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11.

/Dora/

Ich fühlte mich gefangen, überlistet und herausgefordert zur gleichen Zeit.

Mein Blick glitt suchend über das Gesicht, das ich schon so oft gesehen hatte in meinen Träumen, tagsüber und tief nachts wenn die Stille schrie vor Einsamkeit.

Langsam schloss ich die Augen und öffnete sie dann wieder, nahm mir Zeit seine Statur aufzunehmen und ließ meinen Blick über seinen Leib wandern.

Er war groß, das war er im Vergleich zu mir stets gewesen, groß und breitschultrig.

Nein, halt, dies war eine geheime, intime Analyse die mich zu einer tieferen Erkenntnis bringen sollte, also verweigerte ich mich all den Klischees die sich mir aufdrängten und fing von vorne an.

Er war tatsächlich groß, so viel größer als ich, aber er war zu schmal um die Hüften und zu feingliedrig um wirklich beängstigend zu sein.

Ein Tänzer oder Schwimmer viel mehr als ein Boxer, dachte ich lächelnd, die langen, schmalen Beine betrachtend, die anscheinend immer nur Männern gegönnt wurden.

Erwachsen, hatte er sicher die endgültige Form seines Körpers erreicht und würde jetzt höchstens noch alt und fett werden, aber danach sah es nicht aus, nein, dazu war seine Grundkonstitution zu ätherisch.

Eine weitere Erinnerung tauchte vor meinem inneren Auge auf: Ich fand ihn unglaublich weiß, erinnerte mich an die milchige Helligkeit seiner Haut die im scharfen Kontrast zu den dunklen Haaren stand.

Es war dieser Kontrast der damals das Bild eines Engels in mir geweckt hatte, denn er war kein Cherubin, er hatte keine blonden Locken und babyblauen Augen.

Wie der Lichtträger persönlich, mein Patron und Wiedersacher, war er eine perfekte Mischung aus hell und dunkel, aus Licht und Schatten, aus Liebe und Hass.

Seine Augen suchten die Meinen, fragend, abwartend, geduldig und neugierig, aber ich konnte nicht darauf eingehen.

„Ich weiß nicht, alles, ich habe dich schlafen und essen sehen. Ich habe dich leben sehen, diesen Körper wie eine Trauerweide im Wind tanzen sehen…“ Mehr fiel mir im Moment nicht ein.

„Aber du hast nie…eingegriffen?“

„Nein, ich hatte nicht das Recht dich zu berühren. Das wäre gegen die Regeln gewesen. Nein, ich habe nur zugesehen wie deine Augen sich von der Nordsee in ein stürmendes Meer und von einem irischen Sommerhimmel in eine tropische Sternennacht verwandelt haben.

In der Tat habe ich jedes einzelne, halbe, wiederwillige und herzliche Lächeln gesammelt und wie Perlen an den Fäden meiner Erinnerung aufgereiht.

Ich habe dir nicht wehgetan, ich bin kein Vergewaltiger, ich bin ein Voyeur.“

Gott, es tat so gut es zu sagen, es zuzugeben, ich war der Geist in seinem Nacken, das Paar Augen in seiner Wand und die Stimme in den Bäumen vor seinem Fenster.

Die Art wie er mich jetzt ansah verschmolz mit dem Blick von vor 10 Jahren.

Damals wie heute war sein Kinn energisch vorgestreckt und seine Lippen ernst zusammengepresst, aber seine Augen waren weich und gütig, seine Hände waren entspannt und bereit Trost zu spenden.

Ohne den geringsten Zweifel hatte ich hier einen harten Mann vor mir, Stahl unter Baumwolle und Eis in den Augen, aber er war nicht kalt oder abweisend, seine Stärke war keine Unterdrückung und seine Zurückhaltung keine Grausamkeit.

*Und? Und? Habe ich dich jetzt irgendwie unter Druck gesetzt? Nein, ich habe dich gewähren lassen während du versuchst herauszufinden was du längst weißt. Er gefällt dir, gefällt dir immer noch wie vor 10 Jahren. Er hat dich nie verlassen wie du ihn nicht verlassen hast und du machst dir etwas vor wenn du denkst, dass ich es bin die dich zu ihm treibt.*

Mimi flüsterte, sie wollte meine Konzentration nicht stören.

Zeit, ein Fluss von Zeit, von Erinnerungen und Erfahrungen trennte ihn und mich wie der Styx, er hatte seine „heures de gloire“ gehabt während ich meinen Abschluss gemacht hatte, ich hatte meinen ersten Kuss bekommen während er sich mühsam die Stufen des Ruhmes hinauf schleppte.

Er war in der Tat mein ältester Traum, meine erste Erinnerung an den Mann als solchen und es verwunderte mich ihn so wenig verändert zu sehen, so vollkommen wie ein Bild das zum Leben erwacht.

Er war die lebendige Erinnerung an eine Zeit die längst vorbei war, er war ein Wesen der Vergangenheit.

