Ein völlig verwirrter Fitzwilliam Darcy fuhr sich müde durch die Haare, bahnte sich seinen Weg durch die aufgescheuchte Dienerschaft und ging langsam Schritt für Schritt die Treppe hoch zu seinem Zimmer.
Sein Herzschlag hatte hin und wieder einige Aussetzer, so jedenfalls kam es ihm vor. Mechanisch fing er an, sich zu entkleiden. Seine Bewegungen waren äußerst langsam, wie die eines alten Mannes. Er brauchte fast fünf Minuten, um seine Weste aufzuknöpfen, ein Akt, der sonst in wenigen Sekunden erledigt war. Als er schließlich bis auf Hemd und Hose alles ausgezogen hatte, warf er sich mit einem Seufzer auf sein Bett.
Er war entsetzlich müde, aber die Ereignisse des Tages machten es ihm unmöglich auch nur einen Augenblick der Ruhe zu finden. Sein Puls raste. Die lagunenblauen Augen hefteten sich an den Betthimmel. Er fühlte sich wie im Fieber. War dies nun seine Chance? Er war sich nicht sicher. Aber falls Miss Bennet wirklich all diese Worte gesagt hatte, die ihm vorhin seine Tante vorwurfsvoll wiedergegeben hatte, dann, ja dann….
Er schüttelte ungläubig den Kopf. Wieder und wieder ging er das Gespräch mit Lady Catherine gedanklich durch. Es lief beständig auf das gleiche Resultat hinaus: Er konnte Miss Bennet nicht gleichgültig sein! Sie hätte sich sonst anders geäußert, gerade gegenüber einer Person wie Lady Catherine. Und sie hatte sie so deutlich dadurch brüskiert, dass der Fingerzeig schon mehr als eindeutig war.
Er hatte das Gefühl, dass ihm gleich die Decke auf den Kopf fallen würde. Das Zimmer war viel zu eng für seine weit schweifenden Gedanken, er musste hier raus. Sofort! An die frische Luft, jetzt gleich. Tatkräftig sprang er auf, schlüpfte in die Stiefel, nahm den Mantel auf, der über einer Stuhllehne hing und verließ das Zimmer. Während er die Treppe hinunter ging, zog er den Mantel über. Keine Menschenseele war zu sehen. Er hatte keine Ahnung, wie viel Uhr es war, seine Taschenuhr hatte er oben in seiner Westentasche gelassen. Er öffnete das Portal und ein Schwall von kaltem, extrem feuchtem Nebel kam ihm entgegen. Egal, nur raus!
Er schritt kräftig aus auf dem Kiesweg vor dem Haus. Doch bereits nach wenigen hundert Yards begann er zu frösteln. Er blickte an sich herab. Ein bis zur Brust offenes Hemd und ein nicht richtig zuknöpfbarer Mantel, wunderbar! An seinem Verstand zweifelnd zog er seine linke Augenbraue heftig nach oben. Die Außentemperatur schien bereits deutlich an Minusgrade heranzukommen. Aber er ging unverdrossen weiter, beim Marschieren würde ihm wahrscheinlich etwas wärmer werden.
Die Morgendämmerung war inzwischen soweit fortgeschritten, dass man die Wege bereits erkennen konnte. Nun ging es über Felder und Wiesen, die Stiefel waren schnell durchnässt vom feuchten Gras, der Mantel zeigte deutliche Spuren der Wanderschaft am Saum. Es kümmerte ihn wenig. Fitzwilliam Darcy blicke auf und sah, dass er sich ganz eindeutig auf halben Weg nach Longbourn befand. Er zuckte mit den Schultern und setzte seine Wanderung fort.
Was war zu tun? Er war sich nun fast sicher, dass er nach diesem ausgiebigen Spaziergang, einem guten Frühstück, einem schönen heißen Bad und daraufhin entsprechend umgekleidet, die Familie Bennet aufsuchen und sich dann Miss Elizabeth schlicht und ergreifend zu Füßen werfen würde. Das war die einzige sich ihm bietende Möglichkeit. Schlug diese fehl, war es sein Ruin. Ein erneutes Abweisen ihrerseits würde er nicht ertragen, dann würde er ganz sicher einen Weg finden, seinem Leben ein Ende zu setzen.
