„Was machst du hier?“, fragte er aufgebracht. „Weißt du nicht, wie leicht du hier entdeckt werden könntest? Was meinst du, was passiert, wenn der Sheriff entdeckt, dass du noch am Leben bist?“ Seine Stimme war zwar gesenkt, aber Shaylee hörte sehr deutlich die Wut, die darin brodelte.
„Tut mir leid.“, flüsterte sie fast.
„Was?“ Gisborne sah sie erstaunt an.
„Es tut mir leid!“, sagte sie nun etwas bestimmter. Er nickte und auf einmal veränderten sich seine Gesichtszüge. Seine schmalen Lippen waren nicht länger auf einander gepresst, die eisblauen Augen nahmen einen warmen und fast zerbrechlichen Ausdruck an und die angespannten Stirnfalten lösten sich. Nun war Shaylee überrascht, plötzlich wirkte er überhaupt nicht mehr gefährlich. Als schien das Böse in ihm verschwunden zu sein.
„Ich musste noch einmal hier her kommen.“, versuchte sie den Ansatz einer Erklärung.
Ganz langsam, darauf bedacht bei ihr keine falsche Reaktion hervorzurufen, ließ Guy seine Hand zu seinem Gürtel wandern, ging nicht auf ihre Bemerkung ein.
Er verwirrte sie, seine Handbewegung die eindeutig in Richtung Schwert ging, passte nicht zu seinem neuen Ausdruck. Wieso wollte er sein Schwert ziehen? Etwas ängstlich trat Shaylee einen Schritt zurück, spannte alle Muskeln an, bereit jeden Moment weg zu laufen. Ihre Augen hatten seine Hand fixiert. Doch er griff nicht nach seinem Schwert.
Die Hand verschwand zwischen Hose und Schwertgürtel. Auf einmal zog er eine einfache Kette hervor. Augenblicklich erkannte Shaylee was Guy in der Hand hielt, sie hätte die Kette überall wieder erkannt.
Es war die Kette ihres Vaters. Soweit sie wusste, hatte er sie nie abgenommen.
Es war ein Falke, aus Holz geschnitzt, die Flügel ausgebreitet, an einem einfachen Lederband hängend. Sie liebte diese Kette, der Falke hatte sie als kleines Kind schon immer fasziniert. Jedes Mal wenn sie bei ihrem Vater auf dem Schoß gesessen hatte, hatte sie sich den Vogel angesehen. Mit ihren kleinen Fingern den Anhänger hin und her gedreht, die geschnitzten Linien nachgefahren.
„Der Falke steht für Freiheit, Mut, Tapferkeit und ein treues Herz. Mein Vater, also dein Großvater, hat ihn geschnitzt. Einen für jeden von uns fünf Kindern. Somit ist der Falke zu unserem Zeichen geworden.“ Dies hatte ihr Vater eines Tages zu ihr gesagt.
Zögerlich streckte Shaylee ihre Finger nach der Kette aus. Doch dadurch, dass sie einen Schritt zurück getreten war, konnte sie sie nicht erreichen. Guy hatte beobachtet, wie sie abwesend in die Luft gestarrt hatte. Er sah, dass sich ihre Augen leicht mit Tränen füllten. So trat er einen Schritt auf sie zu und legte ihr vorsichtig die Kette in die Hand. Sofort schloss sich ihre Hand darum und für einen kurzen Moment schloss sie die Augen. Schließlich sah sie ihn an. Er war sich nicht sicher, aber es schien Dankbarkeit in diesem Blick zu liegen.
Mit zarter, zittriger Stimme fragte sie: „Wie habt ihr sie bekommen?“ Eine Träne löste sich aus ihren Augen und rollte ihre Wange hinunter. Konnte er es wagen noch einen Schritt auf sie zu zugehen? Guy riskierte es. Nur noch ein halber Meter trennte sie und Guy streckte seine rechte Hand bedacht in Richtung ihres Gesichtes aus, strich ihr die Träne von der Wange. Shaylee zog scharf die Luft ein, realisierend, was hier gerade passierte, ließ seine Geste jedoch geschehen.
„Dein Vater hat sie mir schnell und heimlich in die Hosentasche gesteckt, während er es nach außen aussehen ließ als wolle er mich angreifen.“ Sie konnte die Tränen nicht länger zurück halten. Guy sah sie mitfühlend an. Doch das war nun alles zu viel für sie. Seine Veränderung ihr gegenüber und nun die Kette ihres Vaters. Shaylee drehte sich um und tat einen Schritt weiter in den Wald hinein. Er reagierte sofort und packte sie am Handgelenk, etwas zu grob. Angsterfüllt und zitternd blickte sie ihn stumm an.
„Steig auf mein Pferd, ich bringe dich zurück.“ Guy ließ keine Widerrede zu, dass merkte sie auch gleich an seiner nun wieder bestimmenden Stimmlage und fügte sich ihm. Er zog sie hinter sich auf sein Pferd. „Halt dich fest.“ Das war leichter gesagt als getan, denn sie hatte nicht viele Möglichkeiten sich irgendwo festzuhalten. Irgendwie am Sattel oder an Gisborne selbst. Er ließ ihr nicht lange Zeit zum Überlegen, ließ das Pferd antraben und trieb es weiter bis zum Galopp. Eilig schlang sie ihre Arme von hinten um ihn und klammerte sich an seiner Kleidung fest. Ansonsten wäre sie nach wenigen Metern einfach vom Pferd gerutscht. Dabei bemerkte sie nicht das selbstgefällige und doch warme Lächeln, das sich in diesem Augenblick in sein Gesicht schlich.
Am Forsthaus angekommen schwang er sein Bein über den Pferdehals und ließ sich runterrutschen, anschließend half er Shaylee vom Pferd. Sie ließ sich nun ebenfalls vom Rücken des Pferdes hinunter gleiten. Ihr noch immer angeschlagenes Bein hielt dem aufkommenden Gewicht nicht stand und sie drohte auf den Boden zu fallen. Gisborne hatte damit gerechnet und fing sie auf.
„Danke.“ Schüchtern sah sie in seine Augen. So hart sie auch sein konnten, sie waren wunderschön und ihr fiel es jedes Mal schwerer ihren Blick wieder von ihnen zu lösen. „Mein Vater muss euch vertraut haben.“ Shaylee wusste selbst nicht, ob dies nun eine Frage oder eine Feststellung war.
Guy nickte. „Er konnte sich sicher sein, dass ich dir die Kette geben würde.“ Shaylee öffnete die Tür des Forsthauses.
„Shaylee,“ sie drehte sich nochmal zu dem Handlanger des Sheriffs herum, „bitte sei vorsichtig, wenn du in die Nähe des Dorfes kommst. Du bringst nicht nur dich in Gefahr.“
Daran hatte sie noch gar nicht gedacht. Aber natürlich, sie würde auch Gisborne in große Schwierigkeiten bringen, falls jemand sie entdecken sollte und der Sheriff davon spitz bekam. „Ich werde aufpassen!“, versprach sie ihm. Shaylee blieb noch in der Tür stehen, während Guy sich wieder auf sein Pferd schwang und davon ritt.