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John Thorntons Arbeitstag war an diesem Tage sehr lang und dennoch wenig ergiebig. Immer wieder musste er an Margaret denken, mit der er nun ja verlobt war. Er wusste, er liebte sie, aber würde sie ihn irgendwann auch lieben können? Würde sie irgendwann seine Gefühle erwidern können oder würde er immer wehmütig daran denken müssen, dass seine Ehefrau keine andere Wahl gehabt hätte als ihn zu heiraten.

Doch die Verlobung wieder aufzulösen? Nein, daran war nicht mehr zu denken, diese Schande könnte er ihr nicht antun, aber tat er ihr wirklich einen Gefallen, wenn er sie heiratete? Er wusste es nicht.

 

Am Abend war dann der Augenblick gekommen, an dem John Thornton auch endlich seiner Mutter von seiner Verlobung berichten musste. Ihm graute vor deren Reaktion, aber es gab kein Zurück mehr, er müsste es ihr sagen, bevor sie es aus anderer Quelle erfuhr.

Mrs. Thornton bot ihm einen guten Einstieg für die Verkündung seiner Neuigkeit, indem sie sich erkundigte, wieso er erst so spät seine Arbeit in der Fabrik begonnen hatte.

„Ich habe Miss Hale besucht, Mutter“, erklärte Thornton ruhig und bewusst gleichgültig.

„Schon wieder?“, rief seine Mutter erstaunt aus, „das wäre doch wirklich nicht notwendig gewesen.“

„Es war nötig“, stellte John nur ruhig fest und fügte dann hinzu: „Miss Hale hat in kürzester Zeit Vater und Mutter verloren, da kann sie jeden Freund gebrauchen, den sie in Milton hat.“

Mrs. Thornton zog missbilligend ihre Augenbrauen hoch.

„Miss Hale hat genug Freunde, John, hör endlich auf dem Mädchen nachzulaufen, sie ist es nicht wert.“

„Sie ist es wert, Mutter, übrigens würde es mich freuen, wenn du ein wenig freundlicher über meine zukünftige Ehefrau reden würdest“, erwiderte er scharf, „ich habe Miss Hale nämlich gestern erneut um ihre Hand gebeten und sie hat angenommen. Wir werden sobald als möglich heiraten.“

Mrs. Thornton blieb vor Schreck fast die Luft weg.

„Was sagst du da, John? Wie konntest du nur so dumm sein, diesem Mädchen erneut einen Antrag zu machen. Du weißt doch, wie sehr sie dich verachtet. Gott weiß, wieso sie dich angenommen hat, aber sicher nicht aus Liebe. Vielleicht wegen des Geldes und der Absicherung oder“, hier ging Mrs. Thorntons Stimme ins Hysterische über, „weil sie dringend einen Ehemann braucht. Dieser Geliebte, den sie da hat, will sie nicht heiraten, und nun will sie den kleinen Bastard in ihrem Bauch dir unterschieben, John! Wie kannst du nur auf so etwas hereinfallen?“

John Thornton sprang voll Wut auf. Wie konnte seine Mutter so böse Gerüchte über Margaret auch nur vermuten, geschweige denn gegenüber ihm aussprechen? Mit einem Mal kam ihm seine Mutter fremd vor.

„Du weißt doch überhaupt nicht, was du sagst, Mutter! Margaret ist ein Muster an Anstand und Tugend, sie würde niemals … niemals… ich kann einfach nicht glauben, dass du auf einen solchen Gedanken auch nur kommen kannst!“, schrie er entsetzt aus, während er wie von Furien gejagt durch das Zimmer schritt.

„Es fällt nicht schwer auf einen solchen Gedanken zu kommen, wenn eine junge Frau schon einmal in einer kompromittierenden Lage vorgefunden wurde und sie plötzlich bereit ist, einen Mann zu heiraten, den sie vorher rigoros ablehnte“, entgegnete Mrs. Thornton kühl, „du wirst dir meine Worte noch zu Herzen nehmen, wenn du dich als gehörnter Ehemann herausstellst, John! Oder glaubst du wirklich, dass eine junge Frau, die sich mit einem Mann nachts an einem Bahnhof trifft, diesen dort innig umarmt, mit diesem Herrn nur Umarmungen ausgetauscht hat? Wenn du das tatsächlich für möglich hältst, bist du dümmer als ich gedacht hätte. Und selbst, wenn Miss Hale dir kein Balg unterschiebt, finde dich besser damit ab, dass du nicht der Erste bei ihr sein wirst!“

Mit diesen Worten verließ Mrs. Thornton ohne einen weiteren Blick auf ihren Sohn den Raum. Dieser schritt immer noch aufgeregt im Raum herum. Nein, das konnte nicht wahr sein! Das durfte nicht wahr sein! So war seine Margaret nicht!

Dann aber erinnerte er sich an die Begegnung am Bahnhof, die innige Umarmung der beiden und kam ins Schwanken. Vielleicht war es ja wirklich, wie seine Mutter es vermutete, vielleicht musste Margaret heiraten. Er war selbst gestern mehr als verwundert darüber gewesen, dass sie seinen Antrag angenommen hatte und dies würde zumindest ihr Verhalten erklären. Doch nein, das wollte er von ihr nicht glauben. Schließlich waren sie verlobt. Miss Hale war eine Frau von Anstand. Niemals würde sie sich mit ihm verloben, wenn sie in Wahrheit einem anderen gehörte. Das würde sie ihm niemals antun und auch ihr tiefes Rechtsverständnis würde sich dagegen sträuben, aber wenn sie sich tatsächlich in einer Notlage befand und zudem ihre Eltern verloren hatte…

Mit einem wütenden Schlag gegen den großen, verschnörkelten Eichenschrank schob John Thornton diese Überlegungen endgültig von sich. Er würde auf Margarets Tugendhaftigkeit vertrauen und sich nicht von den bösen Gerüchten seiner Mutter beeinflussen lassen. Dennoch fand er, als er sich kurze Zeit später bettfertig machte, trotz großer Erschöpfung keinen Schlaf.

 

Nach einer eher durchwachten Nacht machte sich John Thornton früh am nächsten Morgen auf zu seiner Verlobten. Er hatte ihr am gestrigen Tag versprochen sie vor seiner Abreise nach Oxford noch einmal zu besuchen und dieses Versprechen wollte er einhalten.

Wieder einmal öffnete ihm eine mürrische Dixon, die heute ungehaltener als sonst zu sein schien.

„Kommen Sie herein, aber der Miss geht es schlecht“, begrüßte sie ihn.

Thornton stockte, Miss Hale, Margaret, ging es schlecht. War das nur seelisch gemeint oder vielleicht auch körperlich? Allein der Gedanke, dass es körperlich gemeint sein könnte, sorgte dafür, dass sein Herz sich zusammenzog. Vielleicht hatte seine Mutter doch Recht gehabt mit ihren Worten gestern Abend. Unwohlsein am Morgen war doch ein deutliches Zeichen für eine Schwangerschaft.

„Ich will Sie dennoch sehen“, presste er hervor.

„Sie sitzt mit Mr. Bell im Salon“, wies ihn Dixon an und verschwand dann.

John Thornton ging tapfer zum Salon, er würde ergründen, wie es Margaret ging und was er zu befürchten hatte und was nicht. Vor der Tür hielt er jedoch inne. Eine Stimme von drinnen weckte sein Interesse, Margarets Stimme: „ich weiß auch nicht, Mr. Bell, ach, am liebsten würde ich auch sterben, was soll ich noch mutterseelenallein auf dieser Welt. Wenn ich nur zu Frederick könnte, hach, wenn ich nur Frederick sehen könnte…“

Ihre weiteren Worte gingen in Schluchzen über, aber Thornton hatte auch schon genug gehört. Seine Fäuste ballten sich. Schon wieder dieser gottverdammte Frederick! Thornton hätte diesem Mistkerl am liebsten sofort den Hals umgedreht und hätte es sicher auch getan, wenn dieser denn zur Stelle gewesen wäre.

Es war also wahr, dachte er bitter, sie heiratete ihn nur, weil sie keine andere Wahl hatte. Er hastete aus dem Haus der Hales und ließ sich dort nicht mehr blicken. Selbst Mr. Bell traf er erst am Bahnhof. Dieser fragte ihn verwundert, wieso er sich nicht von Margaret verabschiedet habe, doch John Thornton winkte nur ab, dass dafür keine Zeit geblieben war. Mr. Bell hätte wohl noch viele Fragen gehabt, aber Thorntons abweisender Tonfall hielt ihn davon ab sie zu stellen. Er erwähnte nur, dass Margaret es bedauert hätte, dass Thornton nicht gekommen war, doch mehr wagte er diesem gegenüber nicht zu sagen.

 

Ja, Margaret hatte es tatsächlich bedauert, dass John Thornton sie nicht mehr besucht hatte. Nach dem letzten Tag, den sie nur mit Dixon und Mr. Bell verbracht hatte, hatte sie sich geradezu auf Mr. Thorntons versprochenen Besuch gefreut. Sie hatte auf ihn gewartet und war, als er selbst zu vorgerückter Stunde nicht bei ihnen auftauchte, ans Fenster gerückt und hatte nach ihm Ausschau gehalten. Doch John Thornton kam nicht, nicht jetzt und auch nicht später. Schließlich als es Zeit war für Mr. Bell abzureisen, gab Margaret die Hoffnung auf ihren Verlobten noch vor seiner Abreise zu sehen.

Mr. Bell, der ihr Leiden wahrnahm und Mitleid mit ihr hatte, bot ihr an, dass sie mit an den Bahnhof komme und sich dort von Thornton verabschiedete, aber daraufhin hatte Margaret nur den Kopf geschüttelt und trotzig und enttäuscht ausgerufen: „Wenn er nicht zu mir kommen will, werde ich ihm sicher nicht nachlaufen!“

Dann war sie aus dem Raum gelaufen und in ihr Zimmer gerannt, wo sie sich schluchzend aufs Bett geworfen hatte. Bevor sie überhaupt begriff, wieso sie überhaupt weinte, war eine Weile vergangen.

Dann begann sie mit sich selbst zu hadern: Was fand sie bloß plötzlich an John Thornton? Sie hatte sich doch wohl nicht in ihn verliebt? Nein, das konnte nicht sein, aber warum weinte sie dann seinetwillen. Er war der einer der wenigen Freunde, die sie noch in Milton hatte, und er war ihr Verlobter. Doch das alles war noch lange kein Grund so tief enttäuscht zu sein, dass er sein Versprechen nicht gehalten hatte. Da war mehr, viel mehr und sie wagte nicht, daran zu rühren. Sie ahnte mehr und mehr, dass John Thornton es irgendwie schaffte, in ihr Gefühle auszulösen, die sie bisher nicht gekannt hatte, vor denen sie sich fürchtete. Sie liebte ihn nicht, aber sie spürte, sie könnte ihn lieben und dieser Gedanke bereitete ihr eine Heidenangst. Sie konnte doch nicht ihr Herz an ihn verlieren, nicht wenn John Thornton sie nur aus Mitleid heiratete und nicht einmal seine Versprechen einlöste. Sie hatte gerade erst beide Elternteile verloren. Sie könnte es nicht ertragen erneut enttäuscht zu werden, aber es schien, als könnte John Thornton genau das erreichen, sie erneut zu verletzen.

Entschlossen wischte sich Margaret die Tränen ab. Nein, sie würde ihm keine Tränen mehr nachweinen, nein, sie würde ihr Herz nicht in Gefahr bringen. Sie würde Mr. Thornton heiraten und ihm eine gute Ehefrau sein, aber sie schwor sich, dass er sie niemals verletzen würde, dass sie sich ihm nie wieder so weit öffnen würde, dass er sie so tief enttäuschen konnte wie er es heute getan hatte.






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