Der Nebel lichtete sich weiter, bald würde auch die Sonne aufgehen. Er blickte nach vorn, in Richtung Longbourn. Weit war er nicht mehr davon entfernt, Zeit gleich umzukehren. Er kniff die Augen ein wenig zusammen. Verflixt, er würde doch nicht eine Brille brauchen? Er hatte in letzter Zeit schon öfter bemerkt, dass seine Augen anscheinend zur Kurzsichtigkeit tendierten. Nichts als Unzulänglichkeiten, fluchte er im Stillen.
Und doch schien dort eine Gestalt im Nebel auf ihn zuzukommen. Nein, genauer gesagt stand die Person an der Stelle wie festgewachsen. Er kam näher. Sein Mantel flatterte um seine Beine herum. Ihm war entsetzlich kalt, aber er war neugierig, wer da noch so früh am Morgen über die Wiesen spazierte. Und plötzlich brauchte er gar nicht mehr näher an die Gestalt heranzukommen, um zu wissen um wen es sich handelte: Es konnte nur Elizabeth Bennet sein!
Er legte mehr Tempo in seine Schritte. Ja, da stand sie wahrhaftig, mit fast offenem Haar, eingewickelt in einen Mantel, der aber schnell preisgab, dass sie darunter nur ein Nachtgewand trug. Mein Gott, sie musste der reinste Eiszapfen sein, dachte er.
Und da wusste er, es würde nichts werden mit dem formellen Besuch auf Longbourn heute Mittag. Es würde jetzt und hier geschehen, so oder so. Er würde all seine Liebe für sie aufzeigen, alles was sich seit langem in ihm aufgestaut hatte. Und natürlich ohne jegliche Vorbehalte. Diesen entsetzlichen Fehler würde er nie wieder begehen. Es hatte – und er vermutete nun stark, dass es auch bei ihr der Fall gewesen sein musste – beiden nur Qual gebracht.
Sie blickte ihm mit großen Augen entgegen. Er stoppte seine Schritte. Sie sahen sich an, Sehnsucht sprach aus ihren sowie aus seinen Augen.
Sie öffnete den Mund, ihre Worte klangen so sanft wie ein Windhauch im Sommer: „Ich konnte nicht schlafen.“
Er schluckte, bevor er mit belegter Stimme antworten konnte: „Ich auch nicht. Meine Tante…“.
„Ja, sie war hier“, erhielt er zur Antwort.
Mein Gott, wie sehr er sie liebte. In diesem Moment, seit damals in Meryton - und für immer. Seine Augenlider flatterten leicht. Er nahm kaum noch wahr, was er sagte. Er gab dem ganzen die Wendung, die es schon vor vielen Monaten hätte nehmen sollen. Und er war glücklich darüber, wie sie nun auf all dies reagierte. Er machte einige Schritte auf sie zu, war ihr jetzt sehr nah.
Er musste es loswerden, alles was er empfand: „Falls sich Ihre Gefühle jedoch geändert haben sollten, so muss ich Ihnen sagen, dass Sie mich an Leib und Seele verzaubert haben und ich liebe, liebe, liebe Sie! Und ich wünsche mir, von nun an nie wieder von Ihnen getrennt sein zu müssen!“
Er wartete mit angehaltenem Atem auf ihre Antwort. Quälend langsam, so schien ihm, verging die Zeit bis zur ihrer Reaktion.
Sie stand so nah, dass er ihren Atem spürte, als sie seine Hand aufnahm und die Worte hinhauchte: „Nun, denn…“
Dann drückte sie einen Kuss auf seinen linken Handrücken. Es durchfuhr in wie ein Schauer, aber nicht vor Kälte. sondern vor Glück. Die Sonne ging just in diesem Moment auf und warf ihr erstes blasses Licht auf die beiden Liebenden. Er zog sie ganz dicht an sich heran, lehnte seine Stirn an ihre. Eine recht ungewöhnliche Verlobung, fand er, aber irgendwie passend.
Alles hatte sich zum Guten gewendet, welch ein Segen!