 

/Richard/

„Habe ich dich je berührt?“

Ich vergaß die Andern, ich war alleine mit ihr in diesem Raum zwischen Realität und Traum.

So hatte sie mich angesehen, damals, vor Jahren, so hatte sie mich angestarrt.

Ungläubig, bewundernd und argwöhnisch.

Sie sah also durch meine Kleidung? Blödsinn, sie sah durch meine Haut und mein Fleisch.

Sie sah mir geradewegs in die Seele mit diesen Augen die immer noch die gleichen waren.

Die Augen eines Kindes, zu groß in dem nun blassen Gesicht, die sich in ihren dunklen Locken spiegelten und den gleichen störrischen Ausdruck wie die vollen, rosigen Lippen hatten.

Sie wollte weder mir noch sich selbst glauben, sie wollte ihr eigenes Bild von mir haben, es sich machen, doch ihr Urteil war getrübt von dieser ersten Faszination eines Kindes für einen Mann der nicht nur 20 Jahre älter sondern auch doppelt so groß wie sie gewesen war.

Fast, aber es musste ihr so vorgekommen sein.

 

Auf meine Frage hin lächelte sie und ihr Gesicht veränderte sich, wurde zum Gesicht einer Frau, aber nicht zum Gesicht einer Jungfer.

Ihre Augen waren tief wie der Brunnen der Jugend und lockend wie das Meer bei Nacht.

„Das war nicht verboten und ich habe dich nie gezwungen.“

Ihre Stimme fließt sie Molasse, vibriert wie eine Stradivari als sie lächelt.

Schnelles, katzenhaftes Lächeln, das ihre Züge schärfer macht als hätte jemand mir eine Brille aufgesetzt.

„Also…“ Ich schaffe es nicht die Frage auszusprechen, fürchte mich zu sehr vor der Antwort.

„Oh ja, dein Traum-Ich ist der einzige Mann der mich je besessen hat.“

Sie ist nicht länger beschämt, sie ist einfach nur ehrlich, ihre Lippen öffnen sich und ich kann die weißen Zähne sehen die sie vielleicht noch nicht gehabt hatte als ich sie zum ersten Mal getroffen hatte.

 

Mein Traum-Ich, dachte ich eifersüchtig auf diesen Teil von mir den ich nicht kannte.

Er, dieser Mann der zu mir gehörte aber nicht mit mir teilen konnte oder wollte, hatte die Seide ihrer Haut berührt, hatte das Gewicht ihrer Brüste mit seinen Handflächen erahnt und sich diesen köstlich-rosigen Mund genommen.

Sie kannte Mimi wenigstens und Mimi ließ sie teilhaben an diesem Fest der Sinne zu dem niemand mich eingeladen hatte.

„Ehm…Und war es ok für dich?“

Oh Gott, ich hatte das nicht wirklich gefragt oder? Wieso hatte ich nicht gleich „Und war ich gut?“ rausgelassen, aber auch wenn ich nicht wirklich dabei gewesen war, wollte ich nicht, dass sie Schmerzen wegen mir hatte, nicht einmal in ihren Träumen.

Ihr Lächeln wurde breiter, leicht spöttisch und doch so liebevoll wie ein Schmetterling an einem Sommertag der nie nahe genug kam um ihn auf der Haut zu spüren.

„Es war perfekt, aber das sind Träume immer, oder?“

Ich dachte an die Albträume von Schande und Einsamkeit die mich an manchen Nächten heimsuchten und wollte ihr wiedersprechen, aber ich hatte ihre Träume nie geteilt und ich musste zugeben, dass ich mir fast wünschte, ich wäre dabei gewesen.

Ach was, ich hätte sterben mögen nur ein einziges Mal wirklich da zu sein wenn mein Traum-Ich sich an all den Geschenken labte die ihre dunklen Kinderaugen mir einst versprochen hatten.

Instinktiv wusste ich, dass es dabei um mehr als nur Sex ging.

Ich erahnte ihre wortlose Sinnlichkeit und diesen tiefen Respekt vor dem anderen Geschlecht.

„Wirst du mich je berühren?“

Ich präzisierte nicht „in deinen Träumen“ und es fiel ihr auf, denn sie lächelte immer noch, ihr Lächeln vertiefte sich sogar noch, wurde sinnlich, hungrig, verzehrend.

„Wenn du es erlaubst.“ Schnurrte sie und streckte die Hand nach mir aus.

Unsicher legte ich meine Hand in die Ihre, denn ich hatte keine Ahnung was sie von mir erwartete.

„So viele Fragen, lieber Richard. Zerbrich dir nicht den Kopf darüber, lass mich es dir zeigen. Bist du bereit mir zu vertrauen und mir ins Reich meiner Träume zu folgen?“

Ich nickte wortlos und schnappte nach Luft als Bilder vor meinem inneren Auge auftauchten von denen ich wahrlich nicht zu träumen gewagt hätte.


 






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