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Author's Chapter Notes:

 

Es klärt sich, auf welche Art und Weise die Liquidation der Zielperson ausgeführt werden soll. Dies alles ist angelehnt an einen realen Fall; es waren umfangreiche Recherchen - u.a in Radiochemie bzw. Kernchemie - notwendig, um die Dinge so authentisch wie möglich darzustellen und die Durchführung der Operation für das Exekutiv-Kommitee (also die ausführenden Personen) realisierbar zu machen.










 

Für Tom war es wie ein Wunder. Er hätte nie gedacht, dass er die Räume des MI5 jemals wieder betreten würde. Er kam sich sehr merkwürdig vor, sein Magen krampfte sich zusammen, als er im Schlepptau der anderen drei das Foyer betrat und den Fragebogen für Gäste ausfüllen musste.

Sein Ausweisdokument wurde eingezogen, er würde es erst wiedererhalten, wenn er das Gebäude wieder korrekt und vorschriftsmäßig verlassen würde. Erin gab ihm zusätzliche Freigaben, die ein regulärer Besucher nur selten erhielt. Das bedeutete, dass er sich ohne Aufsicht, ohne geführte Tour im MI5 bewegen durfte und er auch Zugang zur Leitzentrale von Sektion D, dem Grid, hatte.

Als sich das Grid für ihn öffnete, hatte er beinahe Scheu einzutreten. Viel verändert hatte sich nicht, es waren neue Computer, neue Schreibtische installiert, einige Arbeitsplätze waren anders angeordnet, aber das Konferenzzimmer war beinahe unverändert und auch Harrys Büro, das man noch immer durch eine Glasscheibe einsehen konnte, sah so aus wie früher. Allerdings saß dort augenblicklich niemand auf dem Schreibtischstuhl. Der Arbeitsplatz war leer und verwaist. Tom tat es weh, denken zu müssen, dass unter Umständen Sir Harry Pearce niemals wieder dort Platz nehmen würde. Die Chancen dafür standen leider Gottes sehr hoch.

Calum marschierte sofort in den Konferenzraum, alle anderen folgten ihm. Dort hätte Tom sich um ein Haar auf seinen angestammten Platz gesetzt, er besann sich in letzter Minute und wartete, bis Erin sich hingesetzt hatte. Dann erst nahm er ihr gegenüber auf einem anderen Stuhl Platz.

Für ein paar Sekunden sahen sich alle schweigend an.

Erin kam schließlich zur Sache, bevor die Stille anfing peinlich zu werden: „Gut. Es sind furchtbare Umstände, die uns hier zusammenführen. Die vergangenen Tage kann man nur mit einem einzigen Wort passend umschreiben: Höllentrip. Kommen wir also gleich auf den Punkt: Tom, dir wurde ein Auftrag für eine streng geheime Mission erteilt, eine, die kein offizielles Gremium der Regierung Ihrer Majestät ausführen kann und darf. Es würde unweigerlich zu erheblichen diplomatischen Verwicklungen führen, wenn die Dinge gehörig schieflaufen würden; sogar zu geheimen Vergeltungsschlägen, die niemand möchte und die auf alle Fälle vermieden werden müssen. Deswegen halten sich die britischen Geheimdienste völlig raus. Es tut mir leid für dich, Tom, aber so ist nun mal die Lage. Das Innenministerium erhält zwar Kenntnis von diesem Auftrag, tritt aber nicht als Auftraggeber in Erscheinung. Und alle Informationen hierüber werden auch erst dann den Dienstweg antreten, wenn die Operation nicht mehr zu stoppen sein wird, also wenn du, Tom, in Russland am Ziel angekommen sein wirst. Soweit alles klar?“

Die Anwesenden nickten übereinstimmend. Tom entfaltete sorgsam den Zettel, den er von Harry erhalten hatte und ließ ihn rumgehen.

