Er trug den Kerzenleuchter, als sie beide die Treppe hochstiegen, wo das Schlafzimmer den gesamten ausgebauten Dachstuhl einnahm. Was Sybil im äußerst schwachen Schein der Kerze zu sehen bekam, verschlug ihr den Atem.
„Jesus, Maria und Josef!“
Ihr Ausruf des Erstaunens dämpfte für einen Moment lang seine Nervosität. Noch wusste er nicht, wie er mit der Situation richtig umgehen sollte, was richtig und was falsch war. Konnte er wirklich diese sercqische Prinzessin neben sich schlafen lassen ohne dass etwas passierte? In der einen Sekunde hielt er diesen Gedanken für absolut utopisch, in der nächsten hingegen kam gar nichts anderes als strengste Selbstdisziplin in Frage!
Sie nahm ihm die Kerze aus der Hand, um selbst den überaus großzügigen Raum zu erforschen und genau anzusehen.
„Ich darf doch, oder?“
Er nickte stumm und ließ sie gewähren, denn es gab ihm Zeit nachzudenken.
Ein erneuter spitzer Schrei von ihr ließ ihn alarmiert herumfahren. Was war denn nun schon wieder? Saß dort vielleicht irgendwo eine fette Spinne? Womöglich in der Badewanne? Auszuschließen war es nicht.
„Was ist denn los, Sybil?“
„Das kann nicht dein Ernst sein!“
„Du musst dich schon etwas klarer ausdrücken, ich weiß leider nicht, auf was genau du anspielst.“
„Das Bad!“
„Ja?“
„Es ist nicht durch eine Wand mit Tür vom Schlafraum abgetrennt. Du… du kannst zusehen, wenn ich bade oder… oder…“, sie brach ab, weil ihr die Worte fehlten.
Er zog indigniert seine Augenbraue nach oben und stellte dann trocken fest: „Und du kannst mir beim Baden zusehen. Oder was eben sonst noch in einem Bad an Dingen anfällt, ganz genau. Als ich das Cottage gemietet habe, war kaum abzusehen, dass ich gezwungen sein würde, hier eine Nacht mit einer weiteren, mir gänzlich unbekannten Person zu verbringen. Für mich allein stellte ein voll einsehbares Bad nicht unbedingt ein Problem dar.“
„Unten ist ein weiteres Klo.“
„Bitte, es steht dir frei, dies zu benutzen.“
„Warum benutzt du es nicht? Es wäre nur höflich und gentlemanlike einer Dame gegenüber.“
Er fluchte unterdrückt und erhob sich vom Bett.
Mit einer wenig galanten Geste riss er ihr den Kerzenhalter aus der Hand: „Kein Problem. Aber dann ist es hier bei dir dunkel. Ich kann die Stufen schließlich nicht ohne Licht hinuntersteigen.“
„Ja… aber… wie soll ich denn im Dunkeln aufs Kl… das Bad hier benutzen?“
„Mir egal. Ich gehe lediglich auf deinen netten Vorschlag ein.“
Sie war mit einem Satz bei ihm und nahm die Kerze wieder an sich: „Gut. Ich gehe mit dem Licht nach unten und du musst hier im Dunkeln die… deine… ach, du weißt schon!“
Sie entfernte sich und der große Raum wurde in fast völlige Finsternis getaucht. Seufzend warf er sich wieder aufs Bett, das er zum Glück hinter sich erahnte. Er musste eben warten, bis die Gnädigste wieder da war, damit er endlich auch ins Badezimmer konnte. Er überlegte hin und her, ob er sie dann schockieren und sich hier oben bettfertig machen, oder doch lieber ebenfalls nach unten marschieren sollte.
Plötzlich fiel ihm etwas ein und er erhob seine Stimme: „Sybil? Könntest du eine zweite Kerze hochbringen, bitte? Dann kann ich das Bad hier in deiner Abwesenheit benutzen und es wäre uns beiden gedient, meinst du nicht?“
Ihre Antwort klang gedämpft und war nur schwer hörbar, weil das Tosen des Sturms noch zur räumlichen Distanz hinzukam: „Ich dachte, wir wollten Kerzen sparen? Wo ist eigentlich dein tolles LED-Licht an deinem Schlüsselbund?“
„Wenn ich das anmache, wird die Batterie gleich hin sein.“
„Es wird wohl reichen, um das Klo zu finden, oder?“
„Blöde Kuh“, murmelte er leise, so dass sie es nicht hören konnte.
Mit einem weiteren Seufzer zog er den Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und knipste besagtes Lichtchen an.
Er legte es auf den Rand der frei im Raum stehenden Wanne im Antik-Look und klappte den Klodeckel nach oben. Er war noch nicht ganz fertig, da wusste er, dass Sybil wieder da war. Er spürte es, obwohl er ihr teils den Rücken zukehrte.
„Du bist mir gegenüber im Vorteil. Ich habe nicht zusehen dürfen.“
Seine Stimme klang ruhig, doch er merkte, dass er innerlich angespannt war.
„Ich sagte doch, dass dies einen Gentleman ausmacht. Und damit du beruhigt bist: Ich habe bei dieser fast vollständigen Dunkelheit nichts erkennen können. Allenfalls etwas gehört.“
„Das heißt im Umkehrschluss, dass ich, hätte ich dir zugesehen, ebenso wenig hätte erkennen können. Worüber also hast du dich aufgeregt? Wir werden gemeinsam in diesem Bett hier liegen, da finde ich es überhaupt nicht sonderbar, wenn man ein paar private Blicke erhascht.“
Sie fauchte ungehalten: „Ob ich mich neben dich ins Bett lege, ist gerade ziemlich ungewiss. Ich tendiere dazu, unten auf dem Sofa zu schlafen.“
„Mach doch!“
„Ich sollte dich dazu zwingen, ganz ehrlich. Du würdest vermutlich kein Auge zutun, weil du viel zu groß für das Ding bist.“
„Ich würde mich von dir gewiss nicht zwingen lassen. Die Sache ist ganz einfach: Entweder schlafen wir hier zu zweit in diesem bequemen Bett und ruhen uns von den Strapazen des Tages aus, die für dich offensichtlich schlimmer waren als für mich, oder du begibst dich nach unten und versuchst, auf dem Ledersofa einzuschlafen. Ich wette, es wird auch dir nicht gelingen.“
„Pah! Du bist unhöflich. Ach, was sage ich – unhöflich? Widerlich! Grausam! Unausstehlich!“
Langsam riss bei ihm der Geduldsfaden: „Ich glaube, ich weiß warum du Stress mit deinem Freund hattest. Du bist nämlich unausstehlich! Eine Prinzessin auf der Erbse! Ein verwöhntes Gör! Er wird’s nicht leicht mit dir gehabt haben.“
Sie nahm den erstbesten Gegenstand, der ihr in die Finger kam und warf damit nach ihm.
„Du… du bist ein ungehobelter Klotz!“
Der Schuh traf ihn an der Schulter, was ihn kaum schmerzte oder sonst wie aus der Fassung brachte.
Doch ihre wütende Attacke war noch nicht zu Ende, denn nun stürzte sie sich persönlich auf ihn und wollte ihn mit ihren Fingernägeln traktieren. Er wehrte sie locker ab, denn er war ihr körperlich um ein Vielfaches überlegen, und hielt ihre beiden Handgelenke mit eisernem Griff umklammert.
„Das, meine Liebe, würde ich mir an deiner Stelle noch einmal gut überlegen. Ich packe dich nämlich sonst ins Auto und fahre dich zurück zu deinem zertrümmerten Wagen. Verstanden?“
Mit zusammengebissenen Lippen ließ sie den Kopf hängen, nickte und signalisierte Aufgabe.
Er entließ sie vorsichtig aus seinem Zugriff, erst die eine Hand, dann die zweite.
„Friede?“
Sie nickte erneut und sank mit etwas Abstand zu ihm aufs Bett.
Als er sich dem Bett näherte, rollte sie sich herum und drehte ihm den Rücken zu. So verpasste sie den Moment, in dem er sich entkleidete. Dass er sich hinlegte, merkte sie daran, dass die Matratze ein gutes Stück nachgab und sie ein klein wenig in seine Richtung kullerte.
Steif rutschte sie wieder auf ihre Seite und schwieg weiter.
„Du musst wirklich k.o. sein. Schlaf gut.“
Mehr sagte auch er nicht. Dann knipste er seine Mini-Leuchte aus und löschte das Licht der Kerze. Wäre die sehr merkwürdige Situation und das unentwegte Heulen des Sturms nicht gewesen, hätte man sich beinahe wohlfühlen können.
Ihre Zickigkeit hatte verhindert, dass er weiterhin darüber nachdenken musste, ob er hochanständig bleiben sollte. Ihr Verhalten ihm gegenüber hatte ihm die Entscheidung zum Glück abgenommen und leicht gemacht. So schloss er ruhig die Augen und schlief trotz der tobenden Winde draußen recht bald ein.