Margaret tat in dieser Nacht kein Auge zu. Dass Mr. Thornton erneut um ihre Hand angehalten hatte, erstaunte sie außerordentlich. Liebte er sie vielleicht immer noch? Aber nein, das konnte nicht sein, er hatte ihr doch schon einmal gesagt, dass seine Liebe zu ihr aus und vorbei war und sie glaubte ihm. Wieso hätte er es sagen sollen, wenn es nicht wahr war? Das war also nicht Grund, warum er sie an diesem Tag, um ihre Hand gebeten hatte, aber was war es dann? War es Begierde? Nein, auch das konnte sich Margaret nicht vorstellen. Es musste Mitleid gewesen sein, dieser warme Ausdruck in seinen Augen, pures, menschliches Mitleid. Sie fühlte sich herabgewürdigt, sie wollte kein Mitleid von ihm und auch von niemandem sonst. Sie wollte Trost, ehrliches Mitgefühl, ja, aber nicht dieses verachtende Mitleid, dass ihr nur umso deutlicher machte, was sie verloren hatte. Und vor allem wollte sie es nicht von John Thornton, sie wollte nicht, dass er nett zu ihr war, nur weil sie ihre Eltern verloren hatte, sie wollte, dass er nett zu ihr war, weil er sie schätzte und sie liebte. Diese Erkenntnis, dass sie sich Mr. Thorntons Liebe wünschte, beunruhigte Margaret nun noch mehr. War es etwa möglich, dass sie sich in ihn verliebt hatte?
Aber nein, sagte sich Margaret, wenn dies der Fall wäre, würde sie sich sicher anders verhalten. Es war vielmehr so, dass seine beständige Liebe ihr irgendwie geschmeichelt hatte und ihr nun, da sie nicht mehr da war und er nur noch Mitleid und wahrscheinlich Verachtung für sie übrig hatte, fehlte. Es war wie ihre Tante manchmal zu sagen pflegte einfach so, dass Mädchen sich gerne umschmeichelt fühlten und wussten, dass sie bewundert wurden. Eine ernste Zuneigung war es aber nicht. Soweit schon ein wenig beruhigter, blieb für Margaret aber immer noch die Frage bestehen, warum Mr. Thornton sie nun um ihre Hand gebeten hatte. Mitleid schien der Grund zu sein, aber Mitleid allein würde doch nur in den seltensten Fällen einen Mann bewegen einem jungen Mädchen einen Antrag zu machen. Vielleicht will er einfach eine Frau an seiner Seite, dachte sich Margaret, aber auch dies schien ein eher unwahrscheinlicher Grund zu sein, zumal dabei die Frage bestehen blieb, wieso er sie gewählt hatte und nicht ein anderes Mädchen. Weil er dich immer noch liebt, flüsterte ihr ihr Herz, aber das konnte Margaret nur schwer glauben.
Es musste einfach ein eher plötzlicher Impuls von ihm gewesen sein, der ihn veranlasst hatte aus Mitleid und vielleicht auch aus einer Art Pflichtbewusstsein ihrem Vater gegenüber um ihre Hand anzuhalten.
Soweit war sein Verhalten erklärt, aber das erklärte alles noch nicht ihre Reaktion. Sie hatte ihn angenommen ohne auch nur eine Minute darüber nachzudenken. Sie wusste nun, dass er nicht der Mann war, für den sie ihn am Anfang gehalten hatte. Er war nett, freundlich großmütig und es gab keinen Grund ihn zu verachten, wie sie es am Anfang getan hatte. Aber ihn lieben, nein, das tat sie auch nicht, er war einfach ein guter Freund, ein Mensch, den sie schätzte und achtete, mehr nicht. Sie wusste in gewisser Weise, dass damit die Frage nach dem Grund für ihre Annahme seines Antrages nicht wirklich geklärt war, wagte aber auch nicht, sich da weiter zu hinterfragen. Manche Dinge wusste sie besser nicht so genau.
Eins jedoch war ihr nach dieser schlaflosen Nacht vollkommen klar, sie würde John Thornton heiraten und zwar mit Freude.
John Thornton fand in dieser Nacht auch keinen Schlaf. Wieso waren nur seine Gefühle mit ihm durchgegangen? Wie hatte Miss Hale nur einen Antrag machen können?
Zwar stellte er fest, dass es ihm insgeheim doch sehr gut gefiel, dass Miss Hale sich nun mit ihm verlobt hatte, aber er wusste in seinem Herzen, dass es nicht richtig war, ihre Lage auszunutzen, um sein Glück zu erringen. Er hatte ihre Schwäche ausgenutzt und nun ihr Versprechen ihn zu heiraten, aber sollte er sich darüber freuen, auf seine Klugheit stolz sein?
Nein, das konnte er nicht. Er hatte zu überrascht von Margarets Zusage noch niemanden davon erzählt und am nächsten Morgen würde er sofort zu den Hales eilen und Miss Hale sagen, dass er sie ihrer Zusage entband. Er durfte ihre Schwäche nicht ausnutzen, er durfte nicht so egoistisch sein und den Tod ihrer Eltern und ihre Trauer und Verwirrung ausnutzen, um sie zu seiner Frau machen zu können.
Mit dem Gedanken, dass er nun endlich wusste, was er tun würde und dass es das Richtige sein würde, fiel er schließlich in einen langen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Tag galt John Thorntons erster Gang dem Haus der Hales. Es war ein schöner Frühlingstag, aber seine Stimmung war gedämpft. Er musste Margaret, die sich ihm gestern schon versprochen hatte, wieder loslassen, und das tat ihm sehr weh. Doch er dachte daran, dass sie sowieso einen anderen Mann liebte und war geradezu erleichtert, dass er sie nun doch nicht heiraten würde. Dann aber fragte er sich, ob das der eigentliche Grund, wieso zögerte diese Ehe zu beginnen, doch er wies den Gedanken schnell von sich. Er tat dies allein für Margaret.
Als er am Haus der Hales klingelte, öffnete ihm Dixon, die ihn skeptisch beäugte. Bevor er nach Margaret fragen konnte, eilte ihm Mr. Bell entgegnen.
„Thornton“, rief er erfreut aus, „schön Sie zu sehen.“ Er schüttelte ihm überschwänglich die Hand und klopfte dem jungen Mann auf die Schulter.
„Herzlichen Glückwunsch, mein Lieber, Sie waren ja sehr verschwiegen, Sie Halunke, aber Margaret hat mir gesagt, wie es mit euch aussieht. Ich freue mich sehr darüber, vor allem, da Margaret so nicht allein sein wird. Sie haben mir eine große Bürde vom Herzen genommen.“
Thornton nickte nur stumm. Er war völlig perplex, er hätte nicht gedacht, dass Margaret Mr. Bell von Ihrer Verlobung erzählen könnte. Natürlich gab es nun keinen Rückzug und ein kleiner Teil seines Herzens war sehr dankbar darüber, aber im Großen und Ganzen gestaltete sich diese Situation nicht zu Thorntons Zufriedenheit. Er war wütend nun an eine Frau gebunden zu sein, die ihn nicht liebte, und irgendwie hatte er auch Mitleid mit Margaret, die nun mit ihm verbunden sein würde, einem Mann, den sie nicht leiden konnte, ja sogar verachtete, aber sie war schließlich selbst daran schuld, oder etwa nicht?
„Ich gebe natürlich meine Zustimmung, aber ich werde mit Ihrem Einvernehmen auch noch Margarets Bruder schreiben, der im Ausland lebt.“
„Tun sie das“, erwiderte Mr. Thornton kühl. Er hatte nicht einmal zugehört und seine Gedanken waren an einem ganz anderen Ort. Er musste erst einmal innerlich verarbeiten, dass er Margaret nun doch sicher heiraten würde.
„Darf ich sie sehen?“, fragte er schließlich ohne hinzuhören, was Mr. Bell ihm sonst noch erzählte.
„Natürlich“, war Mr. Bells Antwort darauf und Thornton hielt sich keinen Moment länger mit dem älteren Mann auf, sondern ging sofort zu Margaret in den Salon. Als er sie sah, blass und bleich mit tiefen Ringen unter den Augen, verschwanden alle wütenden Gedanken gegenüber Margaret. Sein Herz füllte sich bei ihrem Anblick mit tiefem, ehrlichem Mitgefühl und mit einem weitaus wärmeren Gefühl.
Er setzte sich zu ihr, nahm, wie selbstverständlich ihre Hand in seine, und erkundigte sich, wie sie geschlafen hätte.
Nicht gut, so antwortete sie ihm. Er versuchte sie aufzumuntern und fragte sie, ob er ihr irgendeine Freude machen könne, doch sie schüttelte nur den Kopf. Dennoch versuchte sie Thornton mit Unterhaltung abzulenken, er war normalerweise nicht besonders gut in solchem gesellschaftlich erforderlichem, aber aussagelosem Geplänkel, doch an diesem Morgen fiel es ihm leicht. Er erzählte ihr von seinem Frühstück und wollte von ihr, da sie ja vom Lande kam, wissen, wieso bei manchen Frühstückseiern die Schale weiß und bei anderen bräunlich war. Margaret wusste auf diese Frage keine Antwort, doch es brachte ein klitzekleines Lächeln auf ihr Gesicht und das war alles, was Thornton hatte sehen wollen.
Er blieb noch eine Weile bei ihr und verabschiedete sich schließlich nach einem erschreckten Blick auf die Uhr von ihr, die Zeit war schon weit fortgeschritten, und John Thornton hätte schon längst anfangen müssen zu arbeiten.
„Ich besuche dich morgen früh wieder, meine liebe Margaret“, verabschiedete er sich von ihr, „danach werde ich eine Weile weg sein, da ich mit Mr. Bell ausgemacht habe, dass ich morgen mit ihm nach Oxford fahre zur Beerdigung deines Vaters, aber sobald ich wieder in Milton bin, werde ich dich wieder besuchen.“
„Ich werde Ihren Besuch mit Freude erwarten“, entgegnete Margaret. Wieder warf sie ihm ein kleines Lächeln zu, was er fast als ein liebendes Lächeln interpretiert hätte, hätte er es nicht besser gewusst. Mit einem Handkuss, der Margaret vollkommen verblüffte, verließ er ohne sich noch einmal umzudrehen den Raum. Hätte er sich umgedreht, hätte er sehen können, wie Margaret langsam die Röte in die Wangen stieg.
Margaret hatte Mr. Thorntons Handkuss nicht nur überrascht, sondern auch ordentlich durcheinander gebracht. Als er ihre Hand geküsst hatte, war es ihr durch und durch gegangen und sie hatte plötzlich ein so beschwingtes Gefühl gehabt, dass sie nicht mehr wusste, was mit ihr genau los war. Jedenfalls führte Mr. Thorntons Handkuss dazu, dass Margaret Hale für diesen Vormittag nicht an ihren toten Vater dachte, sondern an einen Miltoner Gentleman, mit dem sie seit gestern verlobt war und der ihr immer mehr an Herz wuchs, ohne dass sie es wirklich bemerkte.