Als alle die Nachricht gelesen hatte, fragte er: „Die Zielperson MILE – es wäre hilfreich, wenn ich den richtigen Namen wüsste.“

Dimitri schob ihm eine Akte über den Tisch: „Hier bitte. Aber wir kommen in Teufels Küche, wenn du verlauten lässt, dass wir dir diese Akte zu lesen gegeben haben. Es ist entgegen jeder Vorschrift. Sie enthält Informationen, die du dem Computer nicht entnehmen kannst, weil deine Zugangsdaten das nicht zulassen.“

Tom schlug die Papiere auf und las für kurze Zeit konzentriert, was er allerdings nicht tun konnte, ohne ein Brille zu zücken und sie sich aufzusetzen. Dies entlockte wiederum dem Rest der am Tisch Versammelten ein winziges Lächeln, allem Ernst der Lage zum Trotz.

Nach erfolgter Lektüre sah er auf ohne die Brille wieder abzunehmen, was ihn wie die ungewöhnliche Mischung aus Student und Professor zugleich wirken ließ, und versuchte, einen Scherz zu machen: „Kann ich von dem Auftrag noch zurücktreten? Das ist wahrlich ein Himmelfahrtskommando.“

Erin seufzte: „Wir setzen alle Hoffnung in dich. Wenn du es nicht tust, wird niemand sonst in absehbarer Zeit diese Verbrecher zur Rechenschaft ziehen. Falls überhaupt jemals.“

„Natürlich. Ich weiß um die Brisanz der ganzen Geschichte. Also gut, ich werde jedoch Hilfe brauchen.“

Er machte eine bewusste Pause, während der ihn alle gespannt ansahen, um dann seine Trumpfkarte aus dem Ärmel zu ziehen: „Nutzt eure internen Kontakte zum MI6, um an radioaktives Material zu kommen. Falls das nicht fruchtet, werde ich über dunkle Kanäle der CIA gehen müssen.“

Dimitris Gesicht hellte sich um Nuancen auf: „Alexander Litwinenko. Wir schlagen sie mit ihren eigenen Mitteln. Tom, das ist genial!“

Dieser zuckte lapidar mit den Schultern: „Das wird sich noch weisen. Noch bin ich nicht vor Ort, noch habe ich keine Idee, wie ich an die Zielperson herankommen soll. Das Auslösen von massiver Strahlenkrankheit scheint mir der einzig gangbare Weg zu sein. Die ersten kritischen Symptome, unweigerlich gefolgt vom Ableben der Person, werden frühestens dann eintreten, wenn ich wieder zurück auf britischem Boden bin.“

Dimitri ergänzte mit hoffnungsvoll glänzenden Augen: „Die Sache ist so sicher wie das Amen in der Kirche, sofern die Dosis stimmt und es mit der Verabreichung klappt. Es ist geschmacks- und geruchlos, unsichtbar und fällt bei einer Leibesvisitation nicht auf. Es sei denn, sie würden dir einen Geigerzähler vor die Nase halten. Wie wahrscheinlich ist diese Möglichkeit? Müssten die Russen nicht nach dem Fall Litwinenko in dieser Richtung besonders auf der Hut sein?“

Tom verzog das Gesicht: „Nicht, wenn mein Erscheinen, meine Person über jeden Verdacht erhaben ist. Ich brauche eine absolut perfekte Identität. Das scheint mir der schwierigste Punkt dieser Mission zu sein.“

Es erfolgte ein weiteres zustimmendes Nicken aller.

Erin machte einen ersten Vorschlag: „Ein international tätiger Waffenhändler?“

„Wir sammeln mal. Weitere Vorschläge?“

„Ein Atom-Wissenschaftler?“

„Nicht so gut, sie werden sich denken, dass dieser leicht an radioaktive Substanzen kommen könnte. Das ist zu risikobehaftet und scheidet damit aus.“

Calum sah Tom prüfend an: „Nun ja, wenn ich dich gerade so ansehe, würde ich sagen, rein vom Äußeren her wärst du das Idealbild eines Atom-Wissenschaftlers - Professor Quinn.“

Diese Bemerkung entlockte Tom ein schmales Lächeln: „Danke. Man wird nicht jünger. Die Brille zeugt davon.“

Mit diesen Worten nahm er dann auch das Gestell von seiner Nase und steckte es wieder in das entsprechende Etui zurück.

