mr. Thornton dieser Jemand.

Natürlich hätte Mr. Bell auch die Verantwortung für sie übernommen und sie zu sich nach Oxford geholt, aber aus irgendeinem ihr selbst unverständlichen Grund wollte Margaret Milton nicht verlassen. Es war ihr, als wäre sie durch alle Probleme, die sie in dieser Stadt gehabt hatte, all das Leid, das sie hier erlebt hatte, auf eine unerklärliche Art und Weise mit Milton und seinen Bewohnern verwoben, als wäre ihre Geschichte hier noch nicht zu Ende.

Um aber ihre Abhängigkeit von Mr. Thornton diesem nicht allzu sehr unter die Nase zu reiben, war Margaret dazu entschlossen völligen Gleichmut zu bewahren und John Thornton in keinster Weise wissen oder vermuten zu lassen, wie viel ihr sein Besuch tatsächlich bedeutete.

Sie saß also mit starrer Miene im Salon, als Mr. Thornton und Mr. Bell hereintraten, was ihr ob ihrer großen Trauer und der immer noch äußert tiefen Erschütterung nicht sonderlich schwer fiel. Dann jedoch, als ihre Augen zu Mr. Thornton wanderten, ging eine Wandlung in ihr vor, die sie sich selbst nicht so recht erklären konnte. Mit dem Eintreten Mr. Thorntons, mit dem Wahrnehmen seiner großen, hochgewachsenen Gestalt und einem kurzen Blick in seine warmen, blauen Augen wurden ihre Gesichtszüge plötzlich weicher und ein Lächeln stahl sich auf die zuvor zusammengepressten Lippen. Margaret selbst wusste nicht, wie ihr geschah. Es war unerklärlich, sie lächelte ohne jeglichen vernünftigen Grund, es war als würde ihre Miene ihr mit einem Mal nicht mehr gehorchen. Rasch blickte sie zu Boden, sie war vollkommen verwirrt, schob aber die verwirrenden Gefühle, deren sie sich erst jetzt wirklich bewusst wurde, weg, sammelte sich und wandte sich dann mit dem Lächeln, das Mr. Thorntons Auftauchen bei ihr bewirkt hatte und das eigentlich demselben auch galt, Mr. Bell zu, als wäre es sein Besuch, der diese widernatürliche, unbändige Freude in ihr bewirkt hatte.

„Wie schön, Sie wieder zu sehen, Mr. Bell“, begrüßte sie ihren Patenonkel herzlich und warm, „ich hoffe, Sie kommen nicht nur für kurze Zeit, sondern werden mir noch eine Weile lang Gesellschaft leisten und mir ein guter Begleiter sein zumindest für die erste Zeit alleine, sowie Sie meinem Vater auch immer ein guter Freund und Begleiter waren!“

Mr. Bell nickte Margaret freundlich und auch ein bisschen mitfühlend zu, denn die Erwähnung ihres Vaters brachte ungewollt Tränen in Margarets Augen, aber sie war beherrscht genug, so dass diese unvergossen blieben.

Sie wandte sich schnell, bevor der trübselige Gedanke an ihren toten Vater sie wieder vollends in tiefe Traurigkeit versetzen konnte, Mr. Thornton zu. Weitaus ernster blickte sie ihn an und das nicht nur, weil die Erinnerung an ihren nun begrabenen Vater sie traurig stimmte und sie zudem entschlossen war vor ihm ihre große Freude über sein Kommen zu verbergen, sondern auch, weil seine durchdringenden, klaren, blauen Augen sie ernst und fast schon kritisch musterten, dass jedes Lächeln ihm gegenüber sowieso von ihren Lippen gewichen wäre.

Thornton selbst war unsicher und verärgert wegen Margarets Verhalten, das Mr. Bell gegenüber so warm und ihm gegenüber so kalt war. Er hatte sie zunächst nur abwartend und leicht kühl angeblickt, da sie seinem Blick schon gleich bei seinem Eintreten in den Raum so vollkommen ausgewichen war. Als er dann auch bei der Begrüßung nicht einmal den Ansatz eines Lächelns in ihrem Gesicht sah, wurde sein Blick feindselig. Natürlich, wie musste sie seine Anwesenheit verabscheuen, wie musste sie ihn hassen und wünschen ihn mit diesem Frederik ersetzen zu können! Er konnte sich nur zu gut vorstellen, welche Gedanken ihr in diesem Augenblick durch den Kopf gingen, wie sie sich überlegte, wie sie ihn baldmöglichst wieder zum Gehen bewegen konnte, wie sie darauf verzweifelt hoffte, er würde sich keine Freiheiten ihr gegenüber herausnehmen. Aber er würde ihr zeigen, dass er jedes Recht auf sie hatte. Er riss die von ihr angebotene Hand an seine Lippen und platzierte einen sehr festen, Besitz ergreifenden Handkuss darauf, als wollte er sie damit als sein Eigentum deklarieren.

Margarets Hand zitterte unter seinem Griff und sie zog ihm die Hand sofort weg, als er sie etwas lockerer ließ. Für Thornton war das Bestätigung genug für ihre Abneigung, mit einem Hauch Verachtung und großer Selbstzufriedenheit blickte er auf die vor ihm stehende Margaret hinab, deren Wangen hochrot geworden waren und die nicht mehr wusste, wo sie hinschauen sollte.

In Wirklichkeit empfand sie nämlich keineswegs Abscheu gegenüber Mr. Thornton, aber der Sprung, den ihr Herz gemacht hatte, als dessen Lippen ihren Handrücken berührten, jagte ihr nahezu panische Angst ein. Zudem hatte sich ihr Puls etwa verdreifacht ebenso wie ihre Atmung. Verwundert nahm Margaret wahr, dass sie am ganzen Körper zitterte und ihre Wangen glühten als hätte sie Fieber. Schnell entzog sie Mr. Thornton also ihre Hand, damit er nicht wahrnahm, wie komisch sie auf seinen Handkuss reagierte und zudem war die warme Berührung von Thorntons Hand und seinen Lippen mehr als die von ihren Gefühlen überraschte Margaret bewältigen konnte. Mr. Thorntons Blick, der ihr wie durch Mark und Bein ging, war schon Herausforderung genug. Unsicher machte Margaret einen Schritt zurück und fragte schnell: „Ich wollte gerade eine Tasse Tee trinken, kann ich Ihnen beiden auch eine Tasse Tee anbieten?“, fragte sie hastig, um kein peinliches Schweigen entstehen zu lassen und von ihrem unerhörtem Benehmen abzulenken.

„Gerne, liebe Margaret“, erwiderte Mr. Bell sogleich, „aber ich denke, ich werde mich vorher noch schnell einen Augenblick frisch machen und mich umziehen, entschuldigt mich bitte“, und wandte sich zur Tür.

Purer Horror erschien auf Margarets Gesicht, die sofort verstand, was Mr. Bell bezwecken wollte, und auf keinen Fall mit Mr. Thornton und ihren verwirrenden Gefühlen im Raum alleine bleiben wollten.

John Thornton bemerkte natürlich ihre offensichtliche Abneigung seiner Gegenwart.

„Danke, nein“, entgegnete er kühl, „ich werde sicher schon von meiner Mutter erwartet und kann schwerlich noch länger hier verweilen.“

Dass Mr. Thornton sich für diesen Abend schon verabschiedete, war Margaret aber nun auch nicht Recht.

„Bitte Mr. Thornton, auf eine Tasse Tee können Sie wohl noch bleiben“, bat sie ihn mit großen, kreisrunden, fast schon flehenden himmelsblauen Augen.

„Ich muss wirklich gehen, ich hätte gar nicht erst hierher kommen sollen“, erwiderte John Thornton nur kalt und ohne einen letzten Blick auf Margaret verließ er das Zimmer. Margaret schaute ihm bedrückt hinterher und nun stahlen sich die Tränen aus ihren Augen, die zuvor unvergossen geblieben waren.

„Grämen Sie sich nicht, meine liebe Margaret“, munterte Mr. Bell, der die Szene zwischen den beiden verwundert wahrgenommen hatte, sie freundlich auf, „ich bin mir sicher, dass Mr. Thornton gerade eben nur eine wichtige geschäftliche Verpflichtung eingefallen ist. Sie wissen ja, wie wichtig ihm seine Mill ist. Ich bin mir sicher, morgen früh steht er schon wieder vor Ihrer Tür und vermutlich noch vor dem Frühstück.“

Margaret nickte nur schwach. „So wird es wohl sein, Mr. Bell“, stimmt sie zu, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie daran nicht zu glauben schien.

Mr. Bell hätte gerne noch mehr zu ihrem Trost gesagt, aber er wusste nicht, was er sagen sollte. Er verstand Thornton nicht. Einerseits ergriff er sogar vor seinen Augen leidenschaftlich Margarets Hand und küsste sie, dann aber verschwand er abrupt, als er ihm nur ein bisschen Privatsphäre mit Margaret lassen wollte. Was war bloß mit diesem Mann los? Er war so deutlich in Margaret verliebt und doch tat er sich so schwer es ihr zu zeigen? Hatte er sich von Margarets Geste vorhin abgewiesen gefühlt? Vermutlich, aber Mr. Bell konnte nicht verstehen, wie er diese tugendhafte Verlegenheit Margarets, die eindeutig der Grund für das schnelle Zurückziehen ihrer Hand war, als Abweisung oder Schmach verstehen konnte. Er war doch einfach ein zu harter, unnachgiebiger Mann für die sanfte Margaret, wenn er so harsch auf seine Rechte pochte und Margarets Gefühle so mit Füßen trat. An ihrer Liebe konnte Thornton jedenfalls nicht zweifeln, das Aufleuchten von Margarets Augen und ihr liebevolles Lächeln, als Mr. Thornton das Zimmer betreten hatte, waren ja wohl Zeugnis genug von ihrer Zuneigung zu diesem Mann. Jedenfalls als solches hatte Mr. Bell sie wahrgenommen.

Er beschloss die niedergeschlagene Margaret nun erst einmal von ihrem „treulosen“ Verlobten abzulenken und demselben morgen in einer ruhigen Minute mal die Leviten zu lesen. So behandelte niemand sein Patenkind.

Tatsächlich schien äußerlich Mr. Bells Vorhaben, Margaret von Mr. Thornton abzulenken, zu gelingen. Sie war zwar stiller als sonst an diesem Abend, aber sie ließ kein Wort mehr über Mr. Thornton verlauten und schien gewillt ihren Verlobten zumindest für diesen Abend ganz aus ihren Gedanken zu verbannen. Als er an diesem Abend zu Bett ging, gratulierte sich Mr. Bell selbstzufrieden zu seinen Fähigkeiten liebeskranke Mädchen von den von ihnen geliebten jungen Herren ablenken zu können. Dass Margaret sich in Wirklichkeit die halbe Nacht in ihrem Bett wälzte und nicht wusste, ob sie mehr über Mr. Thorntons plötzliche Kälte oder über die ungewohnten und unerwarteten Gefühle, die sein Handkuss bei ihr ausgelöst hatte, nachgrübeln sollte.

Für Mr. Thorntons Kälte fand sie zumindest recht rasch eine Erklärung, er hatte vermutlich nun erst verstanden, dass sie diese von ihm so unbedacht geschlossene Verlobung nicht lösen würde, dass sie bereit und gewillt war ihn zu heiraten und er nun an sie gebunden war, wenn er sich nicht als Mistkerl erweisen wollte, der ohne Grund die Verlobung mit einem ehrbaren Mädchen wieder löste und sie dem Spott der Leute preisgab.

Sie verstand seine Enttäuschung, seine Wut, seine Kälte. Sie verstand nur nicht, wieso es ihr so nahe ging, wieso sie das Gefühl hatte, dass von seiner Meinung über sie so viel abhinge, warum sie nicht wollte, dass er sie ohne es wirklich zu wollen heiratete, wenn sie es doch schon längst als Realität akzeptiert hatte? Aber hatte sie das tatsächlich getan? Es schien nicht so und ihr wurde mehr und mehr klar, dass sie insgeheim darauf gehofft hatte, dass er immer noch starke Gefühle für sie hegte, dass er sie immer noch liebte. Aber wieso sollte sie sich so etwas wünschen? Sie liebte ihn doch selbst auch nicht, oder etwa doch?

Müde schüttelte sie den Kopf, nein, sie konnte Mr. Thornton nicht lieben. Sie hatte diesen Mann seit jeher verachtet, zwar war sie ihm in letzter Zeit freundlicher gesinnt gewesen und sie hatte auch seine vielen guten Eigenschaften erkannt, aber das war noch lange keine Liebe!

Nein, sie liebte doch John Thornton nicht, er war überhaupt nicht die Art von Mann, die zu ihr passte, zu der sie sich hingezogen fühlen konnte, und doch, flüsterte ihr ein leises Stimmchen zu, ging dein Herz schneller als er deine Hand küsste.

Margaret drehte sich auf die andere Bettseite, wie um sich von diesem Gedanken abzuwenden. Sie war nur überrascht gewesen, versuchte sie sich weiß zu machen. Das war alles gewesen, was ihre Reaktion heute Nachmittag bewirkt hatte: Überraschung und Scham, schließlich war sie eine ehrbare junge Dame, aber dieses unerklärliche, unbekannte Gefühl in der Magengrube, dieses wohlige Erschaudern bei Mr. Thorntons Berührung, das konnte man doch nicht alles auf schlichte Überraschung schieben, ließen sie die Fragen nicht los.

„Doch, doch, das war alles nur aus Überraschung, ich war überrascht, verlegen und verschämt, mehr nicht“, schluchzte sie in ihr Kissen, „ich liebe ihn doch nicht, ich liebe ihn wirklich nicht!“

Immer wieder sprach sie diese Worte wie ein Mandra vor sich hin, bis alle Zweifel an der Wahrhaftigkeit dieser Worte endgültig verschwunden waren. Sie, Margaret Hale, liebte John Thornton nicht, hatte ihn nie geliebt und würde ihn nie lieben, soviel war sicher. Sie konnte, sie durfte ihn nicht lieben, denn wenn sie es tat, würde sie sehr unglücklich, denn John Thornton liebte sie schon lange nicht mehr, das war alles, was Margaret Hale wusste und was sie vor auch nur den kleinsten, aufkeimenden Gefühle für Mr. Thornton zurückschrecken ließ.




To be continued
Becci ist Autor von 31 anderen Geschichten.
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