Erin wechselte einen raschen Blick mit Dimitri, was Tom nicht entging, und sagte dann: „Gut, dann bitte weiter. Wer hat noch Vorschläge?“

Dimitri meldete sich zu Wort: „Ein Reporter, der für eine TV-Doku oder einen fundierten Magazin-Artikel recherchiert?“

Tom hakte ein: „Das ist nicht schlecht, aber es wäre überaus fraglich, durch welche Quellen dieser Reporter sich an Mikhail Levrov, nennen wir das Kind doch ruhig beim Namen, wenden konnte. Eine Plausibilität ist nur schwer herzustellen.“

Erin wagte einen neuen Vorstoß: „Gut, gut. Alle mal tief Luft holen: Weswegen geht Tom nicht als das, was er ist? Als Spion?“

Das Schweigen am Tisch war mit Händen greifbar.

Calum murmelte schließlich: „Ganz fantastisch. Wie bitte soll das gehen?“

Doch Tom reagierte überraschenderweise interessiert: „Ich glaube, ich weiß auf was sie hinauswill. Ich soll Gaspadin Levrov meine Dienste als Spion, als Agent, als Kontaktmann anbieten. Ich sehe da nur die eine Schwierigkeit: Sie werden den Braten riechen, weil sie sich denken können, dass wir wegen der Sache Gavrik nicht untätig bleiben.“

Und nun tat Erin es Tom gleich, auch sie holte ihren Trumpf hervor: „Du gehst nicht als Brite, Tom! Du gehst als US-Amerikaner!“

Tom konnte sich bei aller Ernsthaftigkeit der Diskussion eines trockenen Lachers nicht erwehren: „Das ist gut! Christine wird sich totlachen! Wir haben immer mal wieder mehr oder weniger scherzhafte Auseinandersetzungen wegen ihres anhaltenden amerikanischen Akzentes, ich dringe oft drauf, dass unsere Tochter möglichst gutes, britisches Englisch spricht und nun das! Oh je… es wird mir schwerfallen. Dieses Gejaule ist meiner Meinung nach keine Sprache, aber gut. Ein Amerikaner würde viel weniger Verdacht auslösen als ein Brite, dem stimme ich zu. Vor allem, da die Amis Harry weiterhin nicht wohlgesinnt sind.“

Calum grinste: „Wir würden gerne eine Kostprobe hören, nur um sicherzugehen, dass du es kannst.“

Das Entsetzen stand Tom Quinn ins Gesicht geschrieben und nun mussten sogar Erin und Dimitri wider Willen lachen.

„Ihr seid wirklich unmöglich! Ich werde mir die Zunge brechen! Also, auf eure Verantwortung: Häääryy fährt einään Läääänd Rouw‘r.“

Er hatte noch nicht ganz zu Ende gesprochen, da brachen bereits alle in brüllendes Gelächter aus.

Als das Lachen abebbte, blickte Tom wieder mit ernster Miene über den Konferenztisch: „Ich kann leider mit keiner US-Identität dienen, die diesen Ansprüchen genügen und einer Durchleuchtung durch die Russen standhalten würde. Mein normaler US-Pass reicht dafür auf keinen Fall aus.“

Erin frage sofort nach: „Auf welchen Namen ist der ausgestellt?“

„David O’Neill.“

„Bisschen einfallslos.“

„Er hat mir bisher gute Dienste geleistet.“

„Schon möglich, aber wie du schon sagtest, brauchen wir hier härtere Geschütze. Als deutschen Spion können wir dich nicht schicken, oder?“

Tom machte ein noch entsetzteres Gesicht als beim vorherigen Vorschlag: „Ich kann nicht mal akzentfrei ein Bier im Hofbräuhaus bestellen. Das steht also völlig außer Frage.“

„Schade, ich habe so schöne deutsche Pässe hier und einwandfreie BND-Identitäten. Karlheinz Wendel, zum Beispiel. Oder Roland Bergbauer.“

„Keine Chance, Erin.“

„War ja nur ein Versuch. Also gut, läuten wir zunächst mal bei MI6 wegen des radioaktiven Stoffes durch. Polonium210-Citrat?“

Tom nickte: „Hoffen wir, dass sie den Kram rausrücken. Das Polonium210-Isotop selbst ist so instabil, dass nur ein Citrat oder Sulfat in Frage kommt, als kristalline Substanz.“

Erin nickte ebenfalls und verließ den Konferenzraum, um zu telefonieren.  